Wie oft? - Wie oft?
[SIZE=20]Wie oft…?[/SIZE] [SIZE=16]Wie oft hatte er sie schon beobachtet? Wie oft lange angesehen, ohne dass sie ihn auch nur eines Blickes gewürdigt hatte? Wie oft sollte er es noch aushalten? Nie hatte sie auch nur ein Wort mit ihm gesprochen. Sie redete mit jedem, ob Reinblut, Halbblut, Muggelgeboren oder Blutsverräter. Nur mit ihm hatte sie nie geredet, ihm nicht mal einen einzigen Blick geschenkt. Seufzend ließ er sich an der Wand hinunter rutschen. Da stand sie im Hof, zehn, vielleicht fünfzehn Meter von ihm entfernt. Sie sah ihn nicht. Da waren sie, ihre Freunde, gewiss es waren wenig wahre Freunde darunter. Ob sie es wusste, ob sie jemals gehört hatte, wie die Leute über sie redeten, dass sie sie für verrückt und teils naiv hielten? Wie oft hatte er sie reden gehört? Wie oft in deren Nähe gewartet, weil er wusste, dass sie zu ihnen kommen würde? Wie oft waren sie verstummt als sie kam? Sie waren grausam. Seine Angebetete war aus wohlhabendem Haus, dies war der einzige Grund, weswegen so viele hinter ihr her waren und sich bemühten, freundlich zu sein. Hätte er nur einmal die Chance zu ihr zu gehen, ihr zu sagen, was sie wirklich für Freunde hatte! Still schüttelte er den Kopf, so oft schon hatte er sich diesen Moment ausgemalt. Er würde mit ihr sprechen, sie würde ihm danken und all ihre Zeit nur noch mit ihm und den wenigen anderen Auserwählten verbringen, jenen, die sie wirklich mochten. Wie oft stellte er sich vor, dass sie ihm zuhörte und glaubte? Wie oft träumte er, dass sie ihn als Freund erkennen würde? Wie oft hatte er dies schon einfach vergessen um Ihretwillen? Es hatte keinen Sinn. Sie würde ihr Leben leben und er seines. Sie würden nie zueinander finden und ihr war es egal. Wieso war er nicht mutig genug, zu ihr zu gehen? Als er die Augen wieder auf die Gruppe richtete, sah er gerade noch, dass sie wieder im Gebäude verschwanden. Es war so unglaublich schwer für ihn, sie so glücklich zu sehen und dabei zu wissen, dass er mit einem Gespräch, einer Bemerkung ihr Glück zerstören konnte. Wenn er nur an sie dachte, spürte er den unendlichen Schmerz, den sie nicht kannte. Wie oft würde er sich noch davon abhalten können, nicht zu ihr zu gehen? Wie oft würde er sie noch lachen sehen und sich zurückhalten können? Wie oft würde er die anderen noch schlecht über sie reden lassen, ohne einzugreifen? Langsam stand er auf. Bis auf ein paar wenige Leute war er allein hier. Er schritt zu dem Ort, an dem sie gestanden hatte. Auf dem grauen Steinboden glitzerte etwas, er bückte sich und hielt ihre silberne Haarspange in der Hand. Er konnte sich an keinen Tag seit der ersten Klasse erinnern, an dem sie diese nicht getragen hatte. Wie angewurzelt stand er da, mitten auf dem Platz, seinen Blick auf die kleine Spange gerichtet. Das Sonnenlicht reflektierte sich in ihr und lies sie in verschiedenen Farben glänzen. Wie oft hatte er sich gewünscht, die Spange aus der Nähe zu sehen? Wie oft hatte er sich gewünscht, diese Spange in ihren weichen braunen Locken zu sein? Wie oft hatte er dieses Stück Metall um seine Nähe zu ihr beneidet? Behutsam, als wäre sie aus zerbrechlichem Glas, ließ er die Spange in seine Umhangtasche gleiten. Sollte er sie behalten oder ihr wiedergeben? Selbst wenn er sie ihr übergeben würde, würde sie ein richtiges Gespräch mit ihm führen? Hatte die Spange für sie eine Bedeutung, die groß genug war? Sechs Jahre lang eine Spange zu tragen, musste nicht heißen, dass man wegen ihr auch mit dem unbeliebtesten Schüler überhaupt würde sprechen müssen, nur weil er sie gefunden und zurückgebracht hatte. Wie oft dachte er nach, von wem die Spange hätte sein können? Wie oft wünschte er sich, er hätte sie ihr geschenkt? Wie oft stellte er sich vor, derjenige zu sein, der sie ihr täglich ins Haar steckte? Er war wie in Trance, als er zum Portal lief. Sie war sein Traum, seit sechs langen Jahren hatte er für kein anderes Mädchen Gefühle entwickelt oder auch nur einen Blick übrig gehabt. Seine rechte Hand umschloss die Spange im Inneren seiner Tasche. Mit seinen Gedanken war er so bei ihr, dass er nicht mitbekam, wie eine aufgelöste Gestalt schnell auf ihn zukam. Eben so wenig wurde er bemerkt, doch das war normal. Da beide einander nicht wahrnahmen, war es unvermeidbar, dass sie in dem schmalen Gang zusammenstoßen würden. Wie oft hatte er gedacht, nicht gesehen zu werden? Wie oft hatte es sich bestätigt? Wie oft gab es Momente ähnlich wie dieser, in denen er gerade so noch auswich? Unsanft stießen sie zusammen und landeten auf dem Boden. Er sah auf und da war sie. Sie war so wunderschön. Sie glich in seinen Augen einem Engel. Er rappelte sich auf und half ihr hoch. Entschuldigende Worte fand er nicht, sie war aufgelöst, hatte geweint. Was sollte er tun? Er schob sie sanft zu einer Fensterbank und zwang sie behutsam, sich zu setzen. Ehe sie wusste, wer er war und was geschah, hatte er sie zart umarmt. Ihre Scheu war verflogen und sie weinte einfach weiter, bis die letzten Tränen getrocknet waren. Wie oft hatte er sich gewünscht, sie so zu halten? Wie oft stellte er sich ihren Duft vor, den er nun tief in sich aufnahm? Wie oft träumte er von ihrer Nähe, dieser Nähe? Als ihre Tränen versiegt waren, brachte sie bruchstückhaft hervor, dass sie ihre Spange verloren hatte. Sie hatte sie von ihrer Großmutter bekommen. Es war ein einfaches Blechstück und doch war es das Einzige, das die Verbindung zu ihrer Ahnin hielt. Ihre Freunde hatten sie ausgelacht, dass sie nach dem Blech suchen wollte. Hatten gesagt sie solle sich doch endlich etwas Wertvolleres kaufen. Hatten sie jemals den ideellen Wert eines Gegenstandes schätzen gelernt? Wohl kaum! Wie oft träumte er davon, dass Wohlstand nicht alles für sie sein mochte? Wie oft dachte er, dass er sich doch in ihr geirrt hatte? Wie oft hatte er sich doch zurückentschieden? Langsam griff er in seine Tasche. Die Spange lag auf seiner offenen Hand. Sie sah diese an, und dann ihn. „Du bist der Einzige, der mich kennt.“ Sie sprach so leise, dass er Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. Doch trotzdem legte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen. Sie besah ihn genau. Er war nicht hübsch, doch man konnte etwas aus ihm machen. Er war aufrichtig, hatte sie nie belogen oder betrogen. Er war der einzig ehrliche Mensch, den sie neben ihrer verstorbenen Großmutter kannte. Wie oft wünschte er sich, dass sie ihn so ansehen würde wie in diesem Moment? Wie oft träumte er nachts von ihren grauen Augen? Wie oft hatte er in seinen Vorstellungen diesen Schmerz in ihrem Blick gesehen? Sie wusste, dass auch sie nicht ehrlich gewesen war. Sie hatte sich belogen und erst jetzt einen wunderbaren Menschen kennen gelernt. Wie viel Zeit hatte sie unnötig verschwendet? Zu viel, das war ihr nun klar. Achtsam legte sie eine Hand an seine Wange. Ihr Gesicht nährte sich dem seinen. Er war wie angewurzelt und wusste nicht was zu tun war. Als ihre Lippen seine trafen, vergrub er eine Hand in ihren Haaren. Dies war der erste Kuss in seinem ganzen Leben, und der erste mit seiner großen Liebe. Wie oft sah er sich im Traum so mit ihr in der Schule stehen? Wie oft hatte er sich ihre weichen Lippen vorgestellt? Wie oft eine solche Situation ausgemalt? Sie löste den Kuss, viel zu früh für ihn. Doch schon zu spät für sie. In seiner Hand lag noch immer die Spange. Sanft umfasste sie sein Handgelenk mit der einen und schloss seine Hand mit ihrer anderen um das Schmuckstück. Er wusste nicht, was geschah, doch sich hauchte ein leises „Es tut mir leid“ und verschwand mit Tränen in den Augen. Er ging ihr nach, doch als er zum Ende des Ganges kam, erstarrte er zur Salzsäule. Ein zerbrochener Zauberstab, 9 ½ Zoll, Stechpalme mit Einhornhaar, lag auf dem Hof. Wie oft hatte er gedacht, dass er so enden würde? Wie oft fühlte er sich so verzweifelt? Wie oft hatte er geweint? Argus stand an der Stelle des Hofes, an dem es hinter der Brüstung hinunterging, viele hundert Meter abwärts. Diesen Tod hatte Cassandra Norris sich genau heute vor 51 Jahren gewählt. Er war damals nicht fähig gewesen, ihr zu helfen. Sechs Jahre hatte er gelernt, zu zaubern, und im entscheidenden Moment versagten seine Kräfte. Er hatte nie wieder gezaubert, er war nicht mehr fähig dazu. Seine Katze schnurrte neben ihm. Mrs Norris, ja, er liebte sie fast so, wie er damals Cassandra geliebt hatte. Wie oft war er seitdem zerbrochen? Wie oft hatte er versucht, wieder zu zaubern? Wie oft hatte er sich gewünscht, an ihrer Stelle tot zu sein? Er würde immer wieder hierher kommen, jedes Jahr und jeden Tag musste er an dieser Brüstung entlanggehen. Sein Blick wanderte auf die Rose in seiner einen, die Spange in seiner anderen Hand. Sein Tier schmiegte sich Nähe suchend an sein Bein. Argus, der gefühllose Steinklotz, weinte. Das Schnurren der Katze zu seinen Füßen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Er hielt die Rose über den Abhang und lies sie fallen, so wie er es jedes Jahr tat. Er sah ihrem Flug hinterher, bis er sie nicht mehr sicher ausmachen konnte.

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