Osnabrück, 1989 - ...
So ein Pech konnten nur sie haben: Lucy und Luke. Beide waren junge sieben Jahre alt und Hexe und Zauberer. Zwillinge waren Luke und Lucy – die beiden „L“ wurden sie genannt. Wenigstens wurden sie nicht verwechselt, dafür sorgten die unterschiedlichen Geschlechter. Das Alter und ihre magische Begabung waren natürlich kein Pech. Aber ihr Vater war Soldat und seit einigen Monaten in Osnabrück stationiert. Ihre Mutter war samt ihnen hinterhergezogen. Auch das war kein Pech, aber dass ihre Eltern beschlossen hatten, dass sie an einer Muggelschule eingeschult werden würden. Seit dem Tag dieses Beschlusses hatten die Zwillinge sich jeden Tag gefühlte endlose Vorträge von Vater und Mutter anhören dürfen, wie man sich als Muggel verhielt. Es ging nicht mehr, die Eltern zu bitten, dass sie kaputtes Spielzeug mit dem Zauberstab reparierten oder der Teddybär die Gute-Nacht-Geschichte brummen konnte oder die Kinderzimmer in Sekundenschnelle aufgeräumt wurden. Keine Kinder durften sie besuchen – in England wohnten sie in einer Straße voller Verwandten und ihre Spielgefährten waren Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten. Ok, in ihrem entlegenen Dorf lebten fünf Familien und vier waren mit ihnen verwandt. Die fünfte war wegen der Magieansammlung ins Dorf gezogen. Ebenso verboten waren die gewollt aufgestauten Magiehickser. Luke und Lucy schafften es – allerdings mit viel Konzentration oder sehr viel Emotionen – Süßigkeiten aus dem Versteck schweben zu lassen, Türen zu öffnen oder Schabernack mit den Haustieren anzustellen. Apropos Haustiere: Nur Maurice, der Kater, hatte mitgedurft. Snoppy, die Ziege, hatte in England bleiben müssen, ebenso wie Blackbird, ein schwarzer Rabe. Luke schnaufte verächtlich und nahm sich vor, sämtliche Spinnen in Osnabrück zu dressieren. Seine Eltern sollten nur sehen. Und warum sollten sie mit sieben Jahren eingeschult werden? In England würden sie in vier Jahren in Hogwarts eingeschult werden und Lucy und Luke waren davon ausgegangen, dass ihre Großmutter ihnen Lesen und Schreiben beibringen würden. Genau, Grandma. Sie war herrlich unkompliziert und nicht so streng wie ihre ansonsten perfekte Mutter. Ihre Eltern fanden, dass ihre Kinder neben Lesen und Schreiben auch eine Fremdsprache erlernen konnten. Und außerdem gab es in der Militärbasis keine anderen Hexen und Zauberer. Da konnte man auch gleich zur einheimischen Bevölkerung Kontakt suchen. Nun standen Lucy und Luke an einem Augustsamstag mit ihrer Mutter an der Ampel und hielten komische Tüten in der Hand. Schultüten wurden diese Dinger genannt. Gefüllt waren sie angeblich mit Süßigkeiten und Stiften. Geöffnet werden durften sie allerdings erst später. Wenigstens den sprachlichen Einstieg hatten die Eltern den Kindern erleichtert. Ein ziemlich starker Sprachzauber ließ die Zwillinge sowohl das Deutsche als auch das Englische hören. Der Nachteil war, dass Luke und Lucy die Ohren summten. Schweigsam waren die Zwillinge wie selten davor. Sie verstanden zwar, was gesagt wurde, doch die deutschen Wörter kamen nicht durch einen Sprachzauber über ihre Lippen. Seltsam fanden Lucy und Luke die Muggelkinder: Sie hoben heruntergefallene Stifte selber wieder auf. Kein Erwachsener ließ sie aus Spaß wieder auf den Tisch schweben. Die Lehrer nutzten keine Magie im Unterricht. Eher die Stimmen riefen die Kinder zur Ordnung als denn ein Zauberstab. Kein Fenster öffnete sich auf den bloßen Wink. Der Kaffee wurde altmodisch per Handbedienung in der Kaffeemaschine gekocht. Und auf dem Pausenhof erklang manchmal die Stimme der Schulleiterin durch eine elektrische Anlage und war nicht durch einen Zauber laut verstärkt. Dafür war die Elektrik eine wunderbare Errungenschaft, an denen die Zwillinge sich nicht sattsehen konnten. Die Elektrik sorgte für Licht und Wärme. Heizungen waren toll bei kalten Füßen im Herbst und Winter. Wasserpfützenspringen war genauso spaßig wie heimlich den Besen des großen Bruders mopsen, um damit herumzufliegen. Und ebenso unterhaltsam wie die magischen Comics waren die Kinderfernsehsendungen und Radios mit herrlicher Musik, von denen viele sogar englische Lieder hatten.