Adventskalender

3. Dezember

Vergeben und Vergessen?!

Viele Jahre war seine Familie inzwischen schon nicht mehr am Leben, aber dieses Jahr, an Weihnachten, war etwas anderes. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Die Gräber seiner Schwester Ariana und seiner Mutter Kendra besuchte er in regelmäßigen Abständen, doch am Grab seines Bruders war er nur wenige Male gewesen. Er hatte es ihm nie ganz verziehen, dass Albus nach dem Tod der Mutter hochtrabende Ziele gehabt hatte – gemeinsam mit Grindelwald die Heiligtümer des Todes zu suchen und die Muggel zu unterwerfen – und sich nicht um ihre kranke Schwester kümmerte. Doch auch Aberforth wurde nicht jünger. Er war inzwischen weit über 130 Jahre alt und hatte in seinem langen Leben gelernt, dass man den Menschen, die man liebt, auch vergeben sollte. In den letzten Jahren war Aberforth immer schwächer geworden und konnte sich nur noch mühsam fortbewegen. Seine Kneipe, den Eberkopf in Hogsmeade, hatte er schon vor mehr als 15 Jahren aufgeben müssen. Inzwischen lebte er wieder in seinem Geburtshaus in Godric´s Hollow zusammen mit seinen zwei Ziegen. Gelegentlich kamen ihn sowohl die Familie Potter als auch Neville und Hannah Longbottom besuchen und kümmerten sich um ihn und seinen Haushalt. Als Nachbarn war es für Neville und Harry selbstverständlich, und besonders zu Neville hatte Aberforth im Laufe der Jahre ein sehr enges Verhältnis entwickelt.

Doch heute am ersten Weihnachtstag war er alleine. Am Vormittag war er bereits zusammen mit seiner Nachbarin beim Grab seiner Schwester und Mutter gewesen. Er hatte ihnen Rosen mitgebracht und lange Zeit bei ihnen gestanden. Während er bei seiner Mutter und seiner Schwester Ariana, dem Menschen, den er am meisten geliebt hatte, stand, hatte er über sein Leben nachgedacht. Er konnte sich nicht beschweren. Die meiste Zeit war er glücklich und zufrieden gewesen. Natürlich, er hatte früh seine Familie verloren und dem einzigen Mensch, der ihm geblieben war, jahrelang Abneigung und Wut entgegen gebracht. Ariana hätte nie gewollt, dass ihre Brüder sich so lange Zeit aus dem Weg gingen, aber für Aberforth war es schon immer schwer gewesen zu verzeihen. Das Leben mit Albus als Bruder war für ihn nie leicht gewesen. Natürlich wusste er auch, dass Albus nicht persönlich etwas für die Umstände konnte, dass er schlau, brillant und von allen geschätzt und bewundert wurde. Aber dennoch war er stets neidisch auf den Erfolg seines Bruders gewesen. Heute, nach all den Jahren, wusste auch Aberforth, dass das Leben seines Bruders nicht immer einfach gewesen war, auch er war nicht immer glücklich gewesen. Wie Aberforth hatte er auch seine Fehler gemacht und seine Schwester auf seine Art und Weise vermisst. Aber damals, als er noch ein Junge gewesen war, fiel es ihm sehr schwer Albus zu vergeben. Und so gingen die Jahre ins Land und eine Versöhnung mit Albus wurde immer schwieriger. Erst als beide älter, reifer wurden, konnten sie sich wieder in die Augen sehen. Den Tod von Ariana hatte Aberforth Albus vergeben, aber vergessen hatte er ihn all die Jahre nicht.
Am Grab von Ariana und Kendra realisierte Aberforth nach vielen, vielen Jahren, dass es an der Zeit war, sich richtig von seinem Bruder zu verabschieden und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und so machte sich nachmittags, als alle Menschen in ihren Häusern vor dem Weihnachtsbaum saßen, ein dürrer, vom Alter gezeichneter Zauberer auf nach Hogwarts. Auf zum Grab von Albus Dumbledore, dem größten Zauberer seiner Zeit und einzigen Bruder, den er je gehabt hatte.
Vor dem beeindruckenden Grabstein seines Bruders blieb er lange Zeit bewegungslos stehen. Die Kälte kroch langsam seine Arme und Beine hinauf, aber bemerkte sie kaum, so sehr war er in seine Gedanken versunken. Aberforth begriff, dass er und Albus mehr als nur blutverwandt gewesen waren. Sie waren sich weitaus ähnlicher gewesen waren, als er gedacht hatte. Beide hatten Jahrzehnte lang gegen das Böse gekämpft, sie hatten sich für die „gute“ Seite ihrer Seele entschieden. Zwar hatten sie es jeder auf ihre Art getan – Albus als aktive Figur im Widerstand mit viel Symbolgehalt, Gründer des Phönix-Ordens und Mentor von Harry, Aberforth stets als passive Hintergrundfigur, jedoch stets mit wichtigen, praktischen Unterstützungsmaßnahmen – aber das Ergebnis war dasselbe gewesen: Voldemort war tot, das Gute hatte gesiegt! Das war es auch immer gewesen, was seine Schwester gewollt hatte.
Mit dieser Erkenntnis, am Grab von seinem Bruder stehend und endlich die Geschehnisse aller vergangenen Jahre verstehend, war es Aberforth endlich möglich zu vergeben und zu vergessen. Mit Tränen in den Augen nahm er von seinem Bruder Abschied und bat ihn um Vergebung. Und er war sich sicher, dass er, als die Sonne plötzlich hinter den Wolken hervor kam, es als Zeichen ansehen konnte. Albus hatte ihm vergeben!

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