Geschichte - -

[COLOR=skyblue][SIZE=20]~* Schnee *~[/SIZE][/COLOR]

Kalt, eiskalt, so kalt, dass sich der Atem sofort in kleine Eiskristalle verwandelte. Nebel, so dicht, dass man kaum mehr die Hand vor den Augen sah. Wind, scharf, durchdringend, dass man Mühe hatte auf den Beinen zu bleiben. Schnee, weiß, rein, aber hart, wurde in unsere Gesichter geweht, setzte sich in den Schals fest. Angst, Furcht davor in eine Spalte zu fallen und dort zu erfrieren. Keiner wusste, ob er überleben würde. Die Chancen sanken. Schon lange war die Sonne untergegangen. Längst hätten wir unser Ziel erreichen sollen. Aber wir irrten noch immer durch den Sturm. Vielleicht lockte unsere Angst es an, ich weiß es nicht, auf einmal war es da. Ragte vor uns aus dem Schneesturm. Riesig war es, größer als ein Haus; breiter als ein Kirchenportal. Bewachsen mit zottigem, dichten, weißen Fell. Mein Atem stockte. Ich war paralysiert. Kein Glied konnte ich bewegen. „Was ist das?“, dachte ich. Hörte mein Herz laut schlagen. Sah, meine Augen weit aufgerissen, wie es einen aus der Gruppe, Frank, mit riesigen, klauenbesetzten Händen ergriff und das Maul aufsperrte. Es war grauenhaft. Es schob den vor Angst schreienden Frank immer weiter in den geöffneten Mund. Zermalmte ihn gemächlich mit den Zähnen, als ob er eine besonders köstliche Speise wäre. Bis heute weiß ich nicht, warum ich nicht fortgerannt bin. Warum bin ich dort geblieben? Warum blieb ich stumm? Es wäre verständlich gewesen. Die anderen schrien, liefen fort, fort von dem Monster. Fort, immer nur fort. Sie wollten ihr Leben retten. Es war ihr Ende. Ich wünschte, auch ich wäre fortgelaufen. Aber ich konnte nicht. Meine Beine schienen festgewachsen. Wie gebannt verfolgte ich das grässliche Schauspiel. Unfähig meine Augen abzuwenden. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand. Wie lange ich zusah, wie es Frank zerstückelte. Wie es mit seinem Blut den Schnee besudelte. Wie Stücke des toten Körpers aus seinem Mund fielen. Es war nicht viel, nur ein paar blutige Finger, Zehen, Hautfetzen. Ein Schrei ertönte, laut, voller Angst, als ob jemand sterbe. Abrupt brach er ab. Der Urheber schien zu schweigen. Bald ertönte der nächste Schrei und bald darauf wieder einer. Ich hatte Angst. Angst, dass der Tod nun auch die anderen geholt hatte. Angst, dass noch mehr Monster zwischen den Felsen lauerten. Angst, dass auch ich sterben würde. Jede Minute, Sekunde, fürchtete ich, dass mein Ende kommen würde. Gleich, gleich würde es mich fressen. Bald ist nicht mehr viel von mir da, so dachte ich. Langsam schloss ich mit der Welt ab. Tränen standen in meinen Augen. Ich war noch jung. Ich hatte ein Leben vor mir. Gestern noch. Ich wollte noch nicht sterben. Ich schloss die Augen. Nicht fähig dem Tod ins Gesicht zu sehen. Erwartete Krallen. Krallen, die mich aufschlitzten. Zähne, die meine Knochen zu Staub zermalmten. Ich wartete und wartete, doch nichts geschah. Zögerlich öffnete ich die Augen. Erwartend, dass das Monster vor mir stehen würde. Das Maul weit geöffnet, um die Zähne in mein Fleisch zu bohren. Doch ich sah nichts. Nichts, nur weiß. Weißen Schnee, nicht mehr rein, sondern mit Blut besudelt. Ein Glücksgefühl überrannte mich. Überfiel mich. Ich verstand. Das Monster war fort. Ich würde leben. Freudentränen traten in meine Augen. Schluchzend ging ich zu Boden. Versank im Schnee. Unendlich glücklich. Ich dachte nur noch eins: „ Ich lebe! Ich lebe!“ Nicht die Kälte fühlend, die langsam nach mir griff. Heute wünschte ich, es hätte mich gefressen. Oder ich wäre im Schnee erfroren. Ich wünschte, die Jäger des nächsten Dorfes hätten mich nicht rechtzeitig gefunden und gerettet. Ich wünschte, ich wäre damals gestorben. Wäre ich damals nur weggerannt. Wäre ich doch auch in eine der tiefen Spalten gestürzt. Oder wäre ich auch im Schnee erfroren. Von dem Untier gefressen worden. Ich hätte soviel nicht mehr erleben müssen. Ich wäre heute nicht hier. Ich würde das hier nicht schreiben. Ich wäre nicht einsam. Man hat mir nie geglaubt. Man hat mich in ein einsames Zimmer gesperrt. Einsam und allein in einen weißen, leeren Raum. Ich gelte als verrückt. Weil ich die Wahrheit sage. Man hat mir nie geglaubt. Die Wahrheit. Die Wahrheit, sagen sie, ist, dass wir uns in einem Schneesturm verirrt haben. Das alle bis auf Frank und ich in Spalten gefallen sind und das ich Frank vor lauter Hunger zerstückelt und gegessen hätte. Sie sagen, das sei die Wahrheit und ich würde lügen. Lügen. Lügen tun sie. Sie werden irgendwann sehen, dass ich Recht habe. Aber das wird irgendwann nach mir sein. Wenn ich schon lange nicht mehr bin, werden sie sagen: „Die Verrückte hatte doch recht.“ Aber das werde ich nicht mehr erleben. Meine Zeit ist endlich zu Ende. Die Einsamkeit ist zu Ende. Ich werde den Anderen bald folgen.