Adventskalender

6. Dezember

Lauter Überraschungen

Liebe Hasel,

ich bin gut in Uagadou angekommen, wie du ja weißt, denn meine letzte Eule müsste inzwischen bei dir sein. Der Brief endete mit der Schilderung der Mondberge und wie ich mit offenem Mund das Schulgebäude anstarrte, das auf Wolken zu schweben schien, aber natürlich Teil des sehr soliden Berges war. "Bereit?", fragte mich meine Begleiterin Lamia, die mich auf Gleis 7 1/2 in King’s Cross erwartet hatte und die du ja aus meinen Briefen schon kennst. Ich nickte beklommen und aufgeregt zugleich. Sie nahm meine Hand und hast-du-nicht-gesehen waren wir mitten in einen der Innenhöfe der Schule appariert.

Alle Gedanken, die ich mir über meinen Empfang gemacht hatte, wurden aus meinem Kopf gewischt, als großer Jubel ausbrach und ich mich von hunderten, wenn nicht tausenden, Schülerinnen und Schülern umringt sah, die mir alle zuwinkten. Das erste, was mir auffiel, war, dass sie keine Schuluniformen trugen, sondern ganz verschieden gekleidet waren und vor allem bunt. Anscheinend trugen sie alle ihre Landestrachten und da Uagadou Schülerinnen und Schüler aus ganz Afrika aufnimmt, kannst du dir vorstellen, wie herrlich das aussah. Der Schulleiter sprach ein paar sehr freundliche Begrüßungsworte und gab der Hoffnung Ausdruck, dass ich mich hier sehr wohlfühlen würde.

Dann traten zwei Mädchen auf mich zu, die sich als Imani und Inaya vorstellten und mich in ihre Mitte nahmen. Sie sollten meine Paten sein und mir alles zeigen und erklären. Sie gefielen mir auf Anhieb :-). Gemeinsam verließen wir den Innenhof und gingen durch eins der zahlreichen Tore in das Schulgebäude, wobei ich am liebsten alle fünf Zentimeter stehengeblieben und einfach nur geguckt hätte. Die Wände waren mit kostbaren Teppichen bedeckt, auf denen, wie mir schien, die Landschaften aus ganz Afrika zu sehen waren und die waren bevölkert mit Tieren aller Art, die uns neugierig von einem Teppich zum nächsten begleiteten. Die Architektur ist unglaublich und scheint eine Mischung aus allen möglichen afrikanischen Baustilen zu sein. Ich habe mir vorgenommen, sie genau zu studieren - wenn ich Zeit dafür finde ;-).

Schließlich betraten wir einen verwinkelten Schlafsaal. Ich kann dir noch nicht sagen, wie viele Mädchen hier schlafen, denn immer, wenn ich um eine Ecke gehe, entdecke ich neue Schlafstätten - Hängematten, Lager auf der Erde, kleine Zelte, Strohmatten ... Imani und Inaya führten mich zu einem gemütlich aussehenden Himmelbett, das mit vielen bunten Decken bedeckt war. Du denkst, in Afrika ist es heiß? Vergiss es! Wir befinden uns in über 4000 m Höhe und da ist es vor allem nachts ganz schön schattig. Die Decken werden also mehr als nötig sein.

Mein Gepäck war schon da und Imani und Inaya wollten mir gerade beim Auspacken helfen, als mir nichts, dir nichts ein winzig kleiner Elefant in den Schlafsaal trottete und schnaufend auf uns zusteuerte. Ich glaube, ich stand wieder mal mit offenem Mund da, aber Imani kicherte nur und meinte: "Der findet uns wohl überall!" Dann zog sie irgendwo aus ihrem Gewand eine ziemlich große Babyflasche mit Milch hervor. "Mist, die ist noch zu kalt!", murmelte sie, während der kleine Elefant eifrig versuchte, mit seinem Rüssel an die Flasche zu kommen. "Lenkt ihn mal ab, dann zaubere ich die Milch etwas wärmer", forderte sie Inaya und mich auf, während sie die Flasche hoch über ihren Kopf hielt.

Oho, das klang gut! Ich wollte den kleinen Elefanten unbedingt mal streicheln, wusste jedoch nicht, ob das erlaubt oder gewünscht war, aber Inaya stieß leise trompetenähnliche Laute aus, worauf sich das entzückende Geschöpf ihr sofort zuwandte und anfing, mit seinem Rüssel, in und an ihrem Gewand herumzufingern und alle möglichen Dinge hervorzuziehen, hauptsächlich bunte Tücher.

Ich durfte ihn tatsächlich streicheln, worauf er prompt anfing, meinen Umhang zu untersuchen und nacheinander mehrere Pergamentblätter, eine Tüte Bertie Botts Bohnen, einen Schokofrosch, eine Schreibfeder, zwei Taschentücher und meine Geldbörse zum Vorschein brachte.

Inaya und Imani erzählten mir inzwischen, dass der kleine Elefant seine Mutter verloren hatte. Sie war in einem der Nationalparks von Wilderern getötet worden, die scharf auf das Elfenbein waren. Ich war entsetzt und konnte das kaum glauben. Der kleine Elefant tat mir so leid :-(. Aber er machte einen kräftigen und gesunden Eindruck und Inaya meinte, dass er es schaffen würde. Sie verriet mir auch, dass es noch mehr von diesen kleinen Elefanten in der Schule gab und auch ein paar größere, und dass alle in einer Herde unter natürlichen Bedingungen gehalten würden, damit sich die Jungtiere gleich an Artgenossen gewöhnen. Später werden sie, wann immer es möglich ist, wieder in einen der Nationalparks zurückgebracht.

Die Schüler von Uagadou helfen seit vielen Jahrhunderten bei der Aufzucht der verwaisten Tiere und wechseln sich beim Flasche geben ab. Die kleinen Elefanten wissen anscheinend genau, an wen sie sich wann zu wenden haben, um alle zwei Stunden eine ordentliche Portion zu trinken.

Imani hatte inzwischen die Milch so weit erwärmt, dass der kleine Elefant sie trinken konnte und lockte ihn zu sich. Sofort stürzte er sich auf die Flasche und schlürfte sie mit zufriedenem Schmatzen leer. Gleich danach bekam er eine zweite, die Inaya inzwischen angewärmt hatte und da durfte auch ich die Flasche mal halten.

Ich hatte das Gefühl, dass der kleine Elefant mich die ganze Zeit ansah und bis auf den Grund meines Herzens blickte. Und plötzlich wusste ich, wie er heißt! "Er heißt Kiano, oder?", fragte ich aufgeregt. Imani und Inaya klatschten in die Hände und lachten. Und dann stellte sich etwas Unglaubliches heraus: Der kleine Elefant hatte noch gar keinen Namen! Es ist so, dass er ihn selbst offenbart, wenn er Lust dazu hat - und das hat er bei mir getan! Ich konnte das gar nicht glauben, war aber auch sehr stolz, dass Kiano mich genauso ins Herz geschlossen hatte wie ich ihn.

Du kannst dir denken, dass ich seither keine Zeit hatte, Heimweh zu bekommen, wie ich es befürchtet hatte. Dieser erste Tag war schon aufregend genug. Ich will mir gar nicht vorstellen, was mich noch alles erwartet, aber ich bin so gespannt auf den Unterricht und alle anderen Überraschungen und Abenteuer, die mich erwarten.

Einen Brauch habe ich bereits kennengelernt und der gefällt mir so gut, dass ich ihn gleich ausprobiert habe. Du weißt ja, dass die zukünftigen Schülerinnen und Schüler ihre Einladung nach Uagadou durch einen Traum erhalten, in dem ein Traumbote sie einlädt. Am nächsten Morgen halten sie beim Aufwachen einen Stein in der Hand, in den die Einladung eingeritzt ist. Ich finde das allein schon unglaublich. Aber wenn sie hier sind, bemalen sie Steine für ihre jüngeren Geschwister, damit diese nicht traurig sind, dass sie nicht oder noch nicht nach Uagadou gekommen sind.

Sofort beschloss ich, einen Stein für dich und einen für meine kleine Schwester Alana zu bemalen. Der für Alana ist schon weg und der für dich liegt diesem Brief bei. Ich schicke dir auch die Bastelanleitung. Vielleicht hast du ja Lust, für deine kleine Schwester Flieder auch einen Stein zu bemalen.

Bis bald und viele Grüße
von deiner Freundin
Elara

P.S.: Hm, wo ist die Bastelanleitung? Gerade lag sie noch hier, aber Kiano hat die ganze Zeit hier herumgewuselt und sie wahrscheinlich mitgenommen, denn jetzt sind er und die Anleitung verschwunden. Ich schicke diesen Brief trotzdem schon mal ab. Die Anleitung schicke ich hinterher, sobald ich sie Kiano abgeluchst habe. Ich schätze mal, für eine Flasche Milch wird er sie hergeben ;-). Du kannst dich ja inzwischen schon mal auf die Suche nach einem handtellergroßen Kieselstein machen. Er sollte ungefähr 10 cm Durchmesser und eine einigermaßen glatte Oberfläche haben.

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