Farbenblind? - ...
Endlich! Nach über 13 Stunden Wehen war es geschafft und die kleine Ava lag in eine kuschelige Decke gehüllt im Arm ihrer Mutter. „Sie hat braune Augen, wie du, und diese winzigen Löckchen. Sie ist perfekt“, hauchte der stolze Vater und traute sich kaum, sie zu berühren. Marie ließ sich erschöpft in die Kissen sinken, als die Säuglingsschwester ihr die Tochter abnahm, um sie gründlich zu untersuchen. Nur wage hörte sie, wie von Gewicht, Größe und anderen Zahlen gesprochen wurde. Marie war so müde und erleichtert und glücklich. Schon war der kleine Mensch, der von nun an ihr Leben bestimmen würde, wieder bei ihr zum ersten Stillen. Danach durften sich beide ausruhen und Oliver, der frisch gebackene Papa, verkündete die guten Neuigkeiten der gesamten Familie und allen Freunden. Als Marie erwachte, fühlte sie sich besser und betrachtete voller Bewunderung ihre Tochter im Bettchen neben ihr. Kaum vorstellbar, wie dieses Wesen noch vor kurzem in ihrem Bauch gelegen hatte. Marie summte leise die Gute-Nacht-Melodie, die sie schon während der Schwangerschaft oft für das Baby gesungen hatte. Ava öffnete kurz ihre Augen und schlief zufrieden ein. Überrascht hielt Marie inne. Das waren blaue Augen! Aber ihre Tochter hatte doch braune, wie sie selbst. Als Oliver das Zimmer betrat, fand er seine Frau verwirrt vor dem Babybett sitzend vor, umringt von zwei Schwestern, die sie zu beruhigen versuchten. „Die haben unser Kind vertauscht während ich schlief!“, sprudelte es aus Marie heraus. „Ich bin mir ganz sicher, dass das Ihre Tochter Ava ist, denn ich habe sie persönlich hoch auf die Station gebracht“, versicherte die Schwester. „Du hast doch auch gesehen, dass Ava braune Augen hat, Oliver, und jetzt hat sie blaue!“ Skeptisch nahm der Vater das Baby in Augenschein und kurz darauf drehte er sich zu seiner Frau: „Schatz, sie hat doch braune Augen, schau!“ Es stimmte, zwei haselnussbraune Äuglein blinzelten sie an, als wollten sie fragen, was die ganze Aufregung hier soll. Erleichtert, aber doch ein wenig verunsichert, wie sie sich so hatte täuschen können, nahm Marie ihr Kind zu sich. Die Schwestern lächelten verständnisvoll und gingen zurück an ihre Arbeit. Nach vier Tagen durften Mutter und Baby nach Hause und das Leben zu dritt konnte losgehen. Es wurden schlaflose Nächte, denn Ava trank nur wenig, aber dafür besonders oft. Wenn sie schrie, meinte Marie einen Schimmer Rot in ihren braunen Löckchen funkeln zu sehen, aber Oliver überredete sie, das sei der Schlafmangel, der sie so etwas sehen ließe. Mit neun Tagen hatte Ava ihre U2-Untersuchung beim Kinderarzt und dabei sollte aus der Ferse eine kleine Blutprobe entnommen werden. Das gefiel Ava aber gar nicht und sie schrie ihren Zorn lautstark den Peinigern entgegen. „Ein feuriges Temperament hat die Kleine, passend zur Haarfarbe“, bemerkte der Arzt und Marie durfte ihre Tochter wieder anziehen. Mit zittrigen Händen knöpfte sie Body und Strampler zu verließ hastig die Praxis. „Sie waren rot, Oliver!“, beteuerte Marie ihrem Mann am Telefon. „Und nun sind die Haare wieder wie sonst!“ Aufgeregt lief sie im Flur auf und ab. „Nein, ich habe mich nicht getäuscht, frag doch den Doktor!“ Sie lauschte den Worten ihres Mannes, verdrehte genervt die Augen und gab nach: „Ja, ich werde mir einen Tee machen und mich ausruhen, bis du kommst. Bis später.“ Drehte sie denn durch? Konnte das alles auf den Mangel an Schlaf zurückzuführen sein? Völlig durcheinander blickte Marie auf ihre schlafende Tochter. Da lag sie, wie ein kleiner Engel, mit blondem, lockigem Haar!