Die unbeachteten Kinder von Exeter - ...
Als Marius an einem schönen Julitage des Jahres 1929 erwachte, ahnte er nicht, dass heute seine Welt unterging. Doch so ist das mit den Weltuntergängen, so sehr man sich auf sie vorbereitet, so unvermittelt treffen sie einen schließlich doch. Man kann bangen und ahnen, hoffen und planen – und doch ist nichts mehr, wie‘s einst war. Ein plötzliches Gewicht am Fußende seines Bettes weckte ihn. Langsam blinzelnd öffnete er die Augen. „Dorea“, stöhnte er. „Lass das. Es ist noch viel zu früh.“ Doch seine kleine Schwester ließ sich davon nicht abhalten. „Aufstehen, Schlafmütze! Pollux will uns heute in die Winkelgasse mitnehmen, hast du das schon vergessen?“ Seit wenigen Monaten durfte der älteste Black-Bruder apparieren und hatte diese Fähigkeit in den vergangenen Wochen seit Schuljahresende genutzt, um mit seinen Geschwistern viele Ausflüge zu machen. Während Marius gähnte und dann die Decke beiseite schlug, um langsam aufzustehen, plapperte Dorea weiter. „Cassiopeia will unbedingt eine neue Kristallkugel, sie meinte, ihre alte habe die falschen Schwingungen. Und Vater hat Pollux erlaubt, dir einen Zauberstab zu kaufen.“ Den dumpfen Druck in seinem Bauch ignorierte Marius. Er gab Dorea einen leichten Stoß mit seinen Füßen. „Runter da, ich stehe ja schon auf!“ Aber lachen musste er dabei doch. Dorea stand auf, piekste ihm in die Seite und wich quiekend aus, als er sie zurück pieksen wollte. Marius rollte mit den Augen. „Geh schon, ich komme gleich zum Frühstück.“ Die Türe zu seinem Zimmer blieb hinter Dorea offen und Marius seufzte. Es war nicht so, dass er sich nicht auf Hogwarts freute. Alle Erzählungen seiner älteren Geschwister versprachen ein Schloss voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden, voller Freunde, die nur darauf warteten, gefunden zu werden, und Ruhm, der nur darauf wartete, von den Kindern des noblen und ehrenwerten Hauses Black geerntet zu werden. Das Problem war nur, dass Marius ahnte, was der Rest seiner Familie grimmig ignorierte. Man sah nur, was man sehen wollte, und so sahen Cygnus und Violetta Black nur, wie gelehrsam und ehrgeizig, wie wohlerzogen und erwachsen ihr zweiter Sohn war. Marius war anders und niemand konnte das so nachhaltig übersehen wie diejenigen, in deren Welt es nur gab, nur geben konnte, was auch erlaubt war. Doch Marius war gut darin, das flaue Gefühl in seinem Magen zu ignorieren. Ignoranz konnte man gut in dieser Familie. Also saß er brav und freundlich und lächelnd am Frühstückstisch, während Dorea über die Wunder fantasierte, die sie in London erwarteten, und sein Vater seinem Bruder eine Anweisung gab, die er in den vergangenen Tagen bereits drei Mal gegeben hatte: „Pollux, nimm deine Geschwister auch zu deinem Cousin Arcturus mit. Es ist nur höflich, dem Grimmauld Place einen Besuch abzustatten, wenn ihr in London seid. Er empfängt inzwischen wieder Besuch, ihr solltet seinen Sohn in der Familie begrüßen.“ „Das werde ich, Vater“, sagte Pollux geduldig. „Du kannst dich auf mich verlassen.“ Gerade, als Marius sich fragte, ob sein Bruder nicht müde wurde, seinem Vater immer die gleichen Antworten auf immer die gleichen Anweisungen zu geben, oder ob er der einzige war, der bemerkte, wie sehr sein Vater sich wiederholte, klopfte die Eule ans Fenster. Er stand auf, um sie hineinzulassen. Sie trug die schweren Umschläge mit dem Wappen, das Marius als das von Hogwarts erkannte. Es waren zwei an der Zahl, adressiert an Pollux und Cassiopeia. Das dumpfe Gefühl von Schwere in Marius‘ Bauch verwandelte sich in ein bleiernes Gewicht, das ihn zu Boden zu ziehen schien. Er hatte immer gewusst, dass er anders war. Er hatte es gespürt, tief drinnen, hatte gemerkt, dass ihn von seinen Geschwistern etwas Fundamentales unterschied, etwas, auf das er keinen Einfluss hatte und das doch sein Leben bestimmen sollte, seine Kindheit umso mehr überschattete, je älter er wurde. Er hatte geahnt, was es war. Doch jetzt die Bestätigung dafür zu erhalten, hatte er nicht erwartet. Ignoranz konnte man gut in dieser Familie, und das schloss ihn nicht aus. „Was ist es, Marius?“, fragte seine Mutter. Und Pollux, in seiner üblich vernünftigen Art: „Sind die Hogwartsbriefe gekommen? Gut, dann haben wir die Einkaufsliste für dich gleich zur Hand.“ Die beiden Briefe in der Hand, die Eule kraulend, stand Marius da, seiner Familie den Rücken zugedreht. Er wagte nicht, sich ihnen zuzuwenden. Er wagte nicht, zu sprechen. Also schüttelte er nur den Kopf. Er hörte Dorea auf ihrem Stuhl zappeln. Sie wollte aufstehen und selbst sehen, was ihn so aufhielt, doch Vaters strenger Blick musste sie abhalten. Selbst seine kleine Schwester wusste, wann sie sich benehmen musste. „Bringe uns die Briefe“, sagte sein Vater. Wie in Trance gehorchte Marius. Er schickte die Eule fort, schloss das Fenster und drehte sich um. Er brachte erst Pollux dessen Brief, dann Cassiopeia den ihren, und blieb hinter seinem Stuhl stehen. Er wagte es nicht, in die Gesichter seiner Familie zu blicken, als ihnen dämmerte, was ihm insgeheim schon lange bewusst war. „Geh auf dein Zimmer“, sagte sein Vater. Marius gehorchte. Im Hause Cygnus Black hatte es nicht viele Geschichten gegeben. Nur selten hatte Violetta ihren Kindern etwas vorgelesen. Das Schreiben und Lesen hatten sie anhand von Genealogien und Geschichtsbüchern gelernt. Wenn Marius daraus eines mitgenommen hatte, dann dass die Welt auf eine ganz bestimmte Weise funktionierte und nun wusste er ganz sicher, welcher Platz darin der seine war – keiner. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ihn seine Mutter in seinem Zimmer aufsuchte. Marius blickte auf, aber sie machte keine Anstalten, weiter auf ihn zuzugehen. „Dein Vater hat angewiesen, deine Sachen zu packen“, sagte sie etwas steif. „Wenn du fertig bist, kannst du dich von deinen Geschwistern verabschieden.“ Er nickte, doch irgendetwas musste in seinem Gesicht sein, denn ihres wurde etwas weicher. „Marius, du weißt, dass es für alle das Beste ist, oder?“, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. „Wir können es der Familie nicht antun. Denk nur an deine Schwestern. An ihre Zukunft. Du und ich, wir müssen für die anderen jetzt stark sein, ja?“ Er dachte an seine Schwestern, an Doreas aufgeregtes Gesicht, als sie ihn geweckt hatte. Er dachte an seine Schwestern, an Cassiopeias erfolglose Versuche, in ihrer alten Kristallkugel seine Zukunft zu sehen. Nun wusste er: Es lag nicht an der Kristallkugel, dass sie keine Zukunft für ihn sah. Es lag daran, dass er keine hatte. Er hatte gedacht, auf den Weltuntergang gefasst zu sein. Und doch traf er ihn unvermittelt. Wie unter einem Imperiusfluch packte Marius seine Kleidung zusammen, widersprach auch nicht, als seine Mutter ihm das hölzerne Einhorn wieder wegnahm, das losging, wenn man es einmal antippte, bei zwei Berührungen trabte und bei dreien galoppierte. Er ging die Treppe hinunter, hielt auch nicht bei dem Familienportrait an, für das sie vor zwei Jahren stundenlang herumgesessen hatten. Er kam an Cassiopeias Zimmer vorbei, hinter dessen Türe er seine Schwestern streiten hörte, ohne Worte ausmachen zu können. Im Erdgeschoss schob sein Vater seinem Bruder einen Brief in die Hand. „… Arcturus wegen des Teppichs informieren“, sagte sein Vater. Pollux nickte knapp und ließ einen flüchtigen Blick über Marius gleiten. Irgendetwas war darin zu sehen, doch was es war, verstand Marius nicht. Er stand am Fuße des weiten Treppenhauses und wartete auf das Unausweichliche. Dies war es nun, womit sein Leben zu Ende ging. An der Tür wartete Vater, während seine Geschwister ihm gegenüber standen, Pollux in der Mitte. „Pass auf dich auf, Kleiner“, sagte Pollux. Jetzt, da er es nicht mehr konnte. „Ich halte nach dir Ausschau“, sagte Cassiopeia. Jetzt, da sie wusste, dass es nicht ihre Welt war, in der sie suchen musste. „Ich will nicht nach Hogwarts“, sagte Dorea. Jetzt, da Marius dort auch nicht sein würde. Er nickte nur. Der Geruch von Bratensoße drang zu ihm vor, der Vorgeschmack des heutigen Abendessens, an dem er nicht teilnehmen würde, denn hier gab es nun keinen Platz mehr für ihn. Auf den Weltuntergang hatte er sich vorbereitet. Eines Tages, eine Weile, nachdem Dorea in ihrem ersten Ausbruch plötzlicher Magie sämtliche Kerzen im Zimmer angezündet hatte, hatte sich Marius getraut, die Frage zu stellen. Er hatte sich Pollux in einem ruhigen Moment beiseite genommen und ihn gefragt: „Was, wenn ich keine Magie habe?“ Pollux hatte gelacht und ihn beruhigt und ihm versichert, dass seine Magie sich schon noch zeigen würde, und außerdem, nicht jede Magie sei so explosiv wie die seiner kleinen Schwester. Marius hatte nicht daran geglaubt, jemals normal zu werden, aber an die Hoffnung hatte er sich fest geklammert. Jetzt befahl ihm sein Vater, sich festzuhalten, und das unangenehme Druckgefühl des Apparierens umhüllte Marius, bis sie in einer heruntergekommenen Seitenstraße, die Marius nicht erkannte, wieder auftauchten. Der Bann war gebrochen. „Bitte, Vater“, flehte er. „Schick mich nicht weg. Lass mich bleiben. Ich kann mich nützlich machen, das verspreche ich!“ Er mochte ein dreckiger Squib sein, aber er konnte doch Dinge tun, er konnte helfen. „Ich kann mich um Dorea kümmern und ihr Geschichte und Magietheorie und Arithmantik beibringen, bitte!“ Sein Vater hatte ihm immer deutlich gemacht, wie zufrieden er mit Marius‘ Leistungen war, mit seinen Erfolgen, mit seinem Fleiß und Ehrgeiz. Er war doch kein anderer Mensch. Doch ein Wort seines Vaters machte all das zunichte: „Nein.“ Sie traten aus der Seitenstraße hinaus. Komisch angezogene Menschen gingen durch die Straßen und laute, stinkende Metallkästen bewegten sich vereinzelt auf anderen Teilen der Straße. Die Stadt war viel größer und weiter als alles, was Marius je gesehen hatte. Natürlich war er bereits in der Winkelgasse gewesen, aber dort standen die Häuser eng und dicht beieinander, alles war belebt und voll. Hier war viel mehr Platz. Trotz des Gestanks roch die Luft immer noch nach Meer, wie zu Hause. Dennoch wusste Marius nicht, wohin sein Vater ihn brachte – bis er das Schild über dem Eingang des Hauses sah, vor dem sein Vater Halt machte. The Neglected Children of Exeter. Marius wusste, was ihn erwartete. Damals, nach Doreas ersten Magiezeichen, hatte er Pollux eben doch weiter ausgefragt, was mit einem Squib passierte. In den Genealogie-Büchern stand schließlich dazu nichts. Doch erst jetzt, als er sich hinter seinem Vater die Stufen hinaufschleppte, drang es wirklich zu ihm durch. Vorbei die Zeiten, in denen er morgens von seiner Schwester geweckt wurde, die auf sein Bett sprang. Vorbei die Zeiten, in denen er ein eigenes Zimmer und vielleicht sogar ein eigenes Bett hatte. Vorbei die Zeiten, in denen brave Hauselfen ein üppiges Frühstück auftischten. Mit einem Knall, der betäubend laut durch die hohen, schmalen Flure echote, fiel die Eingangstür hinter Marius ins Schloss. Er musste sich beeilen, zu seinem Vater aufzuschließen, dabei sein Gepäck hinter sich her schleifend. Jeder Schritt klang laut in dem kargen Korridor. Gedämpft, wie aus weiter Ferne, hörte Marius Kinder heulen. Das war also die Muggelwelt, vor der ihn die vielen Bücher in der Bibliothek zu Hause gewarnt hatten. Ihm war selbst nach Weinen zumute. Vor einem mit Direktion bezeichneten Raum blieb sein Vater stehen. „Mir fällt es auch schwer, Junge“, sagte er, „aber es muss sein. Warte hier.“ Dann klopfte er an und betrat, ohne auf Antwort zu warten, den Raum. Marius presste sein Ohr an die Tür, um zu lauschen, was sein Vater sagte. Doch so sehr er die Person im Inneren überrascht haben musste, falls dort überhaupt jemand war, so leise war es jetzt. Lediglich ein paar unverständliche, gemurmelte Worte drangen durch die Tür. Es musste ein Zauber sein. Natürlich, sein Vater wusste sicherlich nicht, wie man mit Muggeln sprach. Auch Marius wusste es nicht, aber er musste es lernen, schließlich war er nun einer von ihnen. Einer ganz unten. Nach einer Weile kam sein Vater wieder heraus. Ein großer, hagerer Mann mit einem seltsam geschnittenen Bart und ohne Umhang folgte ihm. „Hitchens, gut. Damit ist alles geklärt“, sagte der Muggel abschließend, als würde er ein Gespräch beenden, von dem Marius wusste, dass es nicht stattgefunden hatte. Die beiden Männer gaben sich die Hand und Marius erwartete schon, dass sein Vater ohne ein weiteres Wort verschwand. Doch er wandte sich ihm noch einmal zu, platzierte seine Hand auf Marius‘ Schulter. „Es ist besser so“, sagte er. „Hier bist du unter deinesgleichen.“ Seinesgleichen. Er war kein Black mehr, nurmehr ein Brandfleck im Teppich, der bei Onkel Arcturus im Grimmauld Place 12 an der Wand hing. Er war ein dreckiger Squib, in seiner eigenen Welt unerwünscht und in dieser hier fremd. Er wandte sich von seinem Vater ab, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Das Zimmer, in das der Muggel ihn führte, war groß und voll. Marius konnte gar nicht zählen, wie viele Kinder hier auf den zerwühlten Betten saßen. Manche spielten miteinander oder stritten sich um die leblosen Holzspielzeuge. Manche versuchten, sich von den oberen Etagen der metallenen Stockbetten aus zu recken, um hinaus durch die Fenster nach draußen blicken zu können. Manche starrten nur vor sich hin, wippten vor und zurück. Dies war die Welt, in die Marius gehörte. Zuvor hatte er gedacht, zu wissen, was es bedeutete, keine Magie zu haben. Wo Dorea eine Kerze mit der Kraft ihres Verstandes anzündete, musste Marius dazu einen Hauselfen rufen. Er hatte damit gelebt, es war seine Normalität gewesen. Doch nun, wenn er in die Gesichter der anderen Kinder blickte, die ihn mit mehr oder weniger leerem Blick anstarrten, drang eine andere Erkenntnis zu ihm vor: Dies bedeutete es, verstoßen zu sein. Unerwünscht. The Neglected Children of Exeter. Willkommen bei den Muggeln.