2. Platz - Hedwig II - Hufflepuff - Ein Fest zwischen Abgrund und Glück
Wie ein Pfeil schießt es durchs dunkle blau. Links, rechts, hin und her weicht es den entgegenkommenden grünen Flatterbändern aus. Einem kleinen Schwarm ausweichen. Schneller, schneller. Es weiß weder vor was es flieht, noch ist etwas hinter es her. Doch es weiß, etwas kommt! Einen Blick nach oben, ins milchige Licht. Einen Blick nach unten, in die heimtückische Schwärze, die es in seinen Schatten ruft, doch gleichzeitig spürt es die düstere Vorahnung, die von unten heraufsteigt. Es erinnert sich an die Panik, an das Gewusel seiner Opfer und Feinde, alle in derselben Angst vor derselben Gefahr. Doch es vergisst immer wieder, vor welcher Gefahr! Es schwimmt schneller, auf ein Licht zu. Stoppt. Starrt erschrocken in ein großes Paar schwarzer, kugelrunder Augen. „Schau dir den frechen Fisch an!“, quietscht das Selkiemädchen vergnügt. Der Seetang, der als Vorhang dient, ist zurückgebunden, sodass sie Auge in Auge mit dem Wesen vor dem Fenster ist. Sekundenlang verharrt der Aal, dann dreht er um und verschwindet wie ein Blitz in dem Grün in ihrem Vorgarten. „Viel Glück, mein Hübscher!“, ruft sie ihm hinterher, bevor sich das Mädchen wieder ihrem kreisrunden Wohnhaus zu dreht. Im Gegensatz zu dem Fisch weiß sie was heute Abend passieren würde: Es ist der 24. Dezember, der Tag im Jahr, an dem der Kelpie die Wasseroberfläche durchbricht. In der Sprache der Selkies hat der Tag einen kurzen Laut, der in ihren Ohren wie ein Jubel klingt und Vergangenes und Zukunft mit dem Band der Hoffnung vereint. Dieser Tag war schon immer ein Fest für die Wasserwelt, besser gesagt für die Wassermenschen. Für die kleineren Anwohner, wie dem armen Aal, ist es ein Glücksspiel, ob sie den Abend überleben oder nicht. Das Auftauchen des Kelpie im Winter ist für die Wassermenschen ein Lichtblick wie die Wintersonnenwende (die dieser ja nur knapp verpasst). Es gibt ihnen Hoffnung, dass der Winter bald ein Ende hat und dass darauf ein glückliches, fischreiches Jahr folgt. Und bisher hat der Kelpie ihnen immer dieses Glück beschert, wie sie als fischreichster See Schottlands behaupten dürfen. Heute Morgen wurde nicht lange geschlafen, dies ist Tradition. Nach einem frühen Aufstehen ohne Mahlzeit, die bei den Selkies, den Wassermenschen dieser Region, zu der wichtigsten und meist einzigen Mahlzeit am Tag gehört, ging es an das Saubermachen. Alter Sand wurde aus der Hütte herausgefegt, nach neuen Steinen für die Essenszubereitung gesucht, die Vorhänge erneuert und was ihnen sonst noch einfiel. Das Mädchen knirscht mit den Zähnen, sie ist das lange Fasten nicht gewöhnt und ihr Bauch sehnt sich schon nach der Feiertags Mahlzeit. Sie schwimmt zu dem Spiegel, den ihre Mutter zur Hochzeit an der Wand des einräumigen Hauses hatte aufstellen lassen. Ihr Spiegelbild lacht ihr herausgeputzt entgegen. Die Haare in der Farbe von dem durchnässten, in Mondlicht schimmernden Treibholz an der Wasseroberfläche, hat sie vorhin auf Schulterlänge gekürzt, wie es an diesem Tag im Jahr üblich ist. Die Befreiung vom Alten, der Aufbruch ins neue Jahr. Nach dem Hausputz war sie mit ihrer Mutter und den anderen Frauen an das Algenmeer in der höher gelegenen Region geschwommen. Zwischen bunten Seeblumen und weichem Tang hat sie es sich gemütlich gemacht und über das vergangene Jahr nachgedacht. Vor allem für sie steht im nächsten Jahr viel bevor, sie ist nun alt genug für einen Wassermann. Danach haben sich alle Frauen ihrer alten Kleider entledigt. Ein befreiendes Gefühl, entblößt und singend sind sie über die Wiese getanzt. In den abgelegten Sachen der anderen Frauen, auf dem Boden der Wiese und des umliegenden Strandes, der von Muscheln und kleinen Meeresbewohnern nur so wimmelt, haben sie sich neue Kleider gesucht. Der Spiegel zeigt ihr ihr neues Kleid, gewoben aus grünlichem bis violetten Seetang, mit einer rosafarbenen Seeblume an der Schulter und mit kleinen, silbernen Fischschuppen verziert. Nach der Rückkehr der beiden Frauen haben sie noch einige Zeit auf ihre Männer warten müssen, für die zu der Kleidererneuerung eine Waffenerneuerung gehörte, welche danach direkt eingeweiht wurden. Die Mutter bittet ihre Tochter um Hilfe und gemeinsam wickeln sie den frisch gefangenen Fisch in die Algenblätter. Aus einer teigigen Masse hat die Mutter einen runden Kuchen geformt, in den sie Garnelen und andere seltene Köstlichkeiten einarbeitet. „Seid ihr fertig?“ Der große Bruder steckt seinen Kopf in die Behausung und seine mondlichtfarbenen Haare treiben frech in alle Richtungen. „Raus mit euch, Mannsvolk!“, rufen Mutter und Tochter aus einem Mund. Das frisch geputzte Haus ist lediglich den Frauen erlaubt zu betreten, um die Speisen vorzubereiten. Der junge Selkie macht eine ergebene Geste und zieht sich zurück, schiebt aber vorher ein kleines Ebenbild seiner in die Hütte. „Der zählt wohl kaum als Mann“, beschließt die Mutter lächelnd und schaut, wie ihre Tochter ihren Bruder liebevoll auf den Arm nimmt. „Heute Nacht werde ich Nessi reiten“, prahlt der kleine Junge mit leuchtenden Augen. Seine Schwester strubbelt ihm lachend durch die Mondscheinhaare, „Das will ich sehen.“ Es ist Tradition unter den jungen Männern, ihren Mut durch einen Kelpieritt zu beweisen. Die, die lebend zurückkehren, haben den Respekt des ganzen Stammes. „Nein, wirklich“, quengelt der kleine Selkie mit dem typisch für Selkies früh ausgebildeten Wortschatz, aber der hohen Stimme es kleinen Kindes, „Ich habe sogar schon einen Speer!“ Er hält einen plumpen, runden Stein in die Luft. „Sehr effektiv- falls du den Kelpie erschlagen willst“, kichert seine Schwester. Unbeeindruckt schlüpft der Kleine aus ihren Armen und lässt sich auf dem Boden mit seinem Stein nieder. Nachdem der Mond eine Weile schon das Wasser beleuchtet hat, versammelt sich unsere Selkiefamilie mit den anderen auf den extra für dieses Fest gedachten Festplatz, am Rand der Schlucht, aus der der Kelpie jedes Jahr entsteigt. Der Platz ist festlich geschmückt, Lichter sind aufgestellt und bunte Wassergewächse treiben rhythmisch hin und her. Auch die Tierwelt sorgt ungewollt für ein besonderes Bild. Wie silberner Lametta im Wind wirken die Fischschwärme, die auf der Flucht vor der Gefahr durchs Wasser hetzen. Das Zucken und Aufblitzen in der dunklen Umgebung weckt besonders in den jungen Wassermenschen den Drang zu tanzen. Zurückhaltend lächeln sie ihrem Vater bzw. Mann zu, der mit dem großen Bruder und den anderen erwachsenen Wassermännern die Fischopfer vorbereiten. Der Kelpie hat die Wassermenschen meistens in Ruhe gelassen, es ist ein sanftmütiges Wesen für seine Art. Damit dies auch so bleibt, bereiteten die Wassermenschen ihm ein Festmahl vor, bei dem sie sozusagen 2 Fische mit einer Klappe schlagen. Seebewohner, die den Winter nicht überlebt haben, sowie schwache Fische, deren Ende absehbar war, wurden dem Kelpie geopfert. Ein weiteres Bereinigungsritual und gleichzeitig ein Geschenk für den großen Gast aus der Tiefe. Auch mancher verstorbener Wassermensch ist in den Algen der umliegenden Felder verborgen. Ein gruseliger Gedanke für manche Wasserfrauen, doch eine große Ehre für die Verstorbenen. Der Kelpie wird sie schon finden, wenn er sich auf seinen nächtlichen Tanz durch die Felder und Wiesen des Sees auf macht. Der musikalische Teil des Abends beginnt. Wassermänner spielen auf mit Haaren bespannten Instrumenten, die dumpf durchs Wasser hallen und einen vollen Klang mit den glockenhellen Stimmen der Sänger und Sängerinnen bilden. Die jungen Mädchen beginnen zu tanzen, erst hüpfen sie in fröhlichen Bewegungen im Kreis, drehen sich miteinander und tanzen auf einstudierten Positionen. Einige junge Wassermänner vollführen akrobatische Kunststücke, schwimmen umher, verschlingen sich zu turnerischen Wundern und schrauben sich durchs Wasser. Ein Wassermann, dessen Schritt von der Jünglich- in die Männlichkeit nicht lange zurück liegt und seine silbernen Haare, wie Fischschuppen, in einem langen Zopf trägt, fällt dem Selkiemädchen besonders ins Auge. Er sitzt bei den Musikern und hat eine Trommel zwischen die Beine geklemmt. Als die Akrobaten fertig sind, beginnt er mit anderen dumpfen Instrumenten zu spielen. Die Tänzerinnen werden langsamer, melancholischer wirken ihre Bewegungen, doch gleichzeitig strahlen sie unterdrückte Spannung aus. Der Trommler erwidert ihren Blick und sie lächelt ihn schüchtern an, bevor sie ihren senkt. Ihre Mutter reißt lachend mit den Tänzerinnen die Arme in die Luft und stößt einen langgezogen, melodischen Ruf aus. Partnerschaften, die an einem 24. Dezember geschlossen werden, stehen in einem guten Licht. Daher sind die älteren Selkiefrauen besonders erpicht, dass ihre Kinder einen Partner beim Festen kennen lernen. Die Tänzerinnen schlängeln sich nun in Richtung des Abgrundes zu, fassen sich an den Händen und stimmen in den Gesang ein, der nun tief und lockend ist. Die anderen Instrumente sind verstummt, nur das Pochen der Trommeln ist zu hören. Wer darauf achtet kann bemerken, dass die vorhin noch wild umher geflatterten Fische verschwunden sind, alles ist ruhig bis auf die Masse der Selkies, die nun gemeinsam, in unterschiedlichen Tonlagen zwar und variierenden Texten, jedoch klingend wie aus einem Munde, sich dem Gesang anschließt. Ein Meer aus schwarzen, runden Augen ist auf das Dunkel gerichtet, was den Hang in die tiefste Spalte des Sees erahnen lässt. In dem Moment, wo der Aal in eine sichere Höhle flüchtet, erhebt sich ein großer, schlanker Kopf aus der Tiefe. Es folgt Hals, langer Hals, immer länger und länger. Dann hält das Wesen inne und betrachtet die eingefrorenen Feiernden mit hungriger Gier in den Augen. Der Moment ist jedes Jahr ein Nervenkitzel für die Wassermenschen, das Schweigen ist fast schon wieder zu laut für ihre Ohren. Der entscheidende Moment. Entweder der Kelpie würde sie fressen, ein sicheres Zeichen für ein schlechtes Jahr, dem die Wassermenschen dankbar damit entgehen würden, oder er würde ihr Opfer annehmen. Es senkt langsam den Kopf. Ein Zeichen zum Angriff? Nein, eine dankbare Geste. Es nimmt das Opfer an. Bevor die Zuschauenden von ihrer lähmenden Angst befreit sind, hat der Kelpie den bunten Opferhaufen schon verschlungen. Erst als es ins anliegende Feld aufgebrochen ist, wo weitere Festüberraschungen auf ihn warten, bricht der Jubel aus. Die Instrumente setzen schlagartig wieder ein, überdrehte Junge zerren ihre Geliebten auf den sandigen Boden zum Tanzen, manch andere singen ein Dankeslied. Das Selkiemädchen sieht aus den Augenwinkeln, wie eine tuschelnde Gruppe junger Wassermänner ins grüne Feld verschwindet. Die, die ihren Mut beweisen müssen zu meinen. Der Trommler ist nicht dabei. Ihr Bruder, der an sie herangetreten ist, schüttelt verständnislos den Kopf. An einem Festtag würde er nicht sein Leben aufs Spiel setzen, und auch sonst ist er nicht die Sorte von Mann, die sich durch Kraft und Stärke beweisen will. Stattdessen gehört für die Familie ein kleiner „Spazierschwamm“ zu dem Fest. Sielassen die singende und feiernde Menge hinter sich und machen sich auf den Weg nach oben, mit einigen anderen, die das Fest lieber ruhig ausklingen lassen. Das Wasser steht still um sie herum, die Geräusche seiner Bewohner verstummt. Der See ist ruhig und leer, man spürt die Magie dieses Tages. Den kleinen Selkiejungen in der Mitte schwimmen die Geschwister nach oben, gemächlich und die Festlichkeit des Moments genießend. Gleichzeitig mit ihren Eltern erreichen sie die Wasseroberfläche, ihre Haare treiben auf ihr und ihre schlanken Gesichter, die die Luft nicht gewöhnt sind, recken sich dem Mondlicht entgegen, dem einzigen Himmelslicht dem sie sich gerne aussetzen. Sie schweigen in dem Wissen, dass ihre Stimmen in der Luft fremd klingen würden. In der Nähe des Ufers, am Waldessaum, finden sie einige aus dem Wasser ragende Felsen, auf denen sich schon andere Selkies gemütlich gemacht haben. Der See ist ruhig, auch von der anliegenden Menschenstadt kommt kein Laut, so wie jedes Jahr. Auch sie feiern den besonderen Tag in ihren Häusern mit ihren Familien. Wie in einem Nest, umgeben von den Highlands, liegt Loch Ness vor ihnen. Ein Lichterflackern geht von einem Felsvorsprung an einem Berghang aus. Urquhart Castle, ein grimmig wirkender und verlassener Ort, dessen Würde die Wassermenschen an die Vergangenheit erinnert, als die Menschen noch nicht angerückt waren um ihren Glücksbringer, ihren Kelpie, den die Menschen auf den lächerlichen Namen „Nessi“ getauft haben und der von den jungen Wassermenschen scherzhaft in ihre Sprache übernommen worden war, zu fangen. Von der Ruine hat man eine gute Sicht auf den See und heute haben sich, wie jedes Jahr, die Zaubererfamilien der Umgebung an diesem Ort versammelt, um dem Auftauchen von Nessi beizuwohnen. Die Selkies stört ihre Anwesenheit nicht, obwohl es ihr Fest ist und nicht das der Menschen. Sie werden von ihnen in Ruhe gelassen und außerdem schützen sie sie vor den Blicken der neugierigen nichtmagischen Menschen. Die Wassermenschen können die Faszination der Menschen verstehen. Auch sie warten auf den Moment, in dem sich Nessi aus dem Wasser erhebt und im Mondschein badet. Wie ein Seeungeheuer taucht es aus dem Wasser auf. Die versammelten Selkies stoßen andächtige Laute aus. Es schüttelt sich erst, streckt seinen Hals in Richtung des Himmellichtes, dann taucht es wieder unter und springt wie ein Delfin durchs Wasser. Nach dem es sich eine Weile ausgetobt hat, treibt es reglos in der Mitte des Sees, und gute Beobachter können erkennen, wie es seine Augen andächtig schließt. Was für ein Anblick! Unsere Selkiefamilie lässt sich von den Steinen zu Wasser gleiten. Solch ein langes Fasten ist eine Qual für ihre Rasse und auch wenn sie diese über die Aufregung vergessen konnten, drängt nun doch der Jüngste zum Essen. Zuhause endet der Festtag bei dem leckeren Mahl. Sie unterhalten sich über die Leckerbissen, die sie in dem Kuchen finden und die Mutter prophezeit aus ihnen das nächste Jahr. Mit gefülltem Magen lauschen sie den Geschichten des Vaters. Die Geschichten vom Seeungeheuer, die Vermutungen über seine Familie und schließlich im Familienkreis Rück- und Vorblick in die nächste Zeit. Zwischendurch wird wieder viel musiziert, die Eltern holen ihre Instrumente raus und die Familie besingt das Glück, das „Seeungeheuer“, die Familie und die Zukunft. Anstatt dass auch für sie der Abend ausklingt, begeben sich die beiden älteren Geschwister noch einmal zurück aufs Fest. Ausgelassen wird hier getanzt und gesungen, helles Gelächter erfüllt das Wasser und einige aus den Hütten stibitzten Leckereien werden unter dem hauptsächlich jungen Volk verteilt. Das Selkiemädchen lässt sich von der heiteren Stimmung anstecken und tanzt mit ihrem Bruder lachend am Rand der Gemeinschaft. Bis plötzlich die Hand in ihrer eine andere ist und sie hinter dem silbernen, vom Tanzen verwirbelten Haar die glänzenden Augen des Trommlers erkennt. Auf eine glückliche Zukunft im Loch Ness!