Adventskalender

19. Dezember

Der letzte seiner Art

oder

Mich dünkt...

„Blauen Blitzen gleich funkeln die Augen, rachedurstig zu Schlitzen verengt, als er so schnell durch die dunklen Wolken hernieder saust, dass diese wie ein Rudel aufgeschreckter Schafe auseinanderstieben, um hinter dem, im Sonnenstrahl wie ein rächend Schwert glänzenden, rot gepanzerten Todesbringer wieder mit lautem Getöse aufeinanderzuprallen.
Aus dem weit aufgerissenen, von Blut triefenden, dolchartigen Zähnen strotzenden Höllenschlund rast die meterlange, rotglühende Schlange einer alles vernichtenden Feuersbrunst knapp über den Kopf des Drachenmörders Ka-aba.
Durch den Orkan, hervorgerufen durch die blitzschnell zur Landung ausgebreiteten, den Himmel verfinsternden Schwingen, zu Boden gedrückt, reckt dieser schützend die Schwerthand nach oben.
Der rasenden Wut und Impetus wegen nicht zu bremsen, stürzt der geschuppte Fürst der Lüfte, in Feuer und Rauch gehüllt, die säbelartigen Klauen zum Zugreifen erhoben, mit Trommelfell zerfetzendem Gebrüll auf den Niedergeworfenen, als die Wucht des Angriffs das scharfe Schwert des Recken in des Drachen ungeschützte Stelle seines riesigen Leibes treibt ...“

„Genug! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ In der Zuhörerschaft war ein stämmiger Landknecht aufgesprungen, das Gesicht gerötet vor Zorn oder wegen des Mets, den er nun wild gestikulierend aus seinem Krug über die neben ihm sitzenden Dorfbewohner verschüttete.
„Jeder weiß, dass es Ka-aba mit seiner immerscharfen Klinge nie gegeben hat“, fuhr er den alten Geschichtenerzähler, der seine improvisierte Bühne auf dem Dorfplatz aufgebaut hatte, an. „Ebenso wie nie jemand einen Drachen gesehen hat. Verschone uns mit deinen Ammenmärchen, die schon unsere Großmütter zum Gähnen brachten.“
„Genau, du seniler, alter Schwätzer“, ergriff nun auch ein schmalbrüstiger, leicht schielender Bursche mit erhobenem Schäferstab die Gelegenheit, auf der Seite des Mobs aufzubegehren. „Oder soll es dir ergehen wie dem letzten Lügenmaul? Der wollte uns mit Geschichten von schwarzen Kriegern auf Riesenkühen mit meterlangen Nasen zum Besten halten. Der arme Tropf wurde von unseren Hunden aus dem Dorf und halb in die Berge hinauf gejagt.“
„Aber, aber, werte Dörfler ...“, setzte der graubärtige Erzähler beschwichtigend an, als die ersten Kohlköpfe das Leinentuch hinter ihm trafen, welches mit einer leuchtend bunten Darstellung eines großen, roten Drachens bemalt war, der sich über einen mit erhobenem Schwert am Boden liegenden Ritter beugt.
„Ich selbst habe eines dieser edlen Schuppentiere gesehen ... 20 Meter lang ... und Feuer kommt aus ...“ Die letzten Worte waren in dem fröhlich zeternden Tumult der Gemüse werfenden Menge nur noch zerstückelt zu vernehmen, sodass der Erzähler alsbald seine Erläuterungen aufgab.

Für heute war es genug und die Menge hatte ihren Spaß gehabt. Mit einem schnellen Griff löste er das Tau, mit dem seine Bühne – das Tuch mit dem Drachenbild – an der Dorflinde angebunden war. Er wickelte es mit der Geschicklichkeit jahrelanger Übung mitsamt den nahrhaften Wurfgeschossen zusammen und eilte so flott aus dem Ort des Geschehens, wie man es der altersgebeugten Erscheinung nicht zugetraut hätte.

Außerhalb des Dorfes verlangsamte er seine Schritte und wandte sich den nahegelegenen Bergkämmen zu. Von den Hunden gehetzt, wie es ihm angedroht worden war, wäre er zwar schneller dort angekommen, doch er hatte keine Eile. Dieses Dorf war seine letzte Station gewesen und es war deutlich besser gelaufen, als er angenommen hatte. Als er einige Kilometer vom Dorf entfernt die Ausläufer des Bergmassivs erreichte, biss er zufrieden in einen Apfel aus dem Geschossfundus und ließ sich die Geschehnisse von heute noch einmal durch den Kopf gehen.

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