Adventskalender

15. Dezember

Spurensuche

Erschrocken sah die Graue Dame auf die Uhr. Bald wäre es Zeit zum Mittagessen und die Schüler und Lehrer würden die Halle stürmen. Höchste Zeit Ordnung zu schaffen und einen Lehrer zu suchen, der einen Tarnzauber sprach. Manchmal verwünschte sie ihren Geisteszustand wirklich, denn obwohl sie noch immer ihren Zauberstab trug, erreichen konnte sie mit ihm nichts.
Kurz verschaffte sie sich einen Überblick und trieb den Blutigen Baron und seine Freunde an, die Haustische frei zu räumen. Zum Glück war die Deko schon sehr weit vorangeschritten, dass nur noch die kleineren Teile fertig gestellt werden mussten. Dies konnten sie auch im kleinen Raum neben der Großen Halle tun.
Als sie mit Myrte, die mittlerweile auch unsichtbar geworden war, die große Schatztruhe in den Raum trug, sprach sie eines der Bilder an.
"Helena, schön dich mal wieder zu sehen." Die Graue Dame schnaubte bei der Betonung des letzten Wortes. Scheinbar hatte sich die Problematik schon im ganzen Schloss herumgesprochen. Schnell setzte sie ein Lächeln auf und antwortete in einer eleganten Drehung:
"Viola, lang haben wir uns nicht unterhalten. Ich würde gern ein bisschen mit dir plaudern. Aber leider müssen wir noch ein Weihnachtsspiel proben. Du kommst doch auch zusehen? Oder triffst du dich wieder mit der Fetten Dame im Weinkellergemälde der Mönche?", spöttisch lächelnd schwebte sie mit Myrte im Schlepptau durch das Bild der blässlichen Hexe. Sie konnte sich denken, dass die Bilder mehr wussten als sie zugeben würden, aber das Verhältnis zwischen den Gemälden und Geistern des Schlosses war seit Peeves letzter Farbbeutelattacke eher unterkühlt.
In Gedanken ging sie die noch benötigten Gegenstände durch und stellte fest, dass nicht mehr viel fehlte, nur ein paar Darsteller waren weiterhin verhindert. Wenigstens Peeves schien seine gute Laune und seine Farbbeutel wiedergefunden zu haben. Jedenfalls schwebte ihr ein grüner Prof. Binns Umriss entgegen und sie konnte noch schnell ausweichen. Es war bereits zu mehreren Zusammenstößen von unsichtbaren Geistern gekommen, die die Stimmung nicht verbessert hatten. Galt es doch in Geisterkreisen als sehr unhöflich und respektlos durch einen Geist hindurchzulaufen oder gar zu schweben. Als sie sah, dass die Halle wieder in einem vorzeigbaren Zustand war, scharte sie ihre Kollegen um sich.
"Sehr schön, dass alle so schnell mitgeholfen haben. Ich würde nun gerne mit den meisten von euch in die Bibliothek gehen und weiter nach einer Lösung suchen." Sie schaute in die Runde und sah zustimmende Gesichter und ein paar rote und gelbe Umrisse nicken. Also fuhr sie fort: "Lieber Baron du bist der geschickteste von uns, kannst du dich bitte um die restlichen Dekorationsgegenstände kümmern?" Zustimmend klirrte der furchterregende Geist mit seinen Ketten, winkte seine Freunde zu sich und verschwand im angrenzenden Raum.
"Ich denke, dann können wir nun in die Bibliothek gehen", seufzte der grüne Umriss des Professors. Scheinbar hatte er sich das Gesicht gewischt, denn sein halber Kopf war nicht mehr zu erkennen.
Aufgrund der Dringlichkeit nahmen die Geister den direkten Weg durch die Wand in den ersten Stock. Ausserdem wollten sie nicht beim Essen zugegen sein, dies war ein Anblick den Geistern besonders zu den Festtagen schmerzte.
Aber die Graue Dame hielt den Poltergeist zurück. "Peeves, auf ein Wort."
Widerwillig liess der Poltergeist einen Farbbeutel sinken und drehte sich zum Hausgeist Ravenclaws um. "Ich brauche deine Hilfe, Peeves." Innerlich hoffte sie, dass er ihr helfen würde, aber der Poltergeist hatte einen eigenen Kopf und tat meist genau das Gegenteil von dem was er sollte. Hier war Fingerspitzengefühl gefragt.
"Die Farbbeutel waren eine gute Idee um Unfälle während unserer Arbeit zu vermeiden. Aber wir müssen dem eigentlichen Problem auf den Grund gehen. Ich persönlich glaube nicht, dass es sich um einen verunglückten Zeitzauber handelt. Denn unsere Kollegen sind augenscheinlich nur weniger sichtbar, aber nicht weniger da und somit nicht in einer anderen Zeit gefangen. Es muss also eine andere Lösung geben. Ich werde nochmals in der Bibliothek recherchieren um die Zeitzauber ausschließen zu können. Aber du bist doch eher ein Geist der Tat und ein guter Beobachter", appellierte sie an seinen Stolz.
"Und du warst dabei als Professor Binns als erster verschwand. Vielleicht fällt dir etwas auf, wenn du den Tatort nochmals in Augenschein nimmst. Ich würde dir gern die Ermittlungen des genauen Hergangs überlassen, vielleicht gibt es ja einige Überschneidungen zwischen den einzelnen Verschwinden?"
Sie konnte deutlich sehen wie sich die Schultern ihres Gegenübers streckten und er schließlich sogar seinen Farbbeutelvorrat verschwinden liess. Ernsthaft nickte er, verbeugte sich und schwebte in Richtung Portal davon.
Oh, Peeves nahm seine Aufgabe sehr ernst. Als selbsternannter Sonderermittler kehrte er zuerst an den Tatort zurück. Hier musste sich doch der eine oder andere Hinweis finden lassen. Aber ausser frisch gefallenem Schnee, der an einigen Stellen wohl geschmolzen war, fanden sich keine Hinweise. Also auf zum nächsten Tatort. Systematisch suchte er die Große Halle ab. Alle dort verbliebenen Geister waren verschwunden. Aber zu viele Wesen hatten hier seitdem die Spuren verwischt. Erst hatten seine sichtbaren und unsichtbaren Kollegen gründlich aufgeräumt, dann waren die verbliebenden Schüler mit ihren neugierigen Fingern überall durch gegangen und hatten alles genau untersucht um einen Hinweis auf das Weihnachtsspiel zu bekommen und schlussendlich hatten die Hauselfen gründlich sauber gemacht. Ohne neue Erkenntnisse machte er sich auf den Weg in die Bibliothek und musste erstaunt feststellen, dass er sich nun schon seit zwei Stunden mit der Problematik befasste. Nicht mal bei den besten Scherzen und Späßen, die er mit den Weasley Zwillingen ausgeheckt hatte, hatte er solch ein Durchhaltevermögen gezeigt. Aber er musste zugeben, dass ihn das Rätsel faszinierte und er hatte eingesehen, dass man ohne die wichtigsten Darsteller ihr Weihnachtsspiel wohl ausfallen lassen müsste und das, wo er so hart um eine Rolle gekämpft hatte. Seinen großen Auftritt würde er sich nicht nehmen lassen! Energisch schwebte er durch die offene Tür in die Bibliothek und beschloss die Opfer einer eingehenden Befragung zu unterziehen.
Einzeln holte er die unsichtbaren Geister in eine ruhige Ecke und befragte sie zu ihrem Verhalten und ihren Tätigkeiten als sie merkten, dass sie nicht mehr sichtbar waren und ganz besonders was sie direkt zuvor getan hatten. Sehr zu seinem Missfallen ergaben sich dadurch keine Anhaltspunkte oder Überschneidungen, abgesehen davon, dass sie sich alle mit dem Weihnachtsspiel und dessen Vorbereitungen beschäftigt hatten.
Schließlich griff er zu der letzten Möglichkeit. Schnell vertrieb er die wenigen Schüler mit ein paar gezielten Kreidewürfen und bat dann alle Geister an den großen Tisch zu treten. Madame Pince blieb das plötzliche Verschwinden aller Schüler natürlich nicht verborgen und sie funkelte über den Brillenrand in Richtung Schlossgespenster. Einige weniger couragierte Geister zuckten ob des bösen Blickes zusammen, aber Peeves lächelte ihr unschuldig zu. Sehr gut, dachte er im Stillen, nun wird sie uns nicht mehr aus den Augen lassen und es wird zu keiner großen Diskussion kommen.


"Ich möchte alle weniger sichtbaren Geister nun bitten sich in einer Reihe an den Tisch zu stellen. Meine Recherchen haben keine Übereinstimmungen ergeben, und doch muss euch etwas verbinden, etwas, das euch von den anderen Geistern unterscheidet. Deshalb möchte ich euch bitten eure Taschen zu leeren." Ein erstaunlich ernster Blick des Poltergeistes streifte den Raum, wo er die unsichtbaren Geister vermutete. Und wie zu erwarten brach ein Sturm der Entrüstung aus. Aber ein Räuspern der Bibliothekarin erstickte diesen im Keim. Als auch noch die Graue Dame resigniert nickte ging Prof. Binns mit gutem Beispiel voran. Erstaunlicherweise wurden alle Gegenstände sofort sichtbar, kaum dass sie seine Hand verlassen hatten. So sammelten sich knappe zwei Dutzend Häufchen aus Taschentüchern, Pfeifen, Bonbons, Federn und Pergamentrollen, Münzen, und weiteren Gegenständen. Der Professor fügte seinem Stapel ausserdem noch drei Geschichtsnachschlagewerke hinzu.
Mit kritischer Miene schwebte Peeves von Stapel zu Stapel. Zu aller Überraschung verkniff er sich sogar ein Kommentar zum rotbestickten Taschentuch des Fetten Mönchs. Schließlich schlug sich Peeves selbst auf die Schulter, begann zu kichern und schob mithilfe einer Adlerfeder aus jedem Haufen einen Kieselstein in die Mitte des Tisches.

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