11. Dezember
"Tanja, beeil dich, es gibt gleich Abendbrot."
"Ja, ich komme, Oma, ich ziehe mich nur noch schnell um", rief Tanja ins Treppenhaus hinunter und rannte in das kleine Gästezimmer im oberen Stock. Hastig zog sie die dicken Wintersachen aus, warf sie über die Sessellehne und schlüpfte in ihren roten Trainingsanzug.
"Hach, die Kugel, ich Schussel", schoß es Tanja durch den Kopf. Sie hob den Wintermantel auf, wühlte in der rechten Seitentasche und zog eine kleine Papiertüte hervor. Sie mußte sie vor dem Abendessen noch einmal anschauen.
Tanja stülpte die Tüte um und ließ den Anhänger auf ihre Hand gleiten. Vorsichtig nahm sie die goldene Kette zwischen die Fingerspitzen und ließ die kleine Kugel vor ihren Augen hier und her baumeln.
Selbst im trüben Licht der Deckenleuchte gleißte und schimmerte die Kristallkugel und in den Facetten brach sich das Licht in allen Farben. Tanja konnte sich kaum satt sehen. Ganz nahe hielt sie die Kugel an ihr Auge und betrachte eingehend den Käfig aus feinem Golddraht, in dem die Kugel eingefaßt war. Zufrieden lächelte das Mädchen in sich hinein.
"Taaaanjaaa!"
"Ja doch, Oma."
Den ganzen Tag war sie mit Oma durch die Läden der Stadt gelaufen, in Schmuckgeschäfte, von einem Goldschmied zum anderen. Ausgerechnet in "Rosis Geschenkeladen" waren sie endlich fündig geworden. Wo sie doch jeden Tag auf dem Schulweg an dem kleinen Laden in der Wesselstraße vorbeilief, ohne den Auslagen groß Beachtung zu schenken.
Ja, Zeit hätten Oma und sie sich sparen können, Geld wohl nicht. Der ganze Inhalt ihres Sparschweins war für den Anhänger draufgegangen, und immerhin hatte sie seit den Sommerferien fast jede Woche was in das blaue Ferkelchen geworfen, das auf ihrem Schreibtisch stand und sie ständig hungrig anstarrte.
Teuer war der Anhänger gewesen, aber genau das, wonach sie schon die ganze Zeit gesucht hatte. Tanja legte das kleine Schmuckstück auf den Schreibtisch am Fenster und zupfte liebevoll die Goldkette zurecht.
"Tanja, jetzt komm doch endlich, die Pfannkuchen werden kalt", rief jetzt Opa von unten.
"Ja, Opi, gleich."
Fröhlich pfeifend kickte das Mädchen die Winterstiefel unters Bett und schlüpfte in ihre warmen Pantoffeln. Tanja wollte gerade das Licht ausmachen, da schnupperte sie noch mal prüfend im Zimmer herum. Hmmm, es roch mal wieder so muffig.
Tanja seufzte, überlegte kurz, dann ging sie ans Fenster und öffnete es. Kalte Winterluft strömte ins warme Zimmer. ’Na, besser erfroren als erstunken’, dachte Tanja. Den ganzen Tag über war das Fenster geschlossen gewesen, und seit Mamas früheres Mädchenzimmer nur noch ab und an als Gästezimmer genutzt wurde, war die Luft hier drin meistens etwas abgestanden.
Dann schaltete sie das Licht aus, warf die Tür hinter sich zu und polterte die Treppe hinunter.
"Jetzt wird’s aber auch Zeit, schließlich haben wir ja noch eine Menge Arbeit vor uns", brummte Opa und schob Tanja einen Teller mit dampfenden Pfannkuchen über den Tisch.
"Zucker, Oma, Zucker!"
"Bitte, heißt das, junges Fräulein", sagte Oma und reichte ihrer Enkelin den Zuckerstreuer.
"Danke, junges Fräulein" kicherte Tanja und streute hingebungsvoll Zucker über ihre Pfannkuchen.
"So ein Fröchdachs" flötete Opa mit gekünstelt hoher Stimme und stupste sie unter dem Tisch mit dem Fuß an.
"Schelber Frosch, Opa", schmatzte Tanja und stocherte ihrerseits unter dem Tisch nach Opas Füßen, worauf sich sofort ein heißer Fuß- und Zehenkampf entwickelte.
"Hehe, ihr beiden, jetzt wird gegessen", lachte Oma und teilte das Apfelkompott aus.
"Gewonnen!" kreischte Tanja, "krieg ich dein Kompott, Opa?"
"Ja, ja, Gnade, ich ergebe mich."
Opa hüpfte auf einem Fuß durch die Küche in Richtung Tür. "Ich hole schon mal das Karussell."
"Na, wird es heute abend fertig?"
"Klar, Oma, sind ja nur noch ein paar Malerarbeiten zu tun und den Schnatz haben wir jetzt auch." Tanja half ihrer Großmutter den Tisch abzuräumen.
"Gut, mein Engel, aber seht zu, daß ihr heute abend auch wirklich fertig werdet. Morgen müssen wir noch den Baum schmücken und alles herrichten, da ist keine Zeit mehr. Um 14 Uhr kommen deine Eltern und dein Bruder, und wir wollten ja noch nach dem Kaffee in die Kirche, um die große Krippe anzuschauen."
"Null problemo, Oma, ich habe alles unter Kontrolle und Opa...".
"Halt mal lieber die Tür unter Kontrolle", rief Tanjas Großvater, der gerade die Küchentür mit der Schulter aufdrückte, weil er in beiden Händen ein großen Holzkarussell trug.
"Oh, da kömmt es". Tanja hielt Opa die Tür auf und ging dann mit beiden Armen theatralisch dirigierend langsam vor ihm her.
"Tatataaa,tatatattaaaa, tatahaaaatta...", sang sie lauthals, wobei Oma an der Spüle einen Knicks machte.
"Das ist der Hochzeitsmarsch, du Schussel", lachte Opa und stellte das Karussell auf den Küchentisch, "los, hol mal bitte die Werkzeugkiste."
Kurze Zeit später ließen etliche Pinsel, Farbtöpfchen, Klebebänder, verschiedene Werkzeuge und altes Zeitungspapier Omas schönen Küchentisch wie eine Werkbank aussehen.
"Meinst du, wir sollen das Gummiband für den Antrieb noch mal nachziehen, Opa?" fragte Tanja und drehte prüfend an der Kurbel.
"Nein, isch denke, man kann esch scho laschen, gib mir mal den kleinen Hammer", nuschelte Opa mit einer Anzahl Ziernägel zwischen den Lippen. Tanja hielt die nachtblauen Seide unter das Karusselldach.
"Oma, schau mal, ist es so gut?" Tanja zog die Falten noch ein wenig nach unten, so daß die Seide wie ein blauer Baldachin unter dem Holzdach hing.
"Sehr elegant, ein wahres Zauberkarussell. Mensch, da wird der Jonas Augen machen."
"Na, prima, Oma, dann könnte er ja mal die Bücher lesen, anstatt immer meine Harry-Potter-Kassetten zu hören. Sind schon abgeleiert, sind sie...", maulte Tanja, drehte das Karusselldach ein Stück weiter und zog den Seidenstoff in die richtige Position. "Hey, Opa, klopp mir bloß nicht auf die Finger, hörst du?"
"Nein, nein, isch pasch schon auf, halt den Schtoff genau scho", brummte Opa, fischte mit der Spitzzange ein weiteres goldenes Ziernägelchen aus dem Mund, drückte es in den blauen Seidenstoff und klopfte es vorsichtig mit dem kleinen Hammer in das Holzdach.
"Aber Tanja", ließ sich Oma vernehmen, "Jonas ist doch erst sechs und du bist schon zehn. ’Harry Potter’ kann er noch nicht selber lesen."
Obwohl ihr kleiner Bruder erst sechs war, wußte er mindestens soviel von Hogwarts, den Weasleys und Dobby wie seine große Schwester. Kein Wunder, Harry Potter, Hogwarts und die Welt der Zauberer waren Tanjas Ein und Alles. Nicht nur, daß sie alle bisher erschienenen Bände sooft vor und zurück gelesen hatte, daß sie sie schon fast auswendig kannte. Oft las sie abends Jonas aus den Büchern vor, dann spielten sie Szenen daraus nach, erfanden eigene Zaubersprüche oder duellierten sich mit zu Zauberstäben umfunktionierten Kochlöffeln. Tanja war sogar Mitglied in einem eigenen Internetfanclub, wo man, wie in dem Hogwarts der Bücher, am Unterricht teilnehmen und in Zaubertrankkunde, Arithmantik, Wahrsagen und anderen magischen Schulfächern Punkte für sein Haus sammeln konnte.
Jonas fand das alles unglaublich aufregend und wollte unbedingt ein großer Magier werden, mindestens so berühmt wie der Zauberer Dumbledore und noch mächtiger und noch böser als der böse Lord Voldemort. Oder wenigstens der beste Quidditchsucher der Welt. Naja, Jungs eben.
"Ach, Oma, manchmal nervt der Jonas einfach", sagte Tanja und zog einen Flunsch. Erst neulich hatte er ihr mit einem Bettlaken überm Kopf im Treppenhaus aufgelauert und hinter ihrem Rücken "Extelliamus" gebrüllt. Vor Schreck hätte es sie fast die Treppe hinunter gehagelt. Aus Wut hatte sie ihrem kleinen Bruder dann eine geknallt und, als er heulend zu Mama rannte, ihm hinterhergeschrieen "und außerdem heißt es ’Expelliarmus’, du Idiot!"
Aber auch wenn Jonas ihr mindestens fünfmal am Tag auf die Nerven ging, Tanja liebte ihren kleinen Bruder über alles.
"Fertig, Tanja, du kannst loslassen." Großvater drehte das Karusselldach in den Händen hin und her und schaute, die Nasenspitze fast am Holz, prüfend über seine Brille hinweg, ob der Stoff für die Deckenverkleidung auch ja richtig befestigt war.
Opa war ein Genie, wenn es ums Werkeln ging. Windmühlen, Schiffe mit Radantrieb, einen Zirkus mit Zelt, Raubtierkäfigen und Tieren und allem, ach, es gab nichts, was Opa seinen Enkelkindern nicht schon gebastelt hatte. Es war auch seine Idee gewesen, das Kettenkarussell, das Jonas im Sommer auf dem Rummelplatz so fasziniert hatte, in einer Zaubererversion als Tanjas Weihnachtsgeschenk für ihren kleinen Bruder zu bauen.
Tanja war dann ganz stolz auf ihren Einfall gewesen, statt irgendwelcher Magier das Karussell mit einer Quidditchmannschaft zu bestücken, die dem Goldenen Schnatz hinterherjagt.
"Was machen die Hexen, Doris?" fragte Opa und setzte vorsichtig das Karusselldach auf die Drehachse.
"Moment, die hier muß ich noch mal durchkämmen und die beiden da haben Staubflecken auf dem Umhang." Oma zog den kleinen Kamm behutsam durch das Haar der kleinen Hexe in ihrer Hand.
"Himmel, was für ein Rot", sagte Großmutter kopfschüttelnd, "wie damals die Steinberger Elli, meine Schulfreundin an der Handelsschule, die hatte auch solch feuerroten Haare. Tanja, du kannst schon die beiden kleinen Hexen da sauberbürsten, aber vorsichtig."
"Gleich, Oma, ich hole mir erst noch von dem Kakao von eben" sagte Tanja, stand auf und holte sich eine frische Tasse aus dem Geschirrschrank. Omas Kakao schmeckte viel leckerer als der Fertigpulverkakao, den Mama immer kochte.
"Oma, ist noch Sahne da?"
"Im Kühlschrank, du Schleckmaul" lächelte die Großmutter und fing an, die beiden Hexen selber sauberzubürsten. Tanja häufte sich einen ordentlichen Klecks Sahne auf ihren Kakao, dann hockte sich neben ihren Großvater, schlürfte genüßlich aus ihrer Tasse und sah zu, wie Opa, die Brille ins Haar und die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben, den kleinen Hexen mit winzigen Pinseln blaue Augen und rote Münder malte.
"Schön machst du das, Opa, da kannst du bei mir gleich weitermachen. Guck mal, ich bin bestimmt ganz braun" sagte Tanja, spitzte den Mund und schob Opa ihre kakaoverschmierte Schnute entgegen.
"Ach, wozu, siehst aus wie immer, du kannst so bleiben", neckte sie der Großvater, blies vorsichtig die Farbe im Gesicht der kleinen Holzhexe trocken und legte sie dann auf den Tisch.
"So, das war’s. Jetzt können wir die Figuren aufhängen."
"Ich will das machen", rief Tanja, stürzte schnell den restlichen Kakao hinunter und knallte die Tasse auf die Tischplatte.
"He, langsam, Mädchen, so eine Tasse kostet bei Wülbecks acht Euro das Stück", raunzte Oma und schüttelte mißbilligend den Kopf. Aber das Mädchen hörte überhaupt nicht hin, weil jetzt der spannende Augenblick kam: die Vollendung des Weihnachtskarussells.
"Opa, halt mal das Dach fest." Tanja fädelte vorsichtig die dünnen goldenen Drähte, an denen die kleinen Hexen befestigt waren, oben in die Ösen am Dach des Karussells. Schließlich hingen sieben rothaarige Hexen auf ihren Besen im Kreis.
"Ach, sie sehen so toll aus! Probefahrt, Opa, Probefahrt", rief Tanja begeistert.
"Na, dann los, Kind, dreh an der Kurbel", sagte Opa vergnügt und wischte sich einen Rest Farbe von den Fingern.
Tanja legte den Zeigefinger gegen die Holzkurbel des Karussells und begann sie erst langsam, dann schneller zu drehen. Und schon fingen die Hexen an, auf ihren Besen durch die Luft zu reiten.
"Opa, es funktioniert, es funktioniert! Schau doch, Oma, wie sie fliegen", kreischte Tanja vor Begeisterung, dann stürzte sie sich auf ihren Großvater und umarmte ihn stürmisch.
"Und was ist mit deiner Goldkugel, diesem, diesem .... Schmatz?"
"Schnatz, Oma, Schnnnnatz, menno", stöhnte Tanja ob soviel Unwissenheit. Aber Großmutter hatte Recht, der Schnatz fehlte ja noch an dem Karussell. Tanja rannte aus der Küche hoch in ihr Schlafzimmer, um den Anhänger zu holen.
Sie riß die Tür auf, schaltete das Licht an und .... Schauer liefen ihr über den Rücken. Im Gästezimmer war es eiskalt und der Luftzug wehte feine Dunstschwaden von außen durch das geöffnete Fenster.
’Na, prima,’ dachte Tanja bei sich, ’jetzt darf ich die Nacht in einem Eiskeller verbringen. Wieso habe ich aber auch das Fenster vergessen, ich doofe Nuß?’
Rasch beugte sie sich über den Schreibtisch, schloß das Fenster und zog den Vorhang zu.
’Was soll’s? Oma kann mir nachher eine Wärmflasche machen’, sagte sich Tanja und griff nach dem Anhänger, der ..... nicht mehr auf seinem Platz lag.
’Nanu? Ich hatte ihn doch hier auf den Schreibtisch gelegt.... Ob er vielleicht heruntergerollt ist?’ Das Mädchen bückte sich und sah auf dem Boden nach. Auch hier war nirgends ein Anhänger zu sehen. Tanja stutzte. Das gab es doch nicht. Das Mädchen versuchte sich zu erinnern. Sie hatte den Anhänger aus der Tüte genommen und .... dann auf den Schreibtisch gelegt. Aber da war er nicht.
Sie durchsuchte die Taschen ihres Trainingsanzugs. Nichts. Vielleicht doch noch im.... Tanja riß ihren Wintermantel von der Sessellehne und durchwühlte hektisch die Taschen. Nichts. Wo war der Anhänger? Sie kniete nieder und kroch unter den Schreibtisch, sah unterm Bett nach, schließlich krabbelte sie auf allen Vieren im Zimmer herum und tastete den Boden ab. Dann leerte sie ihre Reisetasche auf dem Fußboden aus und durchstöberte ihre Kleider. Panik stieg in Tanja hoch. Der Anhänger war weg.
"Ja, Kind, was machst du denn da auf dem Fußboden und, ... mein Gott, hier ist es ja eiskalt." Oma stand in der Tür und schaute verwundert auf das Tohuwabohu in dem Zimmer, dann auf ihre Enkelin, die auf dem Fußboden hockte und in ihren Kleidern wühlte.
"Oma, ich kann ihn nicht finden...." Tanja kullerten die Tränen übers Gesicht.
"Was ist weg, Kind", fragte Oma, die sich immer noch keinen Reim machen konnte.
"Der Anhänger, er ist weg, einfach weg", schluchzte Tanja, dann sprang sie auf, lief ihrer Großmutter in die Arme und fing an, herzzerreißend zu weinen.
Großmutter drückte ihre Enkelin an sich und strich ihr beruhigend über den Kopf.
"So, jetzt erzähl mal, was ist denn passiert?"
Tanja zitterte am ganzen Leib.
"Ich weiß es doch nicht, Oma, er ist weg, weg. Ich hatte ihn da auf den Schreibtisch gelegt, vor dem Essen. Und eben, als ich ihn holen wollte, war er nicht mehr da", schluchzte Tanja.
"Na komm, er wird schon irgendwo hier im Zimmer sein", meinte Oma.
"Karl? Karl, kommst du mal bitte?"
"Was ist denn los da oben? Wo bleibt denn das Kind?" kam es von unten, dann hörte man Großvater die Treppe hochstapfen.
"Gott, ist das kalt hier drin, und ..... ja, Tanja, warum heulst du denn? " fragte Opa verwundert, als er seine Enkelin weinend in den Armen seiner Frau vorfand.
"weg... Anhänger,...eben noch ... da... weg..."
Großvater konnte sich auf das unverständliche Gestammele seiner Enkelin keinen Reim machen. Fragend sah er seine Frau an. Großmutter redete leise auf das Mädchen ein.
",Jetzt beruhige dich, Kind, er wird schon hier im Zimmer sein, wo denn sonst. Komm, ich bringe dich jetzt nach unten, hier ist es ja wie im Eiskeller."
Dann wandte sie sich an ihren Mann, der die Situation immer noch nicht ganz verstanden hatte.
"Karl, das Mädchen hat den Anhänger verlegt. Schau du mal hier im Zimmer nach, er muß ja hier sein." Dann legte sie den Arm um ihre Enkelin, drückte sie tröstend an sich und schob sie sanft zur Tür hinaus.
Tanja lag auf dem Sofa, fest zugepackt in eine warme Wolldecke, den Kopf in Großmutters Schoß und weinte leise vor sich hin.
"Soll ich dir noch einen heißen Kakao machen?" fragte Oma.
Tanja schüttelte stumm den Kopf. Großvater war vor ein paar Minuten ins Wohnzimmer gekommen. Auch er hatte den goldenen Anhänger nicht finden können, dabei hatte er sich extra noch die große Taschenlampe aus dem Schuppen geholt und damit das ganze Gästezimmer abgesucht. Jetzt saß er selber in eine Wolldecke gehüllt im Sessel neben dem Sofa und schlürfte ein Glas heißen Kräutertee.
"Ah, ich bin völlig durchgefroren, Doris. Ich habe zwar oben die Heizung angestellt, aber es ist besser, wenn du dem Kind eine Wärmflasche ins Bett legst, sonst wird Tanja uns noch krank vor Weihnachten."
Großmutter nickte nur und streichelte weiter den Kopf ihrer Enkelin.
"Dein Anhänger wird schon auftauchen. Morgen bei Tageslicht suchen wir alle gemeinsam noch mal ganz gründlich. Hmmmh, was meinst du? Und jetzt, Kind, ist es am besten, wenn du schlafen gehst. Es ist eh schon spät geworden."
Tanja drückte Omas Hand gegen ihr heißes Gesicht und nickte nur. Vielleicht hatte Großmutter ja recht und der Anhänger würde sich morgen finden.
"Na, siehst du, und morgen abend feiern wir zusammen Weihnachten und dann wirst du all das vergessen haben", sagte Opa und war wie immer die Ruhe selbst. Tanja konnte schon wieder ein wenig lächeln, streckte den Arm aus und griff nach der Hand ihres Großvaters.
"Karl, ich kümmere mich mal um die Wärmflasche", sagte Großmutter, stand auf und ging in die Küche.
"Oma, gibst du mir noch einen Gute-Nacht-Kuß?" Tanja lag schon im Bett und schob mit den Füßen die glühendheiße Wärmflasche beiseite. Großmutter hatte ihr noch eine zusätzliche Wolldecke ins Bett gelegt.
"Natürlich, mein Schatz", lächelte Großmutter und beugte sich zu ihrer Enkelin hinab.
"Schau mal, ich habe dir das Karussell auf den Schreibtisch gestellt", sagte Opa vom Fenster her, "und wenn du dann morgen deinen Anhänger gefunden hast, kannst du ihn gleich hier dranhängen."
"Ja, aber, was ist, wenn....." fing Tanja wieder an.
"Wenn? wenn es so spät ist wie jetzt, sollten junge Mädchen eigentlich längst schlafen", brummte Opa und drückte seiner Enkelin einen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn.
"Und jetzt schlaf gut, mein Engel."
"Nacht, Oma, Nacht, Opa", sagte Tanja noch, dann löschte Großmutter das Licht und die beiden gingen leise zur Tür hinaus.
Tanja lag noch wach und starrte mit verweinten Augen in die Dunkelheit des Zimmers. Was, wenn der goldene Anhänger sich nicht mehr finden ließe? Tanja liefen die Tränen übers Gesicht und tropften auf das Kopfkissen. Der Anhänger war doch ihr Geschenk für Jonas gewesen, zusammen mit dem Karussell, das sie gemeinsam mit Opa in den letzten Wochen gebastelt hatte. Wochen, in denen sie ihrem kleinen Bruder den Mund wässrig geredet hatte, was er von ihr Tolles zu Weihnachten bekommen würde.
Jetzt war es zu spät für ein Ersatzgeschenk, außerdem waren ihre gesamten Ersparnisse für den Anhänger draufgegangen. Morgen war Heiligabend, bestimmt würde sie mit leeren Händen und einem unvollständigen Karussell dastehen. Eine Zeitlang lag Tanja noch grübelnd wach, bis die Müdigkeit sie schließlich übermannte.
Ein helles Klingen. Wie eben. An welcher Stelle in ihrem Traum war denn ein Klingen vorgekommen und warum? Unruhig drehte sich Tanja auf die andere Seite. Da war es wieder, ein feines, silbriges Klingen. Aber das Klimpern kam nicht aus ihrem Traum, sondern aus der Dunkelheit des Zimmers. Sie lauschte, dann tastete Tania nach der Nachttischlampe und schaltete sie ein. Blinzelnd sah das Mädchen sich um. Doch im Zimmer war nichts zu sehen. Da, wieder, ein leises, helles Klingen.
Tanja schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf und starrte in das Halbdunkel des Raumes. Wo kam das nur her? Vielleicht stand das Fenster offen und das Geräusch kam von draußen. Fröstelnd griff sie nach ihrem blauen Morgenmantel, warf ihn über, tapste zum Fenster und schob den Vorhang etwas zurück. Merkwürdig, das Fenster war fest verschlossen. Da hörte sie es wieder, ein leises, helles Sirren, diesmal ganz nah, direkt vor ihr. Aber da war doch nichts, nur der Schreibtisch mit der Leselampe, ein paar achtlos aufeinandergestapelten Büchern und dem Karussell, das Opa dorthin ..... Das Karussell drehte sich . Aber niemand drehte an der Kurbel.
Das konnte doch nicht sein. Tanja starrte auf das Karussell. Da hörte sie plötzlich ein leises Lachen.
"Guckt mal, unsere kleine Spielverderberin."
Himmel, wer sprach da? Die Nachttischlampe gab nicht viel Licht her, und Tanja ging noch näher an das kleine Holzkarussell, das sich wie von Geisterhand bewegt drehte.
"Ui, wie sie glubscht, bestimmt gäbe sie eine brauchbare Sucherin ab", rief eine der kleinen Holzfiguren. Holzfiguren? Tanja glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Auf den Reisigbesen saßen nicht mehr Opas Holzfiguren, sondern kleine Hexen aus Fleisch und Blut.
"Ja, Sucher vielleicht, klein und mager wie sie ist," rief eine der Hexen, scheinbar die Hüterin, denn sie trug über ihrem Umhang dicke Schutzkleidung.
"Na, als Jägerin taugt sie jedenfalls nicht", ließ sich eine andere vernehmen, "die sind nicht so verheult und unzuverlässig wie die da." Schlagartig fiel Taja ein, daß sie den goldenen Anhänger verloren hatte.
"Aber woher wißt ihr denn ... und wieso seid ihr lebendig...?"
"Was meinst du damit?" fragte eine der Hexen ärgerlich, "wie sind doch wie wir immer sind. Aber anstatt dumme Fragen zu stellen, solltest du lieber zusehen, daß wir unseren Schnatz zurückbekommen. Oder womit sollen wir sonst spielen? Vielleicht mit einer Motte, falls mal eine vorbeifliegt?"
"Ja, aber ich weiß doch nicht, wo die Kugel hin ist. Ich habe sie vor dem Abendessen dahingelegt, genau dahin!" jammerte Tanja und deutete auf die Stelle am Schreibtisch, wo sie vor dem Abendessen den Anhänger hingelegt hatte. Die Hexen reckten die Hälse und schauten in die Richtung, wo Tanja hindeutete.
"Also ich sehe da nichts von einem Schnatz", brummte eine rotblonde Hexe, offensichtlich eine Treiberin, denn sie hielt ein wuchtiges Schlagholz in der Hand.
"Herle, du hast doch scharfe Augen", rief eine von hinten, "kannst du vielleicht irgendwo den Schnatz sehen?"
Die zierliche kleine Hexe, die direkt hinter der Lücke kam, die der fehlende Schnatz am Karussell hinterlassen hatte, richtete sich auf ihrem Besen auf und spähte aufmerksam in die Runde. Mittlerweil war das Karussell stehengeblieben.
"Seid mal still, ich muß mich konzentrieren." Schlagartig verstummten die anderen Hexen mit ihrem Geschnatter und warteten ebenso gespannt wie Tanja, ob die Sucherin den Schnatz entdecken könnte.
Die kleine Hexe saß stocksteif auf ihrem Besen und starrte schließlich auf den Fenstervorhang. "Hey, da ist was", rief Herle plötzlich, "ich glaube, ich hab ihn!"
"Was, wo, wer hat hat ihn, wo ist er?" riefen die anderen Hexen aufgeregt durcheinander und fuchtelten mit ihren Ärmchen. Tanja schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte die kleine Sucherin durch den geschlossenen Fenstervorhang in der Ferne einen winzigen Anhänger erkennen?
"Och, der Toprax hat ihn, dieses Mistviech", empörte sich die Sucherin und stemmte die Arme in die Hüften.
"Der Toprax? Der Rabe der alten Trümpel? Das hätte man sich ja denken können", tönte eine der Hexen, " wenn einer wie ein Rabe klaut, dann ist es dieser Toprax. Angeblich hat die Alte ihn sogar zum Stehlen abgerichtet."
Tanja erinnerte sich daran, daß den ganzen Abend über das Fenster offengestanden hatte. Scheinbar, wenn sie die Hexen richtig verstand, hatte ein Rabe namens Toprax, oder wie auch immer, die Gunst der Stunde genutzt, ins Zimmer gehüpft und die Kristallkugel vom Schreibtisch stiebitzt.
"Na warte, du schwarzer Galgenvogel, dir rupfe ich die Federn einzeln aus, "schrie die eine Treiberin und fuchtelte bedenklich mit ihrem Prügel.
"Vorsicht, mit der alten Trümpel ist nicht gut Kirschen essen," wandte eine der Hexen ein, "vergeßt nicht, was sie damals mit dem Nachtelfen aus Sirnsland angestellt hat."
"Ach ja", schrie eine Hexe erbost von der anderen Seite des Karussells, "und du hast scheinbar vergessen, das wir wegen der alten Trümpel damals das Quidditchspiel gegen die Moorlandharpyien verloren haben."
"Genau", riefen die anderen im Chor, "das soll sie uns büßen, erst das Spiel vermasseln und jetzt klaut ihr blöder Rabe uns auch noch den Schnatz."
"Los, auf, die schnappen wir uns!"
"Na, was ist mir dir? Los, mach dich reisefertig, zieh dir warme Klamotten an!" rief eine Jägerin, "wir müssen bis Tagesanbruch zurücksein."
Tanja stand völlig verwirrt neben dem Karussell, das sich wieder langsam drehte und starrte auf kleinen Hexen, die wild gestikulierend auf ihren Besen hockten und bereits Schlachtpläne diskutierten. Das konnte doch alles nur ein Traum sein. Tanja kniff sich ins Ohrläppchen, bis es schmerzte, aber die Hexen wurden dadurch nicht weniger lebendig.
"Na los, Mädchen, jetzt trödele doch nicht so!"
Ja, es ist ganz bestimmt ein Traum, wenn auch ein sehr lebendiger, dachte sich Tanja. Aber da sie den goldenen Anhänger unbedingt wiederhaben wollte, tat sie, was die Hexen sie geheißen hatte. Tanja zog den Morgenmantel aus und streifte sich rasch den roten Trainingsanzug über ihren gelben Pyjama mit dem Bärchenmuster. Dann hastete sie zum Kleiderschrank, riß den Skianzug vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Fäustlinge, die roten Wollsocken, Omas selbstgestrickten Schal, die Wollmütze, die sie von Tante Louise zu Nikolaus bekommen hatte, die Winterstiefel... wo waren die Winterstiefel? Tanja wühlte im Halbdunkel des Schrankes. Sie hatte sie doch heute noch in der Stadt angehabt. Ach, natürlich.... Tanja bückte sich unters Bett und zog die Stiefel darunter hervor.
Als sie fertig angezogen war, überlegte Tanja kurz, öffnete leise die Zimmertür und lauschte hinab ins dunkle Treppenhaus. Nichts, im Haus war es still bis auf Opas Schnarchen aus dem Schlafzimmer.
"Bist du endlich fertig?" tönte eine helle Stimme vom Schreibtisch her.
Tanja trat unschlüssig vor das Karussell und wartete auf weitere Anweisungen der Hexen.
"Gut eingepackt bist du ja", sagte die Hüterin, wobei sie Tanja aufmerksam musterte. "Jetzt öffne das Fenster und schau, ob die Luft rein ist, schließlich dürfen wir ja nicht gesehen werden." Das Mädchen schob den Vorhang zurück und zog das Fenster ganz vorsichtig auf, um auch ja keinen Lärm im Haus zu veranstalten.
"Und, jemand zu sehen?" fragte eine der Hexen.
Die Kälte der Winternacht trieb Tanja Tränen in die Augen. Sie lehnte sich so weit wie sie konnte aus dem Fenster und sah hinaus in die Dunkelheit. Völlig still war es, an dem dunstigen Himmel konnte sie ein paar blinkende Sterne sehen. Tanja schaute links und rechts die Straße hinunter, doch um die Zeit war kein Mensch mehr unterwegs, nur schräg gegenüber neben dem kleinen Kiosk zog im Schein der Straßenlaterne eine Katze ihre Spuren in den dünnen Dezemberschnee.
"Niemand zu sehen, glaube ich", sagte Tanja zu den Hexen. Was würde nun geschehen? Wie in aller Welt sollte sie mit den kleinen Hexen zu dieser merkwürdigen Trümpel reisen?
"Gut", rief eine der Treiberinnen und deutete mit dem Schlagholz auf die Karussellkurbel, "dann los, Mädchen, bring uns in Schwung!"
Zögerlich griff Tanja nach der Kurbel und begann vorsichtig zu drehen. Was hatten die Hexen vor?
"Los, schneller, wir sind zu langsam, mehr Schwung", schrieen die Hexen, die bereits mit beiden Händen ihre Besen fest umklammert hielten. Tanja drehte kräftiger an der Kurbel und die Hexen flogen schneller und schneller um das Karussell herum, wobei sie sich begeistert johlend in die Kurve legten.
"Juhuuu, auf geht’s, auf zur Trümpel...", kreischten die Hexen, während das Karussell mehr und mehr an Fahrt aufnahm. Ein Brausen ertönte plötzlich in Tanjas Kopf, ihr Körper bebte und mit einem mal schien eine Riesenfaust das Mädchen mit einem Ruck zu packen, zerrte sie hoch und schleuderte sie zum Fenster hinaus. Das Mädchen schrie auf, schlug vor Entsetzen die Hände vors Gesicht und .... fand sich rittlings auf einem Besenstiel wieder, vor sich den sich bauschenden Umhang einer Hexe.
Aber das war keine Spielzeughexe mehr, sondern eine ausgewachsene junge Frau, unter deren spitzem Hexenhut langes, nußbraunes Haar hervorquoll und wie eine Fahne im Fahrtwind flatterte. Instinktiv krallte sich das Mädchen an der Hexe fest und blickte nach unten. Ihre Beine baumelten im Nichts, bestimmt waren es zwanzig Meter oder mehr, die sie schon über dem Boden waren.
Etwas stupste Tanja in die Rippen.
"Na, gefällt’s dir?" Die Stimme kam von links. Das Mädchen öffnete vorsichtig die Augen und schob den Mantelstoff vor ihrem Gesicht etwas beiseite. In Armlänge von ihr entfernt ritt eine zweite Hexe auf ihrem Besen. Das dicke Schlagholz in ihrer rechten Hand wies sie als eine der Treiberinnen aus. Lachend stocherte sie mit ihrem Holzprügel spielerisch nach dem Mädchen, das sich wieder ängstlich quickend in den Mantelstoff der Hexe vor ihr duckte.
"Brauchst keine Angst zu haben, Kleine, wir passen schon auf dich auf", rief die Treiberin in das Brausen des Fahrtwindes, "warte, ich setze dich mal richtig auf den Besen."
Tanja spürte die Hände der Hexe an ihren Füßen.
"So, die Knöchel fest überkreuzen und die Waden an den Besenstiel pressen. Halt dich einfach an Gwendy fest und schau nicht nach unten, wenn dir schlecht davon wird."
Die Hexe vor ihr lachte und schaute über die Schulter nach dem ängstlichen kleinen Rucksack, der an ihrem Rücken hing. Dann ließ sie den Besenstiel los, griff mit beiden Händen nach dem Mädchen und zog Tanjas Hände vor sich auf ihren Bauch.
"Klammere dich gut an mir fest, dann kann dir nichts passieren", rief die Quidditchjägerin, "hey, Willa, tu mal was für unseren Gast!"
Willa, so hieß die Treiberin offensichtlich, zückte ihren Zauberstab, richtete ihn auf Tanja und murmelte einen Spruch. Ein merkwürdiges Kribbeln lief Tanja vom Kopf über den Rücken zu den Beinen hinunter, dann spürte das Mädchen eine wohlige Wärme in sich aufsteigen und die panische Angst in ihr ließ nach.
"Besser so?" fragte Willa, gab Tanja noch einen Klaps auf die Schulter und lenkte dann ihren Besen zu den zwei Hexen, die unter ihnen aus dem Dunkel auftauchten.
Tanja schaute ihr kurz nach, dann lenkte sie vorsichtig den Blick hinunter in die Tiefe. Lichter waren dort unten zu erkennen. Der Turm einer kleinen Spielzeugkirche, von Scheinwerfern hell erleuchtet, strahlte unter ihnen wie eine Kerze in der Dunkelheit. Tanja erkannte ihn sofort an seinem durchbrochenen Turmdach. Das war St. Michael, die Kirche, wo ihre Cousine dieses Jahr ihre Konfirmation gehabt hatte, demnach mußten sie gerade in nordöstliche Richtung fliegen.
Irgendwo da unten wohnte Tante Iris, Papas Schwester. Tanja kniff angestrengt die Augen zusammen, konnte aber außer grauschwarzen Dächern nur den festlich beleuchteten Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz erkennen.
Tanja nahm ihren ganzen Mut zusammen und zupfte der Hexe am Ärmel.
"Wo fliegen wir denn hin?"
"Ins Graumoor, zum Turm der alten Trümpel", antwortete Gwendy, die Jägerin.
"Aber wie könnt ihr denn überhaupt irgendwas erkennen in der Dunkelheit?" fragte Tanja besorgt.
"Oh, keine Sorge, Herle sieht mehr als wir alle zusammen?"
"Herle? Ist das eure Sucherin?"
"Genau, die sieht einen Schnatz noch auf 30 Meilen Entfernung im Bauch eines Walfischs."
Tanja dachte nach. Harry Potter würde das bestimmt nicht schaffen, und Krum auch nicht, dabei waren sie bestimmt die besten Sucher der Zaubererwelt. Ob die Jägerin bloß mit der Sucherin ihres Teams angeben wollte? Aber Herle hatte doch von Omas Gästezimmer aus in der Dunkelheit den Schnatz entdeckt. Waren das ganz andere, ganz besondere Hexen?
Tanja schloß ihre Arme wieder fest um die Taille der jungen Hexe, kuschelte den Kopf in den schwarzen Hexenumhang und dachte nach.
’Bestimmt ist es alles nur ein merkwürdiger Traum, in Wirklichkeit umarme ich im Schlaf das Kopfkissen und habe meinen Kopf unter der Bettdecke.’
Aber alles wirkte so echt. Die junge Frau vor ihr schien tatsächlich aus Fleisch und Blut zu sein, der schneidend kalte Fahrtwind, der ihr das Gesicht rötete, auch wenn der Zauberspruch der Treiberin sie ordentlich warmhielt.... Tanja rutschte auf dem Besenstiel in eine etwas bequemere Position. Hmmh, wie auf der großen Radtour mit den Pfadfindern in den Sommerferien, da hatte nach einiger Zeit der Hintern genauso geschmerzt.
Das sanfte Ruckeln des Besens, das monotone Pfeifen des Fahrtwindes machten Tanja schläfrig. Ohnehin war das keine Zeit, wo ein zehnjähriges Mädchen noch wach sein sollte. Immer wieder döste sie ein, nur ab und zu wurde sie hellwach, wenn eine der Hexen neben Gwendy herflog und ihr was zurief.
Ein heftiges Ruckeln ließ Tanja aufschrecken, zumal ein flaues Gefühl sich in ihrer Magengegend ausbreitete.
"Was ist denn los, warum ruckelt der Besen so?" rief sie besorgt der Jägerin vor ihr ins Ohr und sah ängstlich nach unten, ob irgend etwas Schlimmes um sie herum passierte oder sie gar abstürzten.
"Nichts ist los", antwortete Gwendy, "wir sind gleich da und ich bremse den Besen ab, das ist alles."
Tatsächlich, unter sich konnte Tanja deutlich eine ausgedehnte Waldlandschaft erkennen. Feiner Schnee glitzerte auf den Ästen und größere Wiesenstücke lagen wie bleiche Bettlaken zwischen den grauschwarzen Bäumen.
Tanja hörte mehrere Stimmen hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich um und sah noch, wie drei der Hexen in steilem Sinkflug zwischen den Bäumen verschwanden. Wo sich die übrigen drei befanden, konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen.
Gwendy rüttelte an Tanjas Hand, dann zeigte sie nach vorne.
"Da, schau, wir sind da."
Tanja beugte sich nach links und lugte an der Jägerin vorbei in die Nacht. Ein paar hundert Meter vor ihnen erhob sich mitten aus den Bäumen die Dachsilhouette eines krummen, windschiefen Turms. Wie Falkenaugen leuchteten darin zwei Fenster in fahlem Gelb. Hier also hauste die alte Trümpel.
"Halt dich fest, Kleine", rief Gwendy, legte sich scharf in die Kurve und lenkte ihren Besen zwischen die Bäume. Eine kleine Waldlichtung tat sich auf, wo Nebeldunst über die löchrigen Schneeflächen zog. Ein paar mannshohe Büsche standen am Rand der Lichtung, und davor sechs graue Schatten – die Quidditchhexen.
Langsam schwebte der Besen der Jägerin auf die kleine Gruppe zu, dann hielt Gwendy den Besen an.
Leiser Applaus und mehrstimmiges Lachen empfingen Tanja.
"Na, die Reise gut überstanden?" fragten die jungen Hexen und halfen dem Mädchen vom Besen. Tanja tat ein paar unsichere Schritte. Ah, endlich wieder festen Boden unter den Füßen.
"Klar, kein Problem", log Tanja. Wie ihr der Hintern weh tat, und ihre Beine waren ganz steif. Sie biß die Zähne zusammen, schließlich wollte sie vor den Hexen nicht als Jammertrine dastehen. "Und was machen wir jetzt?"
"Jetzt? Jetzt holen wir uns unseren Schnatz zurück" sagte die zweite Treiberin, deren Name Tanja aber nicht kannte, und patschte angriffslustig das Schlagholz in ihre Handfläche.
"Langsam, langsam, ja? Die alte Trümpel hat ein paar gute Zaubersprüche drauf." Die Hüterin schien die Bedächtigste der Gruppe zu sein.
"Wir brauchen einen Plan", fuhr sie fort, "für einen längeren Streit haben wir keine Zeit, schließlich muß unsere kleine Muggel spätestens bei Morgengrauen wieder in ihrem Bett liegen."
Tanja hätte nichts dagegen gehabt, jetzt schon in ihrem Bett zu liegen, so müde war sie, aber sie sagte nichts.
"Zuerst müssen wir wissen, wo genau der Schnatz jetzt ist", redete die Hüterin weiter, "Herle, dein Part." Die Sucherin nickte nur kurz, schwang sich auf ihren Besen und sauste davon. Tanja konnte von der Lichtung gut erkennen, wie die Hexe den Turm umkreiste und mal in die dunklen und mal in die beleuchteten Fenster spähte.
"Es muß schnell gehen, wir schnappen uns den Schnatz und dann nichts weg."
"Ach, und die olle Trümpel, Gwendy?", murrte die Treiberin enttäuscht, "ich dachte, wir wollten der alten Schachtel eine kleine Lektion erteilen, und ihrem mistigen Rabenviech auch."
"Das können wir immer noch machen, Billa, die Trümpel läuft uns nicht weg. Aber unsere Kleine hier geht jetzt vor." Gwendy war neben Tanja getreten und hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt.
"Bist ja ganz schön tapfer für dein Alter", lächelte die Jägerin und drückte das Mädchen anerkennend an sich. "Vielleicht hast du ja Hexenblut in dir." Tanja wußte nicht, ob sie das Lob jetzt stolz oder ängstlich machen sollte. Wenn das nun doch alles wirklich war? Vielleicht war sie gar kein normales Mädchen, sondern war ihren Eltern vor zehn Jahren vor die Haustür gelegt worden und jetzt sollte sie wieder in ihre ursprüngliche Zaubererwelt zurückkehren. Mama und Papa sollten ..... Dursleys sein? Niemals. Tanja sagte nichts und musterte der Reihe nach die jungen Hexen. Sie hatten gar nichts Bedrohliches an sich. Im Gegenteil, sie wirkten ganz normal, falls man bei Hexen überhaupt von Normalität reden konnte. Wenn die Umhänge, die Spitzhüte und die Besen nicht wären, könnten sie genausogut als Gruppenleiterinnen in Tanjas Pfadfinderverein durchgehen.
Tanja wurde aus ihren Grübeleien gerissen, als Herle fast geräuschlos neben ihnen landete.
"Und? Wie sieht es aus?"
"Tsss, stellt euch vor, die alte Trümpel hat ihn ihrem Wohnzimmer ein kleines Weihnachtsbäumchen aufgestellt. Über und über dekoriert. Und wißt ihr, mit was?" fragte Herle.
"Mit unserem Schnatz!" riefen die anderen Hexen im Chor.
"Genau, mir unserem Schnatz und jede Menge anderem Glitzerzeug, das dieser blöde Rabenvogel in der ganzen Gegend zusammengeklaut hat."
"Na, warum klauen wir uns dann nicht den ganzen Baum?" brummte Billa, die ihr Schlagholz wie eine Keule auf die Schulter gelegt hatte. "Dann haben wir nicht nur unseren Schnatz zurück, sondern gleichzeitig der doofen Trümpel auch noch das Weihnachtsfest vermiest."
Einige der Hexen nickten zustimmend, doch es war wieder die Hüterin, die zur Vernunft mahnte.
"Ihr kennt doch die alte Sumpfkröte. Meint ihr, wir können einfach so in ihr Wohnzimmer latschen, das Bäumchen schnappen und wieder verschwinden? Nee, ich sag euch, die Alte wird ihre Bruchbude schon mit einigen Schutzzaubern belegt haben."
Diesmal nickten die Hexen der Hüterin zu, nur Billa, die sich um ihre Gelegenheit zur Rache betrogen sah, kratzte sich mißmutig mit dem Schlagholz am Kinn.
"Jetzt komm, Billa", ließ sich ihre Treiberkollegin vernehmen und knuffte sie mit ihrem Schlagholz " aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wir werden der alten Sabberhexe ein anderes Mal einen Streich spielen." Billa gab sich schließlich geschlagen.
"Na schön, und was schlagt ihr vor?"
"Wir müssen die Trümpel aus ihrem Bau locken und sie eine Weile beschäftigen, während sich eine von uns ins Wohnzimmer schleicht und sich den Schnatz vom Baum pflückt."
"Und wie soll das funktionieren?"
"Kurz und schmerzlos. Es ist Winter, da wäre ein kleines Feuerchen genau das Richtige bei der Kälte," schlug Willa vor.
"Was, ihr wollt der alten Frau den Turm anzünden? Aber das könnt ihr doch nicht machen!" rief Tanja. Sie hatte bisher schweigend den Reden der erwachsenen Hexen zugehört, aber das ging nun doch zu weit. Sie sah entsetzt von einer zu anderen.
"Huuuh, böse Hexen, böse Hexen...", taten die Frauen entsetzt, formten die Finger zu Krallen und grapschten spielerisch nach dem Mädchen.
"Hört, hört, unser kleiner Friedensengel", lachte Willa, "natürlich nicht im Ernst. Außerdem würde die alte Trümpel auch mit einem Feuer in ihrem Haus ganz gut alleine fertig werden. Nein, Kind, sei ganz beruhigt, wir haben da harmlosere Methoden. Harmlos, aber wirksam."
"Also, wer geht ins Haus?" fragte Herle, die kleine Sucherin.
"Das mache ich am besten," meldete sich Gwendy, "mit Schutzzaubern kenne ich mich besser aus als ihr alle. Haltet ihr mir bloß für zehn Minuten die alte Sabberhexe vom Leib."
"Und ich? Was mache ich?" Tanja gewann allmählich Spaß an der Sache. Außerdem wollte sie nicht alleine auf dieser dunklen Lichtung stehen, während die Quidditchhexen sich mit der alten Trümpel herumbalgten. Wer weiß, was in diesen Wäldern alles herumkroch. Tanja mußte schaudernd an Aragog denken. Gwendy schien irgendwie gerade die gleichen Gedanken gehabt zu haben.
"Tja, was machen wir mit dir? Hierlassen können wir dich nicht. Das Moor ist nicht ganz ungefährlich und außerdem müssen wir sofort verduften, sobald wir den Schnatz haben. Sonst bekommen wir noch Ärger mit deinen Eltern, nicht wahr?" Die Jägerin knuffte Tanja, musterte sie kurz und sagte schließlich:
"Wißt ihr was, das Mädchen kommt mit mir."
"Wird sie dir nicht im Weg sein?" gab die Hüterin zu bedenken.
"Natürlich nicht", protestierte Tanja an Gwendys Stelle, "vielleicht kann ich mich sogar nützlich machen."
"So ist’s recht", brummte Billa, "Mut und ein solides Schlagholz in der Hand, und die Welt liegt dir zu Füssen."
Die anderen Hexen lachten, schwangen sich auf die Besen und flogen in Richtung Turm. Nur Gwendy blieb zurück.
"Du, die tun der alten Trümpel aber nicht wirklich was Böses?" vergewisserte sich Tanja nochmals besorgt.
"Nein, du kannst dich darauf verlassen, wir wissen doch, was sich gehört und wie weit wir gehen dürfen. Ein bißchen Rauch, Stinkbomben und Feuerwerk, mehr nicht. Und glaub mir, die Trümpel ist anderes gewohnt und wird mit unseren kleinen Streichen ganz gut fertig. Wir wollen die Alte ja nur ärgern, so wie sie uns geärgert hat. Sobald wir den Schnatz zurückhaben, sind wie quitt. Und jetzt komm, wir müssen uns beeilen."
Diesmal flogen sie nicht, sondern huschten zu Fuß nahezu lautlos durch die Dunkelheit bis zu der Eingangstür des Turms.
"Hier, halt mal den Besen", flüsterte die Jägerin. Dann schwang sie ihren Zauberstab.
"Alohomora!"
Es gab einen Knack und die Tür sprang einen Spalt weit auf. Dann schob sie das Mädchen in durch die Tür.
"Wir müssen hier warten, bis es oben losgeht," flüsterte Gwendy.
Kaum hatte sie das gesagt, polterte und knallte es gewaltig in den oberen Stockwerken, dann hörte man ein lautes Gekreische. "Na wartet, ihr Spitzbuben, euch werd’ ich helfen!"
"Los, jetzt ist sie beschäftigt" sagte Gwendy und die beiden hasteten die enge Wendeltreppe hoch. Herle hatte die Zimmer des Turms gründlich ausspioniert und sie ordentlich mit Informationen versorgt, und bald schon standen sie im Wohnzimmer der alten Moorhexe.
Tanja sah sich um. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Keine Gerippe, keine ausgestopften Katzen oder ähnlich Gruseliges. Es könnte fast das Wohnzimmer einer schrulligen alten Dame aus der Nachbarschaft von Oma und Opa sein.
Nur in der Mitte des Zimmers stand der merkwürdigste Weihnachtsbaum, den Tanja je gesehen hatte. Ein grünes Bäumchen, über und über behängt mit Uhren, Armbändern, Silberkettchen und allem möglichem Schmuck, daß es nur so glitzerte und gleißte. Und ganz oben an der Spitze – hing Tanjas goldener Anhänger.
"Den hol ich mir", schrie das Mädchen und rannte auf den Baum zu.
"Vorsicht!" rief Gwendy, doch es war zu spät. Mit einem Mal wuchsen dem Weihnachtsbäumchen Füße und an den Ästen kleine Fäuste. Und schon rannte der Baum auf Tanja zu und versuchte die vermeintliche Diebin zu Boden zu schlagen. Aber Tanja duckte sich geschickt und kurvte um den Baum herum.
"Los, ich lenk ihn ab," schrie Tanja.
Das Weihnachtsbäumchen der alten Trümpel schien über einige Intelligenz zu verfügen. Scheinbar ahnte es, daß die junge Hexe die gefährlichere Gegnerin war. Statt dem Mädchen nachzusetzen, ging es jetzt auf die Jägerin los.
"Stupor!" schrie sie, doch außer einem hübschen roten Funkenregen hatte der Schockzauber keine weiteren Auswirkungen. Das Bäumchen sauste flink durch das Turmzimmer und jagte mit fuchtelnden Zweigen Gwendy vor sich her.
Die Hexe flüchtete sich hinter einen der großen Lehnsessel, drehte sich blitzschnell um und richtete den Zauberstab auf den Baum.
"Accio Schnatz" rief sie, doch auch der Zauber hatte nicht den geringsten Effekt. Hatte die alte Trümpel etwa den ganzen Turm mit antimagischen Schutzzaubern belegt?
Gwendy blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn den kurzen Moment, den sie für den nutzlosen Aufrufezauber vertan hatte, nutzte der Baum seinerseits für einen Angriff aus. Er rannte auf seinen kurzen Beinchen um den Lehnsessel herum und verpaßte der dahinter kauernden jungen Hexe einen gewaltigen Schlag genau aufs linke Auge.
Die Hexe schrie auf, preßte sich die Hand auf das Gesicht und stolperte rückwärts. Peng, bekam sie schon den nächsten Schlag ab, diesmal gegen die Schulter.
Tanja sah aus einer Zimmerecke fassungslos dem Kampf zu. Das durfte doch nicht wahr sein. Eine ausgewachsene Hexe, die von einem Weihnachtsbaum vermöbelt wurde? Warum bloß wirkten hier die Zauber nicht? Fieberhaft raste sie in Gedanken durch die Harry-Potter-Bände. Nein, ein als Weihnachtsbaum verkleideter Preisboxer war darin nicht vorgekommen und die Zauber hatten auch immer funktioniert.
Gwendy hatte sich mittlerweile vor den Attacken des wildgewordenen Bäumchens etwas befreien können, aber zu dem Preis des bisher ungewohnten Gefühls, als Jägerin nun selber gehetzt zu werden.
"Wir müssen abhauen, gleich wird bestimmt die Trümpel hier auftauchen", schrie sie dem Mädchen zu.
"Aber was wird aus dem Schnatz?" rief Tanja durch das Tohuwabohu.
"Egal, der bleibt eben hier", antwortete Gwendy keuchend, wobei sie pausenlos irgendwelche Flüche gegen den Baum abfeuerte, "ich kann nichts machen, du siehst doch, meine Zauber prallen völlig nutzlos an der Rinde des Baums ab."
Rinde, abprallen.... irgendwo in Tanjas Kopf klingelte es. Da war doch was! Natürlich, Harrys Kampf gegen den Drachen beim Trimagischen Turnier.
"Gwendy, wir müssen hier raus, schnell", brüllte Tanja und schnappte sich den Besen der Jägerin, der vor der Tür auf dem Boden lag.
"Natürlich müssen wir das", rief die Hexe, die sich den Baum auf ganz unmagische Weise mit einem Stuhl in der Hand vom Leibe hielt, "versuch das Fenster zu öffnen, während ich den Baum ablenke, dann hauen wir mit dem Besen ab."
"Nein, nicht durchs Fenster, wir müssen über die Treppe zurück", schrie Tanja und öffnete die Wohnzimmertür mit einem kräftigen Tritt.
"Was, bist du verrückt? Das Biest wird uns die Treppe hinunter folgen", kreischte Gwendy, deren linkes Auge mittlerweile schon ein hübsches Violett angenommen hatte.
"Genau das soll er ja auch, los, komm, Gwendy!"
Tanja lief, den Flugbesen fest gepackt, in weiten Sprüngen die Treppe hinunter, riß unten die Haustür weit auf und hielt den Besen parat. Mit lautem Poltern kam auch schon Gwendy angespurtet, die dabei wohl fünf Treppenstufen auf einmal nahm.
"Hier, nimm den Besen und lauf ein Stück in Richtung Wald", rief Tanja und warf der Jägerin den Besen zu. Hoffentlich würde der Baum auf den Trick hereinfallen. Kaum war Gwendy durch die Eingangstür, kam auch schon der Weihnachtsbaum herausgeschossen und rannte fuchtelnd und klimpernd hinter der Hexe her. Darauf hatte Tanja gewartet. Sie knallte die Eingangstür zu, legte die Hände zu einem Trichter zusammen und brüllte der Hexe hinterher
"Jetzt auf den Besen und hoch."
Die Jägerin schwang sich im vollen Lauf auf ihren Flugbesen und schoß augenblicklich hoch in den Himmel. Gleich darauf raste sie wieder Richtung Boden, denn hinten an der Eingangstür zum Turm stand das Mädchen und fuchtelte wild mit den Armen. Der Weihnachtsbaum, wohl wütend darüber, daß ihm die Hexe entwischt war, wandte sich nun Tanja zu.
"Los, mach schon", schrie sie und hoffte inständig, daß Gwendy schneller bei der Tür war als der Baum. Da hatte sie die Hexe jedoch unterschätzt, denn die war auf ihrem Besen dem Weihnachtsbaum natürlich weit überlegen. Blitzschnell war die Jägerin über dem Mädchen, bremste abrupt den Besen ab und riß Tanja zu sich hoch.
"Puh, das war knapp, und jetzt nichts wie weg", sagte Gwendy und schaute Tanja säuerlich lächelnd aus ihrem verbliebenen offenen Auge an. Das andere Auge war mittlerweile zu einem stattlichen Veilchen angeschwollen.
"Moment, nicht so voreilig", grinste Tanja und deutete nach unten. "Wir haben noch was vergessen."
Die Jägerin schaute nach unten, wo der Weihnachtsbaum der alten Trümpel wütend gegen die Tür hämmernd vor dem Turm stand, weil Tanja die Turmtür zugeworfen hatte. Dann endlich ging der Hexe ein Licht auf.
"Natürlich, die Tür.... du bist ja wirklich ein schlaues Mädchen", nickte sie anerkennend und drückte den Besen nach unten. Genau über dem Baum hielt sie an und knuffte Tanja in die Rippen. "Und jetzt, hol dir den Schnatz!"
Tanja hielt sich mit der Linken am Besenstiel fest, dann beugte sie nach unten. Das Bäumchen schlug mit seinen Ästen wütend nach Tanja, konnte das Mädchen mit seinen kurzen oberen Zweigen aber nicht erreichen. Seelenruhig griff Tanja sich den Schnatz und pflückte ihn wie eine kleine goldene Frucht von der Spitze des Weihnachtsbaumes.
"Ich hab ihn, ich hab ihn, hundertfünfzig Punkte für Tanja", brüllte sie begeistert und reckte stolz die Faust mit dem Schnatz darin in die Luft.
"Gewonnen, Siiiieg, Siiieg!" schrie jetzt auch die Jägerin, riß den Besen in einer scharfen Kurve herum und lenkte ihn Richtung Wald zu der Stelle, die die Hexen zuvor als Treffpunkt vereinbart hatten.
"Endlich haben wir ihn wieder!" Herle strahlte das Mädchen an und gab ihr den Schnatz zurück. "Aber jetzt nimm du ihn, du bist heute die Sucherin des Teams, schließlich hast du den Sieg für uns geholt"
"Und unsere Niederlage von damals ist gerächt." Billa schien zum ersten Mal in dieser Nacht rundum zufrieden zu sein. Gwendy hatte bereits mehrmals ausführlich Bericht erstatten müssen, wie die beiden dank Tanjas tatkräftiger Unterstützung schließlich doch noch den Schnatz hatten zurückerobern können.
"Bei uns war es weniger aufregend", brummte Willa etwas neidisch, "wir haben der alten Trümpel ein paar Stink- und Rauchbomben ins Schafzimmer geworfen und uns von ihr anschließend zum Schein kreuz und quer durchs Graumoor hetzen lassen, ohne sie auch nur einen Augenblick nahe genug herankommen zu lassen, daß sie uns mit einem Fluch hätte gefährlichen werden können."
"Aber jetzt nichts wie zurück, sonst kommt unsere kleine Sucherin ja nie ins Bett."
Auf dem Rückweg saß Tanja diesmal vor der Jägerin und durfte als Belohnung für ihre Tapferkeit eine Zeitlang mit Gwendys Hilfe den Besen steuern. Doch irgendwann lehnte sie sich zurück, zog den weiten Umhang der Hexe ein Stück ins Gesicht und döste in ihren Armen ein.
"He, Kleine, wir sind gleich da. Und gerade rechtzeitig obendrein." Gwendy deutete Richtung Osten, wo am Horizont eine feine helle Linie am Nachthimmel den Sonnenaufgang ankündigte. Tanja blinzelte und gähnte. Links neben ihr ritten die beiden Treiberinnen auf ihren Besen durch die Luft und fochten mit ihren Schlaghölzern gerade ein Schwertduell aus.
"Hey, da ist euer Haus", kam es von rechts. Herle deutete auf die Lichtpunkte vor ihnen.
"Wer zuerst dort ist, hat gewonnen", schrie Billa und stob auf ihrem Besen davon, die anderen Hexen hinterher. Die Lichtpunkte kamen näher, bald erkannte Tanja schon die hell erleuchtete Kirche ihres Wohnortes unten in der Dunkelheit. Dann schossen sieben Hexen gleichzeitig auf das Fenster im Obergeschoß eines der Häuser zu.
Tanja war plötzlich hellwach. Himmel, das würde ein Unglück geben. Keine der Hexen bremste ihren Besen ab.
"Gwendy, halt an, stop, stop!" Doch die Jägerin lachte nur wild und trieb ihren Besen sogar noch an, um die Erste zu sein. Tanja klammerte sich mit beiden Händen am Besen fest. Das wird böse enden. Tanja sah sich im Pulk von sieben Hexen auf das Fenster ihres Zimmers zurasen. Sie schrie auf und .... fand sich unversehrt auf dem Boden ihres Zimmers wieder.
"Gwendy? Herle? Alles klar?" Doch niemand antwortete. Verwundert sah Tanja sich um. Sie war allein, die Hexen waren verschwunden. Das Mädchen stand vom Boden auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Fenster stand offen, nur der Vorhang wehte leicht im Nachtwind. Tanja ging sie zum Fenster, verriegelte es und zog den Vorhang zu. Dann fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Schnell knipste sie die Schreibtischlampe an. Opas Karussell. Sieben kleine Holzhexen saßen unbeweglich auf ihren Besen. Tanja ging ganz nahe mit dem Gesicht.
"Billa? Herle? Willa?" Nichts, keine Antwort, stumm saßen die kleinen Hexen auf ihren Besen.
Nachdenklich stand Tanja vor dem Schreibtisch und starrte auf das Karussell. Es dauerte eine Weile, bis sie den Gegenstand in ihrer Hand bemerkte. Das Mädchen öffnete die rechte Hand und sah darin im fahlen Schein der Schreibtischlampe den Anhänger blinken. Tanja betrachtete ihn eine Weile, dann legte sie ihn auf den Nachttisch und begann, die dicken Wintersachen auszuziehen.
Sie fröstelte, als sie die ausgekühlte Matratze durch ihren Pyjama spürte. Tanja war todmüde. Sie griff nach dem Anhänger auf dem Nachttisch und nahm ihn in die Hand. Dieses mal würde sie auf ihn aufpassen. Sie zog die Decke bis unters Kinn und dachte nach. Das Mädchen merkte nicht mehr, wie ihr im Schlaf der goldene Anhänger aus der Hand glitt und zu Boden fiel.
"Tanja, aufstehen!" Omas Stimme kam von ganz weither. Tanja drehte sich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf.
"He, du faule Trine, du wolltest doch mit Opa zusammen den Baum schmücken."
"Was?" Tanja hörte, wie Oma geschäftig im Zimmer herumlief.
"Komm jetzt, steh auf, draußen ist es schon ganz hell. Opa wartet unten mit dem Frühstück auf dich. Hier, du hast gestern abend deine Pantoffeln im Wohnzimmer vergessen," sagte Oma, "ich stelle sie dir vors Bett."
"Jesses!"
Tanja zuckte zusammen.
"Tanja, Tanja, schau doch mal, hier liegt ja dein Anhänger," rief Oma.
Der Anhänger? Schlagartig war das Mädchen hellwach. Natürlich, der Schnatz. Gwendy, die alte Trümpel, der boxende Weihnachtsbaum.....
"Karl! Karl, komm doch mal!" Oma stand in der Tür und rief nach unten.
"Oma, Oma, ich muß dir was erzählen", sprudelte es aus Tanja heraus, "weißt du, wo ich heute nacht war?"
"Na, ich will doch hoffen, in deinem Bett", lachte Oma und setzte sich zu ihrer Enkelin auf den Bettrand.
"Aber nein, stell dir vor, Oma, ich war heute nacht im Grau...."
"Ja, was sehe ich denn da? Die kleine Trine liegt noch im Bett? Und den Baum muß ich wohl selber schmücken." Opa beugte sich zu seiner Enkelin hinab und gab ihr einen herzhaften Schmatz auf die Stirn.
"Guten Morgen, mein Goldengel. Hast wohl vor Aufregung nicht schlafen können und die halbe Nacht wachgelegen? Aber Bescherung ist trotzdem erst um 18 Uhr, auch wenn du es nicht mehr abwarten kannst", brummte Opa gutmütig.
"Opa, ich...", Tanja wußte nicht so recht, wie sie anfangen sollte.
"Stell dir vor, Karl", fiel ihr Oma ins Wort, "eben komme ich ins Gästezimmer und stelle Tanja die Pantoffeln vors Bett. Und was finde ich da? Den Anhänger."
"Was? Das ist ja großartig!" rief Großvater erfreut, "und gestern haben wir wie verrückt danach gesucht."
"Ich nehme an", sagte Oma, " daß die Katze damit gespielt und das Ding dabei unters Bett geschoben hat."
Ob sie doch nur alles geträumt hatte? Tanja wußte nicht, was sie davon halten sollte. Zu unwahrscheinlich waren die Erlebnisse der vergangenen Nacht.
"So, dann kann Jonas’ Karussell ja doch noch fristgerecht zu Heilig Abend fertiggestellt werden", verkündete Opa gutgelaunt. "Hier, Tanja, häng deine Kristallkugel an dem Karussell auf."
Tanja ergriff Großmutters Hand. "Oma, ich ...."
"Na los, jetzt steh auf und hilf Opa, damit wir heute an Heilig Abend alle gemeinsam rechtzeitig fertig werden." Großmutter drückte die Hand ihrer Enkelin, dann stand sie auf, raffte noch ein paar Kleidungsstücke für die Wäsche zusammen und ging nach unten.
Seufzend schälte sich Tanja aus den warmen Decken, hockte noch eine Weile halb schläfrig, halb nachdenklich auf dem Bettrand, dann schlüpfte sie in die Pantoffeln, griff nach dem Morgenmantel und schlurfte zum Schreibtisch, wo Großvater gerade mal wieder am Antrieb des Karussells herumbosselte.
"Ja, was ist denn das?" entfuhr es ihm plötzlich. "Die eine Figur hat ja ein ganz verschmiertes Gesicht." Großvater brummte ärgerlich. Das ihm das gestern abend nicht aufgefallen war.
"Wo, Opa?" fragte Tanja und musterte ebenfalls die kleinen Holzhexen. Tatsächlich, eine der Hexen hat einen großen blauen Fleck unter dem linken Auge.
"Ach, so was ärgerliches, jetzt kann ich die Figur wieder ausbauen und nacharbeiten, wo heute morgen doch eh noch so viel zu tun ist." Großvater war in dem Punkt sehr empfindlich, denn er fühlte sich in seiner Handwerkerehre gekränkt.
"Nein, Opa, laß die Figur doch so wie sie ist." Tanja lächelte und hing behutsam den goldenen Anhänger in die freie Öse am Dach des Karussells.
"Aber Kind, das geht doch nicht, wie schaut denn das aus? Man meint ja fast, daß die kleine Hexe ein blaues Auge hätte" brummelte Großvater.
Tanja betrachtete die kleine Kristallkugel, die im Morgenlicht glitzerte und glänzte. Dann griff sie nach der Kurbel und drehte sie langsam herum. Eine Hexe nach der anderen glitt auf ihrem Besen an Tanja vorbei. Das Mädchen lächelte zufrieden.
"Sind sie nicht wunderschön, Opa?"
"Ja, schon, aber die eine mit dem blauen...."
Tanja legte den Arm um ihren Großvater und schmiegte den Kopf an seine Schulter.
"Weißt du, Opa, wenn die kleine Hexe ein blaues Auge hat, gefällt sie mit eigentlich noch viel besser."
Text: Detritus
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