7. Dezember
Rezept zurück ins Glück
Trübe hingen schwere, graue Wolken über dem kleinen Reihenhaus in der verschlafenen Siedlung am Rande Londons. Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheibe und rannen langsam hinunter, wo sie sich zu einer beträchtlichen Pfütze auf der dunkelroten Fensterbank ansammelten.
Die Bäume im Vorgarten ließen traurig ihre kahlen Zweige hängen, die sonst um diese Jahreszeit immer ihr schönstes, weißes Winterkleid trugen und nur die eintönige Musik des Leierkastenmanns am Ende der Straße, durchbrach die bedrückende Stille.
Hannah legte ihre Wange an das Küchenfenster und seufzte, ihr warmer Atem hinterließ eine dunstige Schicht auf der kalten Scheibe, den sie mit einer lustlosen Handbewegung wegwischte, den Blick auf die kleine Pfütze draußen geheftet, in der sich ein Stück ihrer Häuserfassade spiegelte.
Dieses Jahr war Weihnachten nichts wie es sein sollte, kein Schnee, der von den Dächern rieselte, Neville auf einer „Ach-so-wichtigen“ Kräuterexpedition irgendwo in Südafrika und hier in ihrem Elternhaus, kam seit diesen schicksalhaften Wochen in ihrem sechsten Schuljahr keine Weihnachtsstimmung mehr auf.
Die festliche Beleuchtung in den Fenstern bemerkte sie durch den grauen Schleier, der sich über die Siedlung gelegt zu haben schien, nicht und als ihr Blick zu dem kleinen, gerahmten Bild ihrer Mutter auf der Fensterbank fiel, spürte sie schon wieder einen festen Kloß in ihrer Kehle. Diese verfluchten Todesser, dachte sie und die zarte Hand auf ihrem Knie, ballte sich zu einer wütenden Faust.
Man hatte sie ja gewarnt, die ersten Feste – der erste Geburtstag, das erste Weihnachten – ohne sie würden schlimm werden und Hannah würde dem ganz sicher nicht widersprechen. Nur, dass dies nicht das Erste, sondern schon das Fünfte ohne sie war, und schlimm war es noch immer – vor allem überhaupt nicht mehr weihnachtlich.
Früher, da hätte sie hier mit ihr gestanden und sich mit Puderzuckernasen und verklebten Händen den Bauch gehalten, vor lauter Lachen und Teignaschen. Die kleine Küche wäre angefüllt mit dem verführerischen Duft von Zimt, Vanille und warmen Kekse, überall würden Backbleche voll mit Plätzchen und Lebkuchenplatten schweben.
Teigkleckse und Mehlspuren bedeckten den großen Küchentisch, aus dem Radio liefe Celestina Warbeck mit ihrem Weihnachtsmedley und als Hannah die Augen schloss, konnte sie ihre Mutter genau vor sich sehen, wie sie sich verstohlen im Takt bewegen und das Lied kaum hörbar mitsummen würde.
„Eine alte Schachtel wie mich, will doch niemand singen hören, Hannah“, pflegte sie zu sagen und genoss anschließend sichtlich, wie man ihr vehement widersprach.
Wider Willen musste Hannah lachen, als sie sich daran zurück erinnerte. In dem Moment betrat ihr Vater die kleine Küche und legte seine Hand behutsam auf Hannahs Schulter. Er sah noch immer traurig aus, doch heute lag noch etwas anderes in seinem Blick, ein kleines Glitzern und Funkeln, das das honigblonde Mädchen schon lange nicht mehr gesehen hatte. Fragend neigte sie den Kopf zur Seite und zwischen ihren ozeanblauen Augen, bildete sich eine kleine Falte, wie immer, wenn die Hufflepuff angestrengt nachdachte. Warum um alles in der Welt grinste der dunkelhaarige Mann heute nur so wie ein Honigkuchenpferd? Dafür gibt es doch wirklich keinen Grund, knurrte sie innerlich, behielt es aber wohlweißlich für sich. War ihm ja zu gönnen, seine gute Laune.
Ihr Vater lächelte wissend, als könne er nun auch Gedankenlesen. „Hast du heute nicht etwas vergessen?“, fragte er mit diesem fröhlichen Unterton in der Stimme, den sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört hatte und nahm, zu ihrem größten Erstaunen die Küchenschürze vom Haken, die nun vor ihrer Nase baumelte.
„Du willst kochen?“, fragte sie ungläubig und mit angebrachter Skepsis. Dieses Weihnachten war zwar so oder so verkorkst, aber mit stundenlangen Reinigungszaubern musste sie es nun auch wieder nicht verbringen, weil ihr Dad zwar am Herd ein Künstler war, aber das Chaos danach ging schon nicht mehr als kreativ durch. „Nicht kochen, Kleines, backen“, korrigierte er sie grinsend, während er ein Backblech mit Backpapier belegte und sich anschließend zu ihr umdrehte.
„Dad, ich bin nicht mehr klein…“, protestierte sie aus alter Gewohnheit, glitt aber ebenfalls von der Eckbank am Fenster und trat zu ihm an die Arbeitsplatte. „Was willst du denn backen? Das hast du doch noch nie gemacht“, murmelte Hannah lustlos und sah ihrem Vater dabei zu, wie er die Schränke nach was auch immer absuchte. Die junge Frau warf einen ergebenen Blick zur Küchendecke, über die mit einem Mal die alten goldenen Strohsterne von früher schwebten. Waren die eben auch schon da gewesen? Als sie den Blick wieder auf die Arbeitsplatte sinken ließ, deutete ihr Vater auf einen alten, schon ziemlich bekleckerten Pergamentbogen, beschrieben in der geschwungenen Schrift ihrer Mutter und verziert mit Hannahs ersten Zauberstabzeichenübungen – mit viel gutem Willen ließen sich in den gelben Klecksen wirklich Sterne erkennen.
„Nuss-Nougat-Sterne?“ Hannah klang noch ungläubiger als schon zuvor. „Das ist nicht dein ernst, die haben wir ewig nicht gebacken und überhaupt, ich dachte, du magst sie nicht mehr.“ Doch ihr Vater ließ sich von Hannahs Protest nicht aus der Ruhe bringen, ging zum Kühlschrank auf dem das Radio stand und drehte an dem Kanalsucher, bis weihnachtliche Klänge durch die Küche hallten.
„Ich will sie ja auch nicht backen, sondern du sollst das machen. Ich hab mich den ganzen Monat schon drauf gefreut, aber du weißt ja wie beschränkt meine Fähigkeiten in der Weihnachtsbäckerei sind und da du dir dieses Jahr hier wieder die Ehre gibst…“ Inzwischen hatte er den Pergamentbogen auf genommen, seine Lesebrille aus der Hemdstasche gezogen und begann zu lesen. „Also du brauchst:
125g Butter
125g Puderzucker
1 Prise Salz
2 Eier
300g Weizenmehl
1 Msp. Backpulver
100g Nuss-Nougatcreme z.B. Nutella
200g Kuvertüre“,
las er vor und Hannah, die das Rezept eigentlich auswendig kannte, grinste nur leise in sich hinein, wollte sie ihn in seinem Elan doch nicht bremsen.
Mit fachmännischer Miene betrachtete er die Zutatenliste und nickte anschließend selbstzufrieden. „Das haben wir alles, wunderbar. Zum Abwiegen kannst du bestimmt irgendetwas mit deinem kleinem Zauberhölzchen da machen, oder? Dann geht es schneller.“ Hannahs Vater rieb sich eifrig die Hände und wieder konnte die ehemalige Hufflepuff nichts dagegen tun, dass sie zu lachen begann. Sie hatte ihren Vater lange nicht so fröhlich und vorfreudig erlebt, dass es für sie so ansteckend wirkte. „Du kannst mir aber helfen, ich brauch eine Schüssel, am besten die Rote da“, wies sie ihn noch immer kopfschüttelnd an. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Es dauerte nicht lange und sie füllte die mit Magie abgewogene Butter, den Puderzucker und den Hauch Salz in die Schüssel und reichte diese an ihren Vater weiter. „Solange rühren, bis es richtig schön cremig ist“, erklärte sie ihm und kicherte mädchenhaft über seinen etwas perplexen Gesichtsausdruck. „Du wolltest doch auch backen und nächstes Jahr sind Neville und ich bestimmt zusammen unterwegs, dann kannst du dir Kekse auch selbst machen, wenn du jetzt schön aufpasst.“ Während ihr Vater unter leisem Brummen die Butter-Zuckermischung mit dem Schneebesen cremig rührte, vermischte Hannah das Backpulver mit dem Mehl, so dass es staubte. Sie musste husten, doch als sie sah, wie das Haar ihres Vaters vom Mehl weiß war und er sie schon wieder völlig verstört ansah, wandelte es sich zu einem Lachen, was fröhlich und losgelöst durch die kleine Küche hallte.
„Ich dachte, du bist nicht mehr klein, Hannah, da muss ich mich doch wirklich nicht mehr als Weihnachtsmann für dich verkleiden oder?“ Doch so genervt wie er tat, war Hannahs Vater längst nicht, was das kleine Glitzern, das in seinen dunklen Augen nistete verriet. „Och...“, machte sie nur kichernd und gab ein Ei nach dem anderen zu der inzwischen cremig gerührten Masse hinzu. Nachdem die beiden ausgeknobelt hatten, wer den Teig vom Schneebesen lecken durfte, knetete Hannah grummelnd die Mehl-Backpulvermischung unter die Masse, bis ein fester Teig entstand, während ihr Vater unter zufriedenem Seufzen den Teig vom Schneebesen verschlang. „Also, das Hannah…“, murmelte er, „ist echt das Beste, was es gibt.“ Hannah, die ebenfalls ein kleines Stückchen Teig probiert hatte, konnte ihm da nur zustimmen. „Ich brauch noch etwas Klarsichtfolie, darin können wir den Teig einschlagen und in den Kühlschrank packen. Er braucht ungefähr zwei Stunden.“ Hannah warf einen kurzen Blick auf ihren Zauberstab. „Es sei denn natürlich ich benutze Magie...“ Doch da beide beschlossen, dass zu der Weihnachtsmusik, dem Weihnachtskeksen und ihrer langsam aufkommenden Festtagsstimmung auch die passende Dekoration gehörte, stellte sich diese Frage nicht. Der Teig wurde im Kühlschrank verstaut, der Timer auf zwei Stunden gestellt und nach vielen kleineren und größeren Katastrophen erstrahlte das Wohnzimmer im weihnachtlichen Glanz.
Am Christbaum spendeten rote Kerzen ein goldenes Licht, im Kamin loderte ein heimeliges Feuer und der Geruch von Tannengrün und Kerzenwachs erfüllte die ganze Wohnung.
Und während beide den Blick auf den Baum gerichtet hatten und schon in wehmütigen Erinnerungen zu versinken drohten, klingelte es in der Küche und die zwei Stunden waren vergangen.
Gespannt nahm Hannahs Vater den Teig aus dem Kühlschrank und sah fasziniert zu, wie Hannah aus der Spitze ihres Zauberstabs Mehlstaub auf die Arbeitsfläche rieseln ließ. Wenigstens schneite es nun in der Küche, wenn schon nicht draußen.
Darauf rollten sie mit vereinten Kräften den Teig auf ca. 4 mm Dicke aus und während der Ofen auf ca. 175°C vorheizte, stachen sie beide Sterne aus. In Muggelmanier natürlich, das macht doch viel mehr Spaß. Nur auf das Backblech durfte die ehemalige Hufflepuff sie schweben lassen, war das doch für ihren ungeduldigen Vater keine Arbeit.
Nachdem das Backblech hineingeschoben war und sich ganz allmählich der köstliche Duft von Plätzchen in der kleinen Küche ausbreitete, hakte er die Kuvertüre in kleine Stücke und schmolz diese vorsichtig im Wasserbad, damit sie flüssig wurde.
Nach einer knappen Viertelstunde nahmen sie vorsichtig das Backblech mit den hellgoldenen Sternen heraus.
Nachdem der ein oder andere schon so im Mund von Hannahs Vater gelandet war – „Mann“ muss ja mal testen, ob diese überhaupt schmecken, nahm die ehemalige Hufflepuffschülerin einen Löffel und verteilte auf die Hälfte der Sterne einen Klecks Nuss-Nougatcreme. Die andere Hälfte Sterne legte sie als Deckel darauf und drückte diese ganz leicht, damit sie nicht in der Mitte zerbrachen, an.
Die Spitzen der fertigen "Doppelsterne" tunkte ihr Vater noch in die flüssige Kuvertüre, damit sie noch appetitlicher aussehen würden und mit einem seligem Lächeln betrachteten die Beiden ihre Werk.
„Sie wäre stolz auf uns“, fand Mr. Abbott, ging leise lächelnd zum Küchenfenster und stieß es ein wenig auf. Es war warm geworden in der kleinen Küche und die Luft, die nun ins Zimmer strömte, duftete herrlich nach Schnee.
Als die Kirchenglocken in der Ferne zur Christmette läuteten, trat Hannah zu ihrem Vater ans Fenster, schob ihre Arme unter seine hindurch und blickte diesmal mit einem Lächeln auf den Lippen auf das kleine Foto auf der Fensterbank, wo lachend und zwinkernd – da war sich Hannah mit einem Mal ganz sicher – ihre Mutter zu ihnen aufsah. Es war vielleicht nicht das allerschönste Weihnachten, doch als Neville, der einen Moment später aus dem Kamin polterte, mit Schneekristallen in den dunklen, verwuschelten Haaren in die Küche trat, seine Freundin sowie deren Vater ein wenig verwirrt anblickte und schließlich gierig einen noch warmen Nuss-Nougat-Stern in den Mund schob, musste Hannah zugeben, dass es doch eines der schönstens Weihnachten seit langem wieder war, legte den Kopf in den Nacken und ließ ein glockenhelles Lachen erklingen, was Nevilles genuscheltes „Pppfröhlische Weihnachten“ noch übertönte.
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