1944 - -
Das Frühjahr kam rasch. In den letzten Wochen war das Wetter hässlich gewesen und so hatte Helena die meiste Zeit in ihrem Kreuzgang verbracht. Tom besuchte sie nun mit großer Regelmäßigkeit. Sie unterhielten sich über viele verschiedene Themen. In der letzten Zeit hatte Tom oft nach der Geschichte Hogwarts gefragt und interessierte sich besonders für die vier Gründer der Schule. Helena konnte viel erzählen, denn sie hatte die Gründer zu ihren Lebzeiten alle noch persönlich kennen gelernt. Sie berichtete von zahlreichen Ereignissen, Begegnungen und Erlebnissen. Tom war ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Es bereitete ihr Freude, ihm die alten Geschichten zu erzählen und sich dabei zu erinnern. Eines Tages im späten Frühjahr fragte Tom: „Sagen Sie, Helena, gab es eigentlich irgendeine Sache oder einen Gegenstand, der für jeden der Gründer typisch war?“ „Wozu wollen Sie das wissen?“ fragte Helena etwas scharf. „Ach, ich bin nur neugierig. Wissen Sie, Albus Dumbledore zum Beispiel hat ja seinen Phönix oder Dilys Derwent, sie hatte doch diese kleine Phiole mit der speziellen Kräutertinktur um den Hals oder nehmen Sie mich, ich trage immer mein Tagebuch mit mir herum.“ Er lächelte sie an. Nach einigem Zögern begann Helena, aufzuzählen: „Nun, Godric Gryffindor besaß dieses edelsteinbesetzte Schwert, Salazar Slytherin trug ein besonderes Medaillon, Helga Hufflepuff hatte einen kleinen Kelch und meine Mutter“, sie zögerte erneut, „besaß ein magisches Diadem.“ „Ja, von dem Schwert und dem Medaillon hatte ich schon einmal gehört. Sind diese Gegenstände erhalten geblieben?“ Helena musterte Tom genau. Dieses Gespräch ging in eine Richtung, die ihr ganz und gar nicht behagte. Immerhin war das Diadem damals ... Nein, sie wollte diesen Gedanken nicht weiterdenken, nicht jetzt. Also antwortete sie: „Das Schwert, der Kelch und das Medaillon existieren noch, allerdings weiß ich nicht, wo sie sind. Das Diadem meiner Mutter ist verschollen.“ Sie machte ein verschlossenes Gesicht und fühlte sich elend. Tom lehnte sich zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Ach, was würde ich darum geben, diese Gegenstände nur einmal zu sehen!“ Er setzte sich wieder auf und bemerkte, dass Helena gar nicht glücklich aussah. „Was ist denn?“ fragte er. Doch sie wandte ihren Kopf zur Seite und sagte nichts mehr. Nach einer kurzen Weile erhob sie sich und schwebte grußlos davon. Sie konnte nicht sehen, wie Tom hinter ihr ein grimmiges Lächeln aufsetzte. Er ließ das Thema von da an nicht mehr los. Immer wieder fragte er nach und schien eigenartig beseelt zu sein von dem Wunsch, alles über diese Artefakte zu erfahren. Helena fühlte sich unangenehm bedrängt von ihm. Sie hatte sich aber so an seine Gegenwart gewöhnt, dass sie sich ohne ihn noch einsamer fühlte als je zuvor. Die Gespräche waren erfüllend gewesen, interessant. Nun begann es, sich zu verändern. Tom drängte sie: „Sie müssen sich doch an irgendetwas erinnern!“ oder „Sind Sie sicher, dass Ihnen nicht einfällt, wo das verschollene Diadem Ihrer Mutter sein könnte?“ An einem Abend mit einem besonders herrlichen Sonnenuntergang sagte er: „Ich bin mir ganz sicher, Helena, dass Sie genau wissen, wo sich das Diadem Ihrer Mutter befindet. Ich glaube auch, dass Sie gute Gründe haben, nicht darüber zu sprechen und doch bin ich enttäuscht, dass Sie mir immer noch nicht völlig vertrauen, nach all der Zeit.“ Er starrte sie an. Helena fühlte sich unbehaglicher denn je. Auf eine ihr bisher fremde Weise fürchtete sie sich davor, dass Tom vielleicht einfach nicht wiederkommen könnte. Er war ohnehin schon in der sechsten Klasse. Nur noch ein Jahr, dann würde er die Schule verlassen. Tom hatte ihr erzählt, dass er gerne Lehrer werden wollte, dann könnten sie sich weiterhin treffen, aber sicher war das natürlich nicht. Noch nie hatte es einen so jungen Lehrer in Hogwarts gegeben. Was sollte sie nur tun? Sie rang mit sich. Tom starrte sie durchdringend an. „Wieso ist das Diadem verschollen und wo ist es?“ fragte er erneut. Helena seufzte schwer. Schließlich, nach einem weiteren tiefen Atemzug, sprach sie: „Weil ich es gestohlen habe. Mutter wurde danach sehr krank. Ich weiß nicht, ob sie an einem gebrochenen Herzen starb oder ob ihr die Magie des Diadems fehlte. Sie bat Baron de Ros, nach mir zu suchen. Er fand mich in Albanien, mitsamt Mutters Diadem. Wir stritten, es war furchtbar.“ Helena machte eine lange Pause und Tränen standen in ihren Augen. „Er tötete mich. Danach war er so verzweifelt, denn er hatte mich eigentlich heiraten wollen und gesagt, er liebte mich.“ Helena atmete schwer. „Als Sühne für seinen Angriff erstach er sich selbst – und er büßt noch heute, als Blutiger Baron, Geist von Slytherin. Er folgte meinen Spuren als Geist bis nach Hogwarts und lässt mir bis heute keine Ruhe. Ich kehrte hierher zurück, weil ich nicht wusste, wohin ich mich sonst wenden sollte. Meine Mutter hat weder mich noch ihr magisches Diadem wieder gesehen, denn ich kam erst nach ihrem Tod hier an.“ Sie sah Tom an. „Ich bin eine Diebin und habe meine Mutter entehrt. In meiner Verzweiflung und meinem Neid habe ich eine wichtige Grenze überschritten. Ich habe meiner Mutter das Teuerste genommen, das sie besaß und ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu begreifen, dass nicht das Diadem das Wichtigste für sie war. Ich war es. Ich habe meine Mutter ihrer Tochter beraubt.“ Helenas Umrisse waberten etwas, denn sie zitterte. Vor Scham und vor Wut auf sich selbst. Tom Riddle sah sie an. Lange, ohne den Blick abzuwenden. Sein Gesichtsausdruck war verständnisvoll. Schließlich sprach er: „Helena, ich kann Sie verstehen. Für mich ist es andersherum, meine Mutter hat mich im Stich gelassen, als sie sich entschied zu sterben, anstatt für mich zu leben. Den Schmerz und den Verlust kenne ich genau.“ Für einen Moment leuchteten seine Augen rot auf. Helena nahm das nicht wahr. In diesem Moment war der Schmerz zu groß, den sie Jahrhunderte lang verdrängt hatte. Zuerst hörte sie Toms Frage gar nicht. Dann wiederholte er: „Helena, wo ist das Diadem Ihrer Mutter?“ Betäubt vom Schmerz und ohne weiter darüber nachzudenken, beschrieb sie ihm die genaue Stelle in dem hohlen Baumstumpf in Albanien, wo das Diadem seit Jahrhunderten verborgen war. „Bitte, Tom, behalten Sie dies als Geheimnis zwischen uns. Nehmen Sie es als Beweis meines Vertrauens zu Ihnen. Enttäuschen Sie mich nicht!“ Mit diesen Worten verschwand Helena. Sie hatte sich einige Wochen zurückgezogen und war Tom nicht mehr begegnet. Eines Morgens stellte sie fest, wie leise es plötzlich auf dem Schulgelände und den Ländereien war. Über ihre schmerzhaften Erinnerungen hatte sie die Zeit vergessen. Die Schüler waren nach Hause gefahren. Er war gefahren - ohne sich von ihr zu verabschieden. Ein unheimliches Gefühl überkam Helena. Sie verließ das Schloss und reiste nach Albanien zu ihrem Versteck. Das Diadem war noch dort. Alles war gut. Sie kehrte nach Hogwarts zurück. Nach den Ferien kehrte auch Tom zurück. Doch er schaute nicht nach Helena. Zuerst war sie gekränkt. Aus der Ferne beobachtete sie ihn. Er hatte sich in den Sommerferien verändert. Obwohl er nun Schulsprecher war, wirkte er eigenartig isoliert. Wie zurückgezogen in eine Welt, die nur er betreten konnte. Gleichwohl schwirrten andere Slytherins um ihn herum wie Fliegen um das Licht. Helena war sehr enttäuscht. Langsam kehrte sie zurück in ihre stille Welt. Halloween, Weihnachten und ein neuer Jahresbeginn kamen und gingen. Der Frühling brach heran. Helena erinnerte sich traurig an den letzten Frühling. Ja, fast war sie so etwas wie glücklich gewesen. Nur sehr selten sah sie Tom vorbeieilen. Natürlich hatte er in diesem Jahr viel zu tun, immerhin machte er seine Abschlüsse und doch, hätte er sie nicht wenigstens ein einziges Mal besuchen können?