4. Dezember
Not the same procedure as every year!
[align=right]„Zur Beachtung!!
Trotz vorhergehender Ankündigungen ist es dem frisch berufenen Prof. Neville Longbottom aus persönlichen Gründen noch nicht möglich, den Kräuterkundeunterricht zu Beginn des Schuljahres zu übernehmen.
Bis auf weiteres bleibt es daher bei der alten Lösung.“
Aus den Ankündigungen
am Eingang der Großen Halle in Hogwarts[/align]
„Schüler! Schüler auf den Fluren! Es ist dunkel, Schüler in der Nacht nicht in ihren Betten!“
Schrill drang diese unangenehme und nicht unbekannte Stimme in das Bewusstsein des nicht mehr ganz so jungen Zauberers, der auf einer Bank im Flur vor sich hindöste.
Diese Stimme! Wo hatte er diese aufdringliche Stimme, die er mit einer nicht gerade angenehmen Person aus der Vergangenheit in Verbindung brachte, nur schon einmal gehört?
Der schlaksige Zauberer schüttelte die Schläfrigkeit aus seinem Bewusstsein und öffnete die Augen. Gerade noch konnte er erkennen, wie ein Pfleger mit einem alten Mann im Rollstuhl, der laut vor sich hinzeterte, den Flur verließ und in den rechten Gang abbog.
Inzwischen öffnete sich die Tür zum Untersuchungszimmer und eine Pflegerin schaute heraus: „Mr. Longbottom? – Mr. Longbottom, es kann noch ein bisschen dauern mit der Abschlussuntersuchung, wir bringen Ihre Großmutter danach zurück auf ihre Station, Sie brauchen hier nicht zu warten, wir sagen Ihnen dann Bescheid.“ Die Tür zum Untersuchungsraum schloss sich wieder, nachdem Neville Longbottom zustimmend genickt hatte.
Es war wie verhext! Eigentlich wollte er ja dieses Jahr die Adventstage einmal nutzen, um mit seiner nun schon sehr alt gewordenen Großmutter über seine weiteren Pläne für die Zukunft zu sprechen.
Nach der Schlacht in Hogwarts vor nunmehr neunzehn Jahren war es ihm immer noch nicht gelungen, für sich eine klare Lebensperspektive zu finden. Sicher, er hatte eine nicht geringe Rolle beim Sieg über die Todesser gespielt, und Harry, Ron und Hermine und alle seine Freunde aus alten Schultagen waren erfreut und erstaunt, wie er sich damals entwickelt hatte. Allerdings war danach eine gewisse Stagnation eingetreten.
Privat wie beruflich hatte sich nichts Rechtes ergeben und so war er dazu übergegangen, einem gewissen verrückten Professor zu Hand zu gehen, um dessen literarische und sonstige Hinterlassenschaft aus seiner aktiven Zeit zu sichten, zu ordnen und diese in eine – für einen bestimmten Leserkreis wohl sehr interessante – Biographie zu verarbeiten. Inzwischen war er zwar nach Hogwarts berufen worden, aber aufgrund des sich bedrohlich verschlechternden Zustandes seiner Eltern hatte er diese ehrenvolle Stelle zunächst noch nicht angetreten.
Seine Eltern hatten sich von den Folgen der Verfolgung und Folterung durch die Todesser nie wieder erholt und so hatten er und seine Großmutter diese nach einer langen Phase des Siechtums Ende September diesen Jahres zu Grabe getragen. Natürlich war er traurig über ihren Tod gewesen, aber es war auch eine Erleichterung, sie nun auf der anderen Seite zu wissen, losgelöst von dem seelischen Leid und den phychischen Schmerzen, die sie erfahren hatten und denen man auch hier im berühmten St. Mungos nicht abhelfen konnte.
Durch dieses Erlebnis wachgerüttelt hatten er und seine Großmutter die stille Zeit des Dezembers nutzen wollen, um Weichen für die Zukunft zu stellen. Doch vor einigen Tagen passierte nun dies… scheinbar ein Schwächeanfall. In diesem hohen Alter keine Überraschung, aber man sollte und wollte doch sichergehen, begab sich ins St. Mungos und wartete nun auf das endgültige Ergebnis der schon längere Zeit stattfindenden, gründlichen ärztlichen Untersuchungsreihe.
Einem Impuls folgend bog Neville in den rechten Gang ab, wo auch der Pfleger mit dem Rollstuhl verschwunden war, allerdings waren beide nicht mehr zu sehen.
Neville schmunzelte leicht, als er bemerkte, in dem Gang angekommen zu sein, wo auch sein „Arbeitgeber“, der verrückte Professor, sein Zimmer hatte und so klopfte er an dessen Tür.
„Herein, nur herein, die Autogrammstunde ist noch nicht zu Ende“, trillerte die bekannte Stimme von innen und eintretend sah Neville den immer noch strahlend wie ein junger Held aussehenden Zauberer mit den goldgelockten Haaren in seinem Bett sitzen und mit Autogrammpostkarten wedeln. „Ah, Neville, mein Assistent! Ist denn die auf dem Flur sich drängelnde Schlange meiner Fans noch lang?“
Neville musste grinsen. Sein „Chef“ war wie immer. „Nein, Prof. Lockhart, nein“, sagte er, „die Schlange hat sich abgebaut und es ist nun keiner mehr da. Wahrscheinlich sind alle schon längst auf dem Weg in die Stadt, um Weihnachtsvorbereitungen zu treffen, oder daheim bei ihren Familien.“
„Oh!“, sagte Gilderoy Lockhart, „das ging aber fix, aber gut, dann habe ich ja noch Zeit, etwas aufzuräumen für meinen neuen Bettnachbarn.“
Neville schmunzelte immer noch. Wann G.L., wie ihn seine Freunde insgeheim nannten, wohl merken würde, dass sich schon seit Jahren keine Fans auf dem Flur versammelten und auch die Nachfrage nach Autogrammkarten gegen Null ging? Aber das war nicht der rechte Zeitpunkt, vielmehr... Neville schaute Gilderoy interessiert an: „Ein neuer Bettnachbar?“ Nach der langen Zeit des Allein-in-einem-Zimmer-Seins ein Wagnis. Schließlich hatte es bisher ja keiner neben dem verrückten Professor ausgehalten. Dieser sprach zwar mit wohlklingenden Worten in druckreifer Sprache und hatte durchaus auch zu Recht den Goldenen Fichtenzweig als wohlfeiler Sprachbildner bekommen – aber viele waren von Schwafeleien und Wortgeklingel doch eher genervt. Wer konnte das wohl sein und dazu noch so kurz vor Weihnachten?
„Schüler! Schüler auf den Fluren! Es ist dunkel, Schüler in der Nacht nicht in ihren Betten!“, die eben erst gehörten Sätze von der eben erst gehörten, nervigen Stimme erklangen erneut und noch ein drittes Mal, als sich die Tür öffnete und ein Pfleger einen Rollstuhl mit dem Besitzer dieser Stimme hereinschob.
Neville blieb der Mund offen stehen, als er erkannte, wer da in diesem Rollstuhl saß…
FILCH! Es war kein geringerer als der ehemalige Hausmeister aus Hogwarts, Argus Filch, der Schüler und Lehrer zu seinen Glanzzeiten mit seiner ihm eigenen, liebenswürdigen Art beglückt hatte. Neville wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Was hatte sich die Stationsleitung nur dabei gedacht?! Zwei alte Käuze in einem Käfig! Auf so was hatte ihn sein hoch geschätzter Lehrer in Eulenkunde damals aber nicht vorbereitet!
Neville kam der Aufforderung des Pflegers, doch einmal den Raum zu verlassen, damit er alles für die stationäre Neuaufnahme des neuen Patienten einrichten konnte, nur zu gerne nach.
Es war eh Zeit, mal wieder nach seiner Großmutter zu schauen.
Diese war inzwischen zu ihrem Zimmer zurückgebracht worden und erwartete ihn bereits.
„Ah, Neville, sie haben nichts gefunden, aber sie wollen noch weitere Langzeituntersuchungen machen. Eventuell werde ich auch Weihnachten hier verbringen müssen. Mach’ dir aber keine Sorgen, sondern sei so lieb und hole mir noch einige zusätzliche Dinge von zu Hause, die ich für die weitere Zeit hier und wohl auch für die kommenden Weihnachtstage brauchen werde.“
Mrs. Longbottom drückte Neville einen großen Zettel in die Hand und ging mit unerschütterlicher Ruhe daran, sich in diesem Zimmer für länger einzurichten.
Neville nickte überrumpelt und machte sich auf den Weg nach Hause, wo er die gewünschten Dinge einsammelte, einpackte und schnurstracks nach St. Mungos zurückkehrte. „Eigenartig“, dachte er bei sich, „früher habe ich immer meine Eltern besucht, dann G.L. und nun bin ich wieder nach St. Mungos unterwegs“.
Auf dem Weg zur Station hielt ihn Sue Fermata, die behandelnde Ärztin seiner Großmutter auf: „Mr. Longbottom, schön, dass wir uns gerade treffen. Wir sollten uns nun doch noch einmal kurz unterhalten. Ihre Tasche wird unverzüglich ein Hauself nach oben bringen.“
Neville schaute die schlanke, wie immer Vertrauen ausstrahlende Ärztin mit dem rotblonden Haar und den grünen Augen fragend an und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
„Wissen Sie“, sagte Dr. Fermata und spielte mit einer Mondsteinkette um ihren Hals, „Ihre Großmutter scheint nicht im eigentlichen Sinne krank zu sein; sie ist vielmehr für ihr Alter erstaunlich fit, allerdings strahlt ihr Körper, ja ihr ganzen Wesen etwas aus, das ich mal als im besten Sinne „lebenssatt“ nennen möchte. Ihr ganzer Körper scheint sich auf einen Abschied aus dieser Welt vorzubereiten. Verstehen Sie, was ich meine?“
Neville schaute Dr. Fermata erstaunt an. Er glaubte zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte. „Und wann… wann wird das sein…?“ fragte er etwas unbeholfen.
Dr. Fermata strich wieder über ihren Mondstein. „Das wissen wir nicht, das weiß nur sie. Das kann noch Wochen, Monate oder vielleicht auch Jahre dauern. Aber seien Sie bereit, sie gehen zu lassen.“
Neville bedankte sich und begab sich nun wieder auf dem Weg zu Großmutters Zimmer.
Puhah! Das musste er nun doch erst einmal verarbeiten. Kürzlich erst seine Eltern und nun die noch letzte lebende Vertraute aus der Familie? Großmutter, die seinen Weg von Kind auf begleitete, die ihm damals im sechsten Schuljahr einen neuen Zauberstab geschenkt hatte, die ihm…
Ohne es zu merken, stand Neville vor der Zimmertür und öffnete diese. Überrascht blieb er stehen und schaute auf das seltsame Bild, das sich ihm bot:
Das Zimmer war in warmes Licht getaucht. Auf dem Tisch in der Mitte stand ein Adventsgesteck mit brennenden Kerzen, wie es bei den Muggeln üblich ist, sich aber auch in zauberischen Kreisen immer größerer Beliebtheit erfreut. Dazu kamen ein Plätzchenteller und vier Becher mit dampfendem Kakao. Mehr war es nicht, aber sofort machte sich eine weihnachtliche Stimmung breit.
„Ah, Neville, schön, dass du pünktlich kommst, ich habe die Tasche schon ausgepackt und die Sachen entsprechend verteilt. Setz dich doch bitte! Wenn die Gäste da sind, können wir anfangen!“
Anfangen? Womit denn anfangen? Hatte er irgendwas verpasst? Er wollte gerade nachfragen, da öffnete sich die Tür und ein Pfleger brachte Prof. Lockhart herein. „Ah, werte Mrs. Augusta Longbottom! Ich begrüße Sie herzlich und danke Ihnen sehr für diese Einladung.“ Mit einer formvollendeten Bewegung bewegte Gilderoy sich auf Großmutter Longbottom zu und gab ihr einen Handkuss in der Weise erfahrener Galane. Mrs. Longbottom blickte ihn würdevoll an und wies ihm mit einer eleganten Handbewegung einen der beiden noch freien Plätze zu.
Noch ehe Neville sich wundern konnte, wie seine Großmutter denn auf diese Idee gekommen war, öffnete sich die Tür erneut. Ein anderer Pfleger schob einen Rollstuhl durch die Tür. In diesem saß ein hageres Männchen, das eigenartige, leicht schabende Töne mit den Zähnen erzeugte und mit den altersstarren Händen eine Plüschkatze zu streicheln versuchte.
„Schüler! Schüler in den …“ wollte Mr. Filch gerade beginnen, als ihn Mrs. Longbottom unterbrach und ihn mit einem energischen „Sparen Sie sich Ihre Stimme für den Gesang, Argus!“ begrüßte.
Mrs. Longbottom schaute zufrieden in die Runde, verteilte Kakao und Kekse und erzählte ihnen allen, wie sehr sie sich freute, dass sie heute Zeit hatten, mit ihr an dieser vorweihnachtlichen Runde teilzunehmen. „Wissen Sie“, fuhr sie schließlich fort, „nach dem Tode von Nevilles Eltern, hat Neville noch gar keine Zeit gehabt, sich Gedanken über das diesjährige Weihnachtsfest zu machen. Da alle seine alten Freunde wie jedes Jahr Weihnachten in ihren Familien feiern und er sich nicht hineindrängen wollte, hatte er schon fest damit gerechnet, das Fest allein mit mir verbringen zu müssen. Unsere jährliche Feier auf der Station seiner Eltern kann ja leider nicht mehr stattfinden. Umso mehr freue ich mich, Weggefährten aus alter Zeit hier gefunden zu haben, die mit Neville und mir eine kleine Feier veranstalten, bevor ich dann die anderen treffe!“
Neville überlegte gerade, wie Großmutter eigentlich „Weggefährten“ definierte, als der Schlusssatz begann, in seinem Kopfe nachzuklingen … „die anderen treffe“. Anderen? Welche anderen? Er schien noch wesentlich mehr nicht mitbekommen zu haben.
Bevor er länger darüber grübeln konnte, fing Mrs. Longbottom beherzt an, ein Weihnachtslied zu singen und Prof. Lockhart stimmte mit seinem warmen Bariton ein. Mr. Filch grummelte zwar erst etwas herum, aber mit gutem Willen konnte man doch die Melodie von „Hark, the Herald Angels Sing“ auch bei ihm heraushören.
Nach zwei weiteren Liedern schenkte Mrs. Longbottom Kakao nach und begann an jeden der Anwesenden ein in grüngoldenes Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen zu verteilen.
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Dann schob sie ihren Sessel an den von Neville heran und sagte: „Frohe Weihnachten, Neville! Du bist mir immer ein guter Junge gewesen! Deine Eltern wären stolz auf dich, wenn sie alles mitbekommen hätten, wie du dich entwickelt und was du alles geleistet hast. Ich bin mir sicher, dass du nun einen weiteren wichtigen Abschnitt deines Lebens auch ohne uns, aber mit anderen lieben Menschen beschreiten kannst. Ich werde deinen lieben Eltern nachher alles berichten und sie von dir herzlich grüßen!
Und hier ist ein Brief für dich: Öffne ihn erst, wenn ich abgefahren bin.“
Mrs. Longbottom lehnte sich in ihren Sessel zurück und betrachte versonnen, wie Prof. Lockhart und Mr. Filch ihre Geschenke auspackten.
Nevilles Gedanken rasten und sein Herz schlug unruhig. Was genau meinte denn seine Großmutter jetzt nun mit „nachher alles berichten“? Und von „abfahren“ konnte doch momentan auch keine Rede sein!
Neville wendete den Briefumschlag hin und her und während er dem wieder einsetzenden Gesang der drei lauschte, kam er sehr in Versuchung, den Umschlag schon jetzt aufzumachen. Er sollte sie nach dieser Feier, wenn die beiden anderen wieder auf ihrem Zimmer waren, einfach direkt fragen, was genau…
Der Gesang war plötzlich in eine gewisse Schieflage gekommen. Prof. Lockhart versuchte sich an einem Solo und Mr. Filch glitt in ein wenig melodiöses Krächzen ab, während Mrs. Longbottom…
… während Nevilles Großmutter ihre Hand auf die seine legte,
und in die Ferne schauend lächelnd hauchte:
„Da sind sie, sie winken mir schon zu.“
Und Neville schaute und verstand.
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