20. Dezember
Unbeliebte Weihnachtsüberraschung
Gora blickte neugierig durch den kleinen Spalt, durch den nur ganz selten ein wenig Licht fiel. Er war an sein Leben im Dunkeln gewöhnt. Es geschah nicht oft, dass er einen Menschen sah. Doch in den letzten Tagen schien es, dass die Familie Christ, bei der er nun schon längere Zeit lebte, öfter in der Küche anzutreffen war. Gora kannte dieses geschäftige Treiben nun schon zur Genüge. Jedes Jahr war es das gleiche: Es wurde gebacken oder gebastelt, die Fenster und der Küchentisch wurden dekoriert und es wurden Kerzen angezündet. Alle Menschen schienen irgendwie unnatürlich fröhlich zu sein. Ständig hörten sie Weihnachtslieder und es duftete die ganze Zeit nach Plätzchen. Diese Zeit war die Schlimmste des Jahres für Gora, niemand öffnete seine Dose, und so hatte Gora niemanden, den er erschrecken konnte.
Als Gora Sean, den Sohn der Familie Christ, der gerade durch die Küche lief, entdeckte, erinnerte er sich wehmütig an ihre erste Begegnung. Sean war damals etwa fünf Jahre alt gewesen und hatte sich auf Entdeckungstour im Haus begeben, da seine Mutter gerade nicht da war. Offenbar war er auf der Suche nach Keksen oder anderen Süßigkeiten gewesen, anders war es nicht zu erklären, dass er eine Keksdose nach der anderen öffnete. Da seine Mutter aber sehr selten buk, waren diese selbstverständlich leer. Nun ja, abgesehen von der letzten und größten. In dieser hatte Gora nämlich eine Bleibe gefunden. Und so wurde der kleine Sean anstatt von Keksen von einem grausam verstümmelten Zombiekopf begrüßt.
Die Folge, lautes Schreien, war das, wonach Gora sich gesehnt hatte. Zu selten bekam er Zauberer zu Gesicht.
Ganze elf Jahre war es jetzt her, dass Sean Gora diese Freude bereitet hatte und nun schien es, als ob es erneut passieren würde. Der Irrwicht machte sich bereit, doch in was sollte er sich verwandeln? Er spürte viele Ängste bei Sean, doch merkwürdigerweise schien der Junge sehr entschlossen. Kurz bevor Gora sich entscheiden konnte, ob er nun ein großer, maskierter Unbekannter, eine Unterhose mit rot blinkenden Feuerwehrautos oder die Barbie werden sollte, die seit Jahren unter Seans Bett versteckt war, wurde jedoch bereits die Dose geöffnet. Schnell versuchte Gora, sich zu verwandeln, doch das Ergebnis, eine schwarz gekleidete Barbie, die eine Unterhose auf dem Kopf trug, war nicht unbedingt das, was Sean richtig erschreckte.
Gora konnte sich vor Schreck nicht mehr bewegen und merkte nur, wie er von Sean in die Höhe gehoben wurde und in eine Kiste gelegt wurde. Dann wurde es um ihn herum wieder dunkel und er spürte, dass seine Kiste durch die Gegend getragen wurde. Nachdem sie abgestellt wurde, wurde sie kurze Zeit noch ein wenig bewegt und plötzlich auf den Kopf gedreht. Gora kam sich vor wie in einer Achterbahn. Als er sich gerade an die Unruhe gewöhnt hatte, wurde seine Kiste abgestellt und auch Goras Kopf gewöhnte sich mit der Zeit wieder daran, völlig ruhig zu sein und nur aus eigenem Willen bewegt zu werden.
Er vernahm dumpfe Stimmen, die offenbar etwas Wichtiges besprachen. Neugierig rutschte Gora näher an den Rand des Kartons und legte sein Ohr an die Wand.
"Das wird ein Spaß, Lucy wird ausflippen." Das war die wohlbekannte Stimme von Sean, doch nun sprach eine fremde: "Meinst du wirklich, dass sie an das Geschenk gehen wird?" "Du kennst meine Schwester nicht, die ist so was von neugierig. Wenn ich da an letztes Jahr denke, ich kam gerade ins Zimmer, als sie das Päckchen schüttelte und versuchte, herauszufinden, was darin war. Dieses Geschenk wird ihr ihre Neugierde schon austreiben." "Da magst du Recht haben. Sieh mal, es schneit. Lass uns doch rausgehen, Lucy wird eh erst kommen, wenn wir aus dem Haus sind."
Die Stimmen verstummten und Gora war wieder allein. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, wenn er jetzt gerade die richtigen Schlüsse gezogen hatte, würde er ziemlich bald ein Mädchen erblicken und dieses Mal würde er es nicht versauen, da war er sich sicher.
Die Zeit schien sich zu ziehen wie Kaugummi. Im Zimmer herrschte Stille, doch plötzlich spürte Gora die Anwesenheit eines jungen Mädchens. Schnell merkte er, dass es große Angst vor Mumien hatte. Wahrscheinlich hatte sie mal einen Film gesehen, für den sie eigentlich zu jung war, denn Gora konnte bestimmte Szenarien ausmachen, die alle gewisse Ähnlichkeit hatten. Er hörte, wie das Mädchen immer näher kam, sie schlich, als hätte sie Angst, dass plötzlich jemand hinter der Tür hervorspringen würde.
Doch nach kurzer Zeit hatte sie Goras Karton erreicht und er hörte ihren schnellen Atem. Vorsichtig wurde gegen die Wand geklopft, dann wurde der Karton gedreht, doch das Mädchen schien zu keinem Ergebnis zu kommen. Nach ein paar Sekunden entschloss sie sich offenbar, die Schleife zu öffnen, und in den Karton hineinzusehen.
Gora machte sich bereit, sein großer Auftritt stand kurz bevor. Ein bisschen Licht schimmerte durch den Spalt, der immer größer wurde. Gora erblickte das Gesicht des Mädchens und verwandelte sich augenblicklich in eine große, furchterregende Mumie. Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Schreck, ein lautloser Schrei verließ ihre Lippen, bevor sie auf dem Absatz kehrt machte und schnell das Zimmer verließ. Die Tür schlug sie hinter sich zu.
Gora saß zufrieden auf Seans Schreibtisch. Er konnte es noch, denn nach dem peinlichen Zwischenfall ein paar Stunden zuvor hatte er an seinen Fähigkeiten gezweifelt, doch offenbar war er noch ein richtiger Irrwicht. Doch was sollte er nun tun? Wieder zurück in den Karton klettern? Nein, das war zu langweilig. Er würde sich irgendwo im Zimmer verstecken, mit Sean hatte er immerhin noch eine Rechnung offen. Der würde schon sein blaues Wunder erleben, wenn er das nächste Mal sein Zimmer ordentlich aufräumen würde. Es konnte ja nicht angehen, dass arme, kleine und vor allem unschuldige Irrwichte so missbraucht werden.
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