Lilyluna, Ravenclaw -

Eine Gestalt apparierte an den Rand des Geländes von Hogwarts. Es war früher Morgen und Dunkelheit legte sich immer noch über das Land, wie eine Bettdecke über einen Schlafenden. Neunzehn Jahre waren nach der legendären Schlacht von Hogwarts vergangen. Neunzehn Jahre, in denen viel passiert war. Der blasser werdende Mond beleuchtete das schwarze Haar. Es war Harry Potter, der, in einen Mantel gehüllt, den Weg zum Schlossgelände antrat. Er war älter geworden seit den vergangenen neunzehn Jahren, die wirren Haare waren schon zurückgegangen und leichte Falten gruben sich in seine Wangen. Und trotzdem war es derselbe Weg wie vor neunzehn Jahren, als er vor demselben weißen Marmorgrab gestanden hatte wie damals. Dumbledores Leichnam lag wohlbehütet unter der Erde, zeit – und alterslos. Einen Moment lang blieb der junge Mann stehen und schwieg für den Mann, dessen Plan gegen Tom Riddle losgegangen war. Den Mann, der sein Leben für das Harrys gegeben hatte. Der Mann, der immer seinen großen Fehler bereut hatte. Und heute konnte Harry guten Gedankens sagen, dass er Albus Dumbledore vergeben hatte. Er hatte seinen Sohn nach diesem Mann benannt, der für ihn Mentor und Vater zugleich gewesen war. Albus Dumbledore lebte weiter im Sohn seines Schützlings. Doch nicht nur er. Auch der Mann, dem Dumbledore am meisten vertraut hatte, hatte einen Platz in Harrys Herzen gefunden. Albus Severus Potter hatte als einziger Lilys Augen geerbt. Die Augen, die sein Namenspatron so geliebt hatte. Severus Snapes Grab stand in der Nähe der Kerker auf einem plattgedrückten Stück hoher Wiese. Die aufgehende Morgensonne hüllte den grauen Stein in ein gespenstig leuchtendes Licht. Harry lief ein Stück weiter und sah in der Ferne den Gryffindor-Turm im Sonnenlicht aufblitzen. Der Ort, an den er sich so oft zurückgezogen hatte, zu Weihnachten dort die Geschenke ausgepackt hatte und zusammen mit Ron Zauberschach gespielt hatte. Der Ort, an dem sie sich alle versammelt hatten, über Hausaufgaben grübelten und auch Streite ausfichten. Es war vorbei. Lavender zum Werwolf mutiert, Hermine und Ron verheiratet und weit weg von Hogwarts in ständigem Briefkontakt mit ihm, Dean allein im Ausland. Seamus mit dauerhaften Verletzungen trotz Madame Pomfreys Mühen, Parvati als Studentin in Oxford, immer mit Rückfällen in den Krieg. Nur Neville war geblieben. Als Lehrer für Kräuterkunde hatte er Professor Sprout abgelöst. Für ihn war ein Stück Heimat geblieben. Und Harry sog jedes Stück von Hogwarts in den Briefen seiner Söhne auf. Er ließ sich alles berichten und merkte mit jedem Wort, wie er sich nach Hogwarts sehnte. Seiner einzigen Heimat. Harry schlief nicht gerne mit geschlossenem Fenster. Er fühlte sich eingesperrt, gefangen. Manchmal wachte er nachts auf, schweißgebadet und rasselnd atmend und schlief erst wieder ein, wenn er Ginnys regelmäßiges Atmen neben sich hörte. Ginny schlief nie unruhig. Sie hatte zu viel zu tun. Die Kinder, der Haushalt, die Freunde. Manchmal beneidete Harry seine Frau darum. Tagsüber, wenn er ohne Auftrag mit einem Kaffee in der Hand, im Aurorenbüro saß, kamen die Bilder nie. Sie kamen immer nachts. Krochen zu ihm. Schlichen unter seine Decke, in sein Herz und folterten ihn. Bald würde Albus Severus vielleicht wie sein großer Bruder im Gryffindor-Turm leben und mit seinen Freunden dort lachen und spielen. Die Morgensonne war schon ein Stück weiter aufgegangen und hüllte jetzt das gesamte Schloss in ihr Licht. Hagrids Hütte, Schauplatz so vieler schöner Stunden mit dem Halbriesen und seinem Hund. Daneben umspielte ein sanftes Lüftchen das Quidditchfeld und alles in Harry sehnte sich danach, noch einmal auf einen Besen zu steigen und in die Lüfte hinaufzusteigen. Und was würde er dafür geben, noch einmal den Raum der Wünsche zu betreten, den Ort, wo sie alle ausgebildet worden waren. Von ihm. Und so vielen hatte auch das nichts gebracht. Colin. Tot. Cedric. Tot. Fred. Tot. Ja, besonders der Gedanke an Fred schmerzte. All die Jahre waren die Zwillinge immer dabei gewesen, immer witzig, immer freundlich. Und dann war er fort. Fred war fort. Das Grinsen eingefroren, den Schalk noch in den Augen. Harry merkte jetzt erst, wie wichtig die beiden für ihn gewesen waren. Als die halbe Winkelgasse geschlossen hatte, blühte ihr Geschäft. Und vielleicht war es das gewesen, was die Leute brauchten. Einfach mal lachen. Harry wusste von Ron, dass George und Angelina einen Sohn hatten. Fred Junior. Harry hatte Fotos von ihm gesehen, wie er lachte, so fröhlich, so unbekümmert. Und nicht nur Fred Junior hatte überlebt. Die DA hatte viele gefördert. Und es hatte unerwartete Helden gegeben, die die Schlacht bekämpft und überlebt hatten. Neville, Luna, Ginny. Sie alle lebten. Für sie hatte es sich gelohnt, weiterzuleben. Und während die Sonne endgültig hinter den Bergen hervorkam, lehnte Harry sein Gesicht ein letztes Mal gegen das schwere Eichenportal und spürte die Wärme des Holzes auf seiner Wange. Er gedachte jeder einzelnen Person, die hier ihr Leben gelassen hatte. Remus, Tonks und Fred. Colin, Severus und Albus. Und so viele. So unnötige Opfer. Sein Herz schmerzte bei jedem Gedanken an sie. Und doch vollbrachte er einen letzten Kraftakt und hob den Zauberstab, um drei Wörter in die Holzpforte einzugravieren, die das Leben besser als alles andere beschrieben. Dann wandte er sich wehmütig ab und wenig später ertönte der Apparationsknall hinter der Grenzmarkierung. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass er Hogwarts besucht hatte. Er musste Abschied nehmen. Und während sich ein letzter Sonnenstrahl über die Berge schlich, konnte man endlich die drei Wörter in der Holzpforte erkennen, die wie geschaffen waren für die Spuren dieses Krieges. „Es geht weiter.“