5. Platz - Logan - Slytherin - Dem Mond geweiht
Aus den Tagebüchern von Rallella Larié, Selkie aus der Umgebung der Orkney-Inseln Ach, wüssten die Menschen doch, wie wunderschön und erhaben das Leben in den tiefen Wassern ist, unter der Oberfläche, weit weg von Lärm und Gestank, weit weg von der Bosheit und Gleichgültigkeit derer, die sich die Herren der Welt nennen... Wie einfach und leicht ist unser Leben, wie erfüllt vom Klang der Wellen, vom Plätschern des Wassers über Kiesel und Felsen, wie herrlich duftend die Algenblüte und wie kostbar jedes Seerosenblatt... Wie belebend und erfrischend die kühle Dunkelheit schmeckt, wie glitzernd die Schwärme der Fische, wie farbenprächtig die Tiefseebewohner sind, wie glücklich und unbeschwert unser Leben... Heute will ich über einen ganz besonderen Tag schreiben. Die Menschen feiern viele solcher Festtage, aber sie verstehen nicht... sie wissen nicht, dass entweder jeder Tag heilig ist oder gar keiner. Für uns ist jeder neue Tag, ist jede dunkle Nacht ein Grund zum Jubilieren, ein Grund zum Tanzen, Singen und Glücklichsein. Wir feiern die hereinbrechende Flut, die so viele neue und alte Freunde bringt, die erfüllt ist von Wiedersehensfreude und Vitalität, die uns hinaus trägt in den tiefen Ozean; wir feiern die sanfte Ebbe, die uns von Sorgen und Kummer befreit, die uns Einsamkeit schenkt und uns nachdenken lässt; wir feiern den Beginn des Winters, die ersten Schneeflocken, die zart und kaum merklich auf die Gischt fallen, die angenehme Kühle, die uns erfrischt, die zugefrorene Oberfläche des Wassers, die in der Sonne glitzert wie zerbrechliches Glas; wir feiern die kalten Stürme, die es uns erlauben, vollkommen unbeobachtet in der Brandung zu tanzen; wir feiern sogar den Beginn der warmen Jahreszeit, indem wir uns in tiefere, kühlere Regionen der See zurückziehen und dort, ungesehen und frei, schwimmen und tanzen und herumtollen wie kleine Kaulquappen... Es gibt so viele Gründe, das Leben zu feiern, so viele Anlässe zu genießen, zusammen zu sein, auszukosten, was die Natur uns schenkt... Die Menschen haben vergessen hinzuschauen, sie sehen nicht mehr, was sie glücklich macht, nur, was ihnen Geld bringt, Erfolg und Ansehen. Sie verstehen nicht, was ein Leben im Einklang mit der Natur wirklich bedeutet, und ich kann es ihnen nicht erklären, denn jeder Versuch träfe auf Unverständnis und Gleichgültigkeit. Aber ich will diesen besonderen Tag beschreiben, in der Hoffnung, dass es irgendwann vielleicht anders ist... Wann immer wir können, feiern wir den Mond, unsere Mutter, unsere Göttin. Wir verehren sie in all ihren Formen, aber wenn sie groß und rund am Himmel steht, so nah, als bräuchten wir nur die Hand auszustrecken und könnten sie berühren, dann sind wir von einer Ehrfurcht ergriffen, die ihresgleichen sucht. Es geschieht nicht oft, dass sie so nahe bei uns ist, das letzte Mal war vor 20 Jahren! In den Tagen und Nächten vor so einem außergewöhnlichen Vollmond sind wir mit den Vorbereitungen beschäftigt: wir studieren Gesänge und Tänze ein, wir bereiten Opfergaben vor, wir sind einfach von solch einem Gefühl des Glücks und der Ergebenheit erfüllt, dass wir platzen könnten! Wir reinigen die Wellen von allem Müll der Menschen, wir sprechen Zauber gegen neugierige Beobachter an Land, wir vertreiben Schiffe und Seeleute mit Stürmen, Flauten oder abschreckenden Horrorphantasien. Diese Nacht lassen wir uns nicht von den Menschen verderben, diese Nacht gehört allein uns! Wir ernten die Früchte der Tiefe, bereiten Quallenwein und Algenrisotto zu, wir schmücken unsere Welt mit den Gaben der See: Muscheln, Kiesel, Bernstein, Sand. Und jeder ist uns willkommen: die Haie und Wale der offenen See, die Robben und Seeleoparden, Oktopusse und Korallen, kleine und große Bewohner des Meeres; wir alle feiern zusammen den Einbruch der Nacht, das Erscheinen des Mondes, den Beginn unserer Feierlichkeiten. Und wenn sie dann voll und weiß am Firmament steht, wenn ihre liebliche Stimme uns ruft bis in die tiefsten Tiefen der See, dann kommen wir hervor aus Höhlen und Furchen, zwischen Steinen und Seetang, steigen empor aus der Flut und heißen sie willkommen. Dann tanzen wir zu ihren Ehren, singen ihre Lieder und sind von einem Gefühl des Richtigseins erfüllt wie selten zuvor. Wir preisen ihre Schönheit und reichen ihr Geschenke: feine Blüten und Algenblätter, kunstvoll zu Collagen geflochten; Bernsteinketten und Bilder aus Sand; eine Melodie aus Wassertropfen, kaum hörbar und doch wunderschön. Wir erzählen ihr Geschichten aus alter Zeit; wir singen ihr Lieder, so tief und beruhigend oder hoch und klagend wie nur wir es können; keine Melodie der Menschen kommt unserer gleich, keine Harfe ist so sanft wie der duftende Meeresschaum am Ufer des Ozeans, keine Posaune so gewaltig wie die stürmende Brandung, die sich an bergigen Küsten bricht, kein Mensch kann die Gesänge der Buckelwale auch nur im Ansatz imitieren; wir tanzen für sie in den Wellen, wir reiten auf den Fischen durch die schäumende Gischt und springen von Felsen kopfüber ins Meer. Wir ehren sie durch unsere Freude, unsere Trauer, unsere Dankbarkeit. Ich habe die Menschen von Göttern sprechen hören, überirdischen Wesen, die ihnen Regeln und Gesetze aufzwingen, von Himmel und Hölle, von Engeln und Dämonen... Aber für uns ist der Mond kein kaltes, fernes Wesen ohne Leben, ohne Verstehen; sie ist unsere Schönheit, unsere Wahrheit, die reine und mächtige Natur einer fantastischen Welt... Und heute, wenn sie uns so nahe steht, wenn sie am tiefblauen Himmel sanft und gütig auf uns herablächelt, dann sind wir glücklich. Dann steigen wir zu ihr empor, die Arme ausgestreckt, die Gesichter ihr zugewandt, die Augen voller Sterne und Lachen. Wir grüßen sie, wir tanzen für sie den ewigen Tanz von Leben und Tod, von Liebe und Lust, von Werden und Vergehen... In großen Kreisen umschwimmen wir ihr Spiegelbild, tauchen hinab und springen hervor in einmaliger Choreographie. Sorglos und fröhlich wie Kinder malen wir für sie Bilder in die Wellen: Fische, Kraken und Seesterne, gewaltige Fluten, furchterregende Stürme und sanfte Strömungen. Begleitet von Delfinen, Blauhaien und riesigen Planktonschwärmen sind wir lebende Gemälde, die sich ständig verändern, die wachsen und fallen. Und dann preisen wir sie in unseren Gesängen. Liedern von betörender Schönheit. Wir erzählen ihr von unserem Leben, von Freundschaft und Liebe, von Erlebtem und Geträumten. Wir erzählen von Leid und Schmerz, von unserer Abneigung gegen die Menschen, die alles beschmutzen, was ihnen begegnet, von Schiffen, die uns verletzen, von Magiern, die uns zu fangen versuchen, von den Waffen und den schrecklichen Gerätschaften, die unser Leben gefährden. Wir trauern um die Wale, die getötet wurden, um die Meere, die vermüllt sind, um all die Freunde, die wir verloren haben... Und sie hört uns. Sie tröstet uns allein mit ihrer Anwesenheit, sie gibt uns Kraft, den Mut nicht aufzugeben, den Willen weiterzumachen. Dafür lieben wir sie. Sie urteilt nicht, sie bestraft nicht, sie entscheidet nicht für uns. Sie ist einfach nur da. Majestätisch und machtvoll. Die ganze Nacht tollen wir um sie herum, singen, tanzen und lachen, bis die Morgendämmerung anbricht und die Sonne den Mond langsam verblassen lässt. Wenn der Himmel sich lichtet und sie sich für den Tag verabschiedet, dann kehren wir in unsere Welt unter den Wellen zurück. Wir sind erschöpft; glücklich, zufrieden und müde. Wir laben uns am reichhaltigen Buffet des Meeres, an all den köstlichen Speisen, die die See uns so großzügig schenkt: Muscheln, Tang und Krebstiere, berauschender Wein aus Tang und Seerosenblüten, Kuchen aus Perlmutt, Sand und Seegras, leckerer Seesalat und dazu kühles, erfrischendes Salzwasser. Manchmal baden wir auch in heißen Quellen oder schwimmen hinauf in den eisig kalten Norden. Wir genießen die Einsamkeit oder die Geborgenheit unserer Freunde und Familien. In dieser Nacht denken wir nicht an all das Unglück, das wir gesehen und miterlebt haben; in dieser Nacht sind die Menschen uns so fern, als lebten sie in einer ganz anderen Welt. Bevor die Sonne hoch am Himmel steht, ziehen wir uns in unsere Höhlen und Schluchten zurück, die uns selbst im wärmsten Sommer noch den kühlen Schatten bieten, den wir so lieben. Und dann schlafen wir. Wir schlafen und träumen und wir sind dankbar. Dankbar für den Mond, der uns so nahe ist. Dankbar für die Wunder und die Schönheit der vergangenen Nacht. Und voller Vorfreude auf die kommende Nacht, in der wir sie wiedersehen. Sie wird auf uns warten, wenn wir erwachen. Auch, wenn wir sie hinter Wolken vielleicht nicht sehen können; auch wenn es Wochen dauert, bis sie wieder voll und rund am Firmament leuchtet; auch wenn viele Jahre vergehen, bis sie der Erde wieder so nahe ist wie in der letzten Nacht. Sie ist immer da...