Eine tolle Frau - ...
David will und muss schnell ins Ministerium. In zehn Minuten sollte er aus Vernunftgründen in seinem Büro sein, um noch einmal durch die Unterlagen zu sehen. Sein Sekretär erwartete kurz darauf Anweisungen für den Vormittag. Er seufzt und gießt den heißen Tee in seinen magischen Becher, der extra lange alles heiß hält. In diesem Moment schreit Benjamin los. Sein wenige Monate alter Sohn hat entweder Hunger oder eine volle Windel. David ruft nach Marie, seiner Frau. Sie sitzt auf dem Klo. Ok, dann muss er ins Elternschlafzimmer und Benjamin holen. Schon beim Hochheben merkt er, dass sein Sohn eine volle Windel hat. Benjamin hat Windelneurodermitis. Somit kommen nur Stoffwindeln in Betracht, damit Benjamin keine wunden Stellen bekommt. Der kleine Mann hat ganze Arbeit geleistet. Nicht nur die Kleidung ist verschmutzt, auch die Bettwäsche. Ein Wusch mit dem Zauberstab und zumindest das Kinderbett ist neu bezogen. Ein weiterer Wusch und Benjamin ist komplett entkleidet. David weiß, dass die Wäsche auf einem Haufen im Badezimmer liegt. Das Reinigen des Kindes muss jetzt ebenfalls mit dem Zauberstab erfolgen, ebenso wie das Anziehen. Ansonsten genießt David jede Sekunde, die er mit seinem Kind verbringt. Ein Blick auf die Uhr lässt ihn erschrecken. Mit Benjamin kehrt er in die Küche zurück. Benjamin weint immer noch. Also hat er Hunger. Jetzt kann David nicht helfen. Zum Glück betritt in diesem Moment Marie die Küche. David gibt ihr den Sohn zum Stillen. Endlich kann er zur Arbeit aufbrechen. Er blickt an sich herunter. Er hat noch seine Hauschuhe an. So oft, wie an diesem Morgen, hat er schon lange nicht mehr gehext. David schnappt sich seine schwarze Aktentasche, seinen Becher und setzt sich seine bunt gestreifte Wollmütze auf. Im Ministerium ist es warm, aber auf der Isle of Man kann es schon mal windig und damit ungemütlich sein. Er muss zwar nicht aus dem Haus, weil er mit dem Flohnetzwerk reist, aber es ist besser, für alle Situationen gerüstet zu sein. David greift in die Flohpulverschale. Gerade als er laut und deutlich „London, Ministerium“ sagen will, fängt sein Sohn an zu schreien. „Da hat was beim Stillen nicht geklappt“, denkt David noch. Es wirbelt um David herum, er hört Geräusche, sieht Farbschlieren und dann steht alles wieder still. Er dreht sich um, weil er mit dem Gesicht zur Mauer des Kamins blickt, in dem seine Reise endet. „Seltsam“, denkt er noch, „der Kamin wirkt so pompös mit dem Stuck und den scheinbaren Goldverzierungen. Das passt so gar nicht zum Ministerium.“ Der mittelalte Zauberer blickt hoch und sieht große Fenster. „Das Ministerium hat keine Fenster in der Eingangshalle“, denkt David noch. Auch der Fußboden passt nicht zu seiner Erinnerung. Wo ist er bloß gelandet? Der Raum, in dem David sich befindet, ist relativ groß. Ein breites Bett steht an einer Seite, auch ein Buchregal bemerkt der Zauberer. Er sieht eine schlichte weiße Tür und eilt darauf zu. Auf den Gedanken, nach Hause zu reisen und noch einmal zu versuchen, ins Ministerium zu gelangen, kommt David nicht. Aus irgendeinem Grund klopft er nicht an, sondern reißt die Tür auf. Nach zehn Sekunden geht ihm auf, dass er in einem Innenraum-Badezimmer steht. Eine freie Badewanne auf hohen Füßen steht auf der einen Seite, eine Dusche, ein Bidet, zwei Waschbecken und eine halbwegs abgetrennte Toilette komplettieren den Raum. Er denkt noch, dass ihm die Cremefarben und Schnörkel der Armaturen nicht so zusagen. Aber in Gedanken muss er zugeben, dass dieses Badezimmer besser und luxuriöser als das Familienbadezimmer in seinem Haus ist. Wieder verspätet bemerkt er, dass jemand in dem Raum ist. Eine Person befindet sich in der Badewanne. Ein hellgrüner Morgenmantel und zwei Badetücher liegen auf einem kleinen Hocker, der neben der Badewanne steht. David steht hinter der Badewanne. Ihr Rückteil ist hochgezogen, so dass man nicht direkt in die Wanne schauen kann. Weiße Haare sind zu sehen. Eine Stimme erklingt: „Sebastian, ich wollte doch nicht gestört werden. Baden kann ich schon lange alleine.“ Diese Stimme kennt David doch. Erschrocken sieht David genauer hin. Ein Kopf hebt sich über den Wannenrand. David kennt die Frau. Seine Gedanken rasen. Es ist … es ist … Ihre Majestät, die Queen. David geht unbewusst einen Schritt zurück. „Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.“ Die Stimme klingt bestimmt. „Wie kommen Sie hier rein? Was wollen Sie von mir?“ David ist so durcheinander, dass er der Queen antwortet. „Ich heiße David Smith und von Ihnen wollte ich nichts. Ich habe mich im Kamin geirrt.“ Als er das sagt, schießt ihm durch den Kopf, dass die Queen wohl nicht versteht, was er mit dem Kamin gemeint hat. Die Queen schweigt und David schiebt hinterher: „Ich wollte ins Ministerium. Da bin ich nicht gelandet. Ich weiß nicht genau, wo ich bin, aber ich weiß, dass ich hier total falsch bin.“ Die Queen wirkt erstaunlich gelassen: „Sie sind im Buckingham Palast, in meinen privatesten Privaträumen. Hier haben außer meinem Mann und mir gerade einmal fünf Bedienstete Zugang.“ Fieberhaft überlegt David, was er machen soll. Einfach zu gehen, geht nicht. Er kann nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. Unbewusst zupft er sich am linken Ohr. Das hat er schon immer gemacht, wenn er aufgeregt oder durcheinander war. „Ein Linkshänder, genau wie mein Enkel William“, kommt es von der Queen. Sie beobachtet ihn noch immer. „Was soll ich jetzt tun? Einen Knicks machen oder einfach wieder gehen? Das kommt mir falsch vor. Aber einfach so stehen bleiben kann ich auch nicht.“ Die Überlegungen spricht David laut aus, ohne es zu merken. Die Queen rutscht ein bisschen zurück. „Mein Wasser wird kalt und ich möchte gerne aus der Wanne. Deshalb würde ich vorschlagen, dass Sie in den Nebenraum gehen. Ich komme dann nach. Ich würde gerne ungern vor Ihnen aus dem Wasser steigen.“ Immer noch wirkt die Queen völlig ruhig. Sie ist nicht durcheinander. Ihre erste Überraschung ist gewichen und David merkt, dass die Queen sich nicht bedroht fühlt. David nickt stumm. Er weiß nicht genau, wie er seine Königin anreden soll. So geht der Zauberer rückwärts aus dem Badezimmer ins Schlafzimmer der Queen, wie er jetzt weiß. Interessiert blickt David sich um. Er möchte alles in sich aufnehmen, um Marie und seinem Sohn von diesem Treffen zu erzählen. Erstaunlich schnell betritt die Queen ihr Schlafzimmer. Sie hatte wohl Kleidung im Badezimmer. Darüber hat sie den Morgenmantel gezogen. Auch wenn ihre Haare nicht nass waren, hat sie ein Handtuch um ihren Kopf geschlungen. Wieder hilft sie ihm: „Sie können mich ‚Ma`am ‘ nennen. Das reicht mir völlig aus.“ Sie blickt zu einer kleinen Uhr, die auf dem Nachtisch neben dem Bett steht. Auch David blickt auf die Uhr und erschrickt. Er wird zu spät zur Arbeit kommen. Es ist 8:30 Uhr. Seit einer halben Stunde sollte David arbeiten. Die Queen redet in Davids Gedanken. Der Zauberer konzentriert sich schnell aufs Hier und Jetzt. „In zwei Stunden habe ich heute meinen ersten Termin, aber ich glaube, so viel Zeit haben Sie nicht.“ David nickt und ärgert sich gleichzeitig, dass er so schweigsam ist. Er räuspert sich und bekommt schließlich heraus: „Ich komme jetzt schon zu spät. Aber ich kann sagen, dass mein Sohn mich aufgehalten hat. Das wäre noch nicht mal komplett gelogen.“ „Ich kann ja wieder gehen. Wie gesagt, habe ich aus Versehen den falschen Kamin erwischt. Wenn es Sie nicht stört, gehe ich gleich. Ich möchte mich nur für mein Versehen entschuldigen. So etwas ist noch nie passiert.“ David denkt nicht daran, die Queen anzulügen. Er denkt kurz daran, das Gedächtnis der Queen zu löschen, doch das kommt ihm falsch vor. Wieder überrascht ihn die Queen als sie sagt: „Sie sind ein Zauberer, nicht wahr?“ David bekommt große Augen. Die Queen erklärt ihm, was er geahnt, aber nicht gewusst hat: „Der Premierminister oder die Premierministerin bekommt beim Antritt Besuch vom Zaubereiminister oder von der Zaubereiministerin. Ich bekomme jede Woche Besuch vom Premierminister. Irgendwann erzählte mir Harold Wilson bei einem Rotwein von Zauberern. Tony Blair berichtete mir ebenfalls von Zauberern und Hexen, die mit uns zusammen in Großbritannien leben. Irgendwann hatte ich einen Termin mit Tony Blair. Er hatte einen angeblichen Mitarbeiter bei sich, der sich als Kingsley Shacklebolt vorstellte. Wir redeten mehrere Stunden lang.“ David schwirren die Gedanken im Kopf herum. „Die Queen weiß Bescheid“, denkt er nur. „Ich bin nur ein einfacher Mitarbeiter im Ministerium. Ich bin nicht der Zaubereiminister und ich gehöre auch nicht zu seinem direkten Arbeitsteam. Ich werde den größten Ärger bekommen. Ich sollte gar nicht hier sein.“ Er nickt und schüttelt den Kopf. „Ich werde nichts davon sagen, dass Sie hier sind“, sagt die Queen. „Ich würde es nur gerne meinem Mann erzählen. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm. “ David geht auf, dass er selten an Prinz Philipp gedacht hat. Der Ehemann der Queen ist einfach immer da, aber er ist für die Königin mehr als nur da. „Ich kann sagen, dass ich im Buckingham Palast gelandet bin. Ich muss ja nicht sagen, dass ich in Ihren Privaträumen gelandet bin. Wieso ist dieser Kamin überhaupt ans Flohnetzwerk angeschlossen?“, grübelt David. „Angeblich hat früher in diesen Räumen Lady Frances Jersey, eine Geliebte George IV., gelebt. Vielleicht hatte sie Verbindungen ins magische Ministerium“, sagt die Queen. David muss lachen. Die Queen scheint ihre Familie nicht nur in der aktuellen Generation zu kennen. „Schade, ich muss wirklich gehen, auch wenn ich gestehen muss, dass ich das Gespräch mit Ihnen genieße, Ma`am" Während er das sagt, merkt er, wie sehr das stimmt, was er sagt. „Es tut mir leid, dass ich Sie beim Baden gestört habe. Ich muss sagen, dass Sie erstaunlich ruhig geblieben sind und es mir so einfach gemacht haben, mit Ihnen zu reden.“ „Sie sind zwar in mein Badezimmer geplatzt, was mir noch nie passiert ist, aber Sie machen mir nicht den Eindruck einer Bedrohung. Ich hoffe, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aber ich merke, dass Sie gehen müssen. Ich wünsche Ihnen nicht zu viel Ärger, weil Sie sich heute verspäten werden.“ Etwas unbeholfen zieht David sein Reisesäckchen mit dem Flohpulver aus seiner Aktentasche. „Vielen Dank für das Gespräch. Ich hoffe sehr, dass wir uns noch mal wiedersehen.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich David. Er streut das Pulver aus. Dieses Mal spricht er ganz deutlich: „London, Zaubereiministerium.“ Sekunden später ist er verschwunden, auf den Weg zu einem normalen Arbeitstag. Das Treffen mit der Queen, einer tollen Frau, wird er sein Leben lang nicht vergessen.