Miwako, Ravenclaw zu daedalus diggel - -
  Schon sieben Nächte in Folge hatte Nicolas Flamel unheimliche Dinge in seinem nach vorn hinaus gelegenen Studierzimmer gesehen. Jedes Mal wachte er gegen Mitternacht auf und ging nach unten, um das seltsame Lichtspiel an den Wänden und der Decke zu betrachten. Manchmal sah er schaurige Bilder an der nackten Wand im Flur vor der Speisekammer. Einmal sah er ein trauriges kleines Mädchen, das ihm zuzuwinken schien. Andere Male sah er lächelnde Gesichter und sein Haus, das durch einen Schrumpfzauber in einem Baumheckenwall versteckt war, bei Nacht. Aber jedes Mal verschwanden die Bilder nach längerem intensiven Betrachten. Mr. Flamel wusste nicht recht, was er von alledem halten sollte. Vielleicht hingen diese Ereignisse mit dem Stein der Weisen zusammen, den er als Zauberer hergestellt hatte. Natürlich nicht in böser Absicht, sondern genau hier in seinem Studierzimmer durch einen Zufall. Viele Gegenstände in Mr. Flamels Haus waren durch eben solche Zufälle erschaffen worden und keiner wusste etwas über sie: seine über alles geliebten Bücher, sein Stuhl, sein Besen, das Schachbett und fast all seine Umhänge. Ihre Zauberkünste waren freundlicher Natur, aus diesem Grund hatte er auch nicht das Gefühl, dass die Lichtspiele und Bilder in seinem Studierzimmer ihn betrafen oder etwas angingen. Einige wirkten irgendwie bedrohlich und unheilvoll. Dennoch, sie waren vielleicht eine Spiegelung seines momentanen Gemütszustands, der nicht sehr heiter war. Man schrieb das 14. Jahrhundert. Obwohl Mr. Flamel noch sehr jung war, fühlte er sich in letzter Zeit manchmal so als wäre er siebenhundertzehn. Das Alleinsein tat den Rest. Sein bester Freund, der im Haus Morphi wohnte, war den Sommer über verreist. Vielleicht wäre er mitgefahren, wenn nicht Perenelle, die Tochter des besten Freundes, mit von der Partie gewesen wäre, wie es auch geplant war, aber diese schien etwas anderes im Kopf zu haben. Trotzdem besuchte sie Nicolas oft zu Hause. Dann machten sie beide es sich bequem und spielten Zauberschach und redeten über dieses und jenes. Nicolas war mittlerweile etwas in diese, nur etwas ältere als er selbst, Frau verliebt, aber er machte sich keine großen Hoffnungen. Am achten Abend nach Beginn der übernatürlichen Erscheinungen saßen beide gerade im Studierzimmer und sprachen gerade über die merkwürdigen Dinge, die in der vergangenen Woche passiert waren. Nicolas war in seinen Morgenrock gehüllt und hatte sich gerade einen kleinen Drink spendiert, als der Dampf des Getränkes träge zum offenen Fenster wehte. Die schweren Vorhänge bewegten sich in der nächtlichen Brise und Motten und andere Nachtinsekten flatterten gegen das Fliegengitter. „Was glauben Sie denn, hat das alles zu bedeuten, Mr. Flamel?“, fragte Perenelle mit besorgtem Stirnrunzeln. „Spukt in ihrem Haus ein Geist oder so etwas?“ Er ließ sich mit der Antwort Zeit. „Eigentlich ein Geist“, sagte er dann langsam. „aber ich spüre, dass jemand mit mir Kontakt aufnehmen möchte. Und ich glaube, ich weiß, wer das sein könnte.“ „Und wer ist das?“, fragte sie „Ich glaube, dein Vater. Denn ich habe das Gefühl, dass diese Art Zauber seinem Wesen entspricht.“ Perenelle fragte verblüfft: „Mein Vater?“ Er seufzte. „Naja, ich rede nicht gern darüber, aber so viel ich mitbekommen habe, scheint ihm etwas zugestoßen zu sein. Aus irgendeinem Grund scheint er jetzt Kontakt mit mir aufnehmen zu wollen.“ „Warum? Wieso?“ Das klang wie eine simple Frage, doch mehr brachte Perenelle nicht heraus. „Tja, warum?“, murmelte Nicolas. Perenelle verzog gequält das Gesicht. Nicolas schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. Ein Schauder überlief Perenelle. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, dass ihre Mutter kurz nach ihrem Sterben ähnliches Auftreten bei ihr versucht hatte. „Wären wir glücklicher, wenn wir wüssten, was er von uns möchte?“ „Mag sein“, sagte Nicolas nachdenklich. „Denn als ich den Stein der Weisen hergestellt habe, hielt ich es lange nicht für schlimm. Eine Zeit lang redete ich mir ein, dass ich glücklich sei. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich nun sehr einsam fühle.“ „Aber Sie tun doch, was Sie immer getan haben und Sie werden sehr alt. Außerdem sind Sie einer meiner besten Freunde.“ „Ich weiß“, entgegnete Nicolas lächelnd. „Ich habe wirklich nicht das Recht zu klagen, aber trotzdem einfach das Gefühl, das etwas nicht stimmt. Vielleicht wäre mein Leben glücklicher, wenn ich wieder eine Frau hätte.“ Perenelle wirkte bedrückt. Seit sie vor zwei Jahren Nicolas kennengelernt hatte, war sie noch vergeben. Ihr Mann war mittlerweile verstorben. Mit dem Finger malte sie Muster auf die Tischplatte und sagte plötzlich: “Ich mag Sie, wie Sie sind, Nicolas.“ Perenelle war gerade wieder zu Hause, als Nicolas oben in seinem Schlafzimmer lag, hellwach war und an die Decke starrte. An seinem Wecker konnte er lesen, dass es fast Mitternacht war. Während er dalag und grübelte, warf er von Zeit zu Zeit einen Blick darauf, dann schwang er sich aus dem Bett. Zog wieder seinen Morgenrock und seine Pantoffeln an und tappte die Treppe runter in das Studierzimmer. Was er sah, ließ seinen Atem stocken: Noch nie waren die Lichtspiele so hell wie heute Nacht gewesen. Und dieses Mal schienen sie von dem alten Spiegel zu kommen, der über dem Bücherregel an der Wand hing. Der Spiegel mit dem Rahmen aus Mahagoni hatte bisher keinerlei Magie besessen. Doch nun schoss er blaue, gelbe, rote und grüne Blitze in alle Richtungen und als Nicolas nähertrat, sah er unter der schimmernden Oberfläche des Glases die fließenden Umrisse eines Gesichtes. Nicolas schaute es gebannt an. Es glich dem eines Menschen, den man nachts hinter einem von Regen bedeckten Fernster sieht. Wegen der Dunkelheit konnte man es schlecht erkennen. Doch dann wurden die Konturen schärfer und Nicolas erkannte seinen besten Freund. Doch er sah sehr alt aus. Es war ein Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel, nichts als Runzeln und Vertiefungen. Die Wangen waren blass und der Mund nach unten gezogen. Unter stacheligen weißen Brauen lagen die Augen tief in den Höhlen. Aber sie leuchteten. Und dann bewegte sich der Mund. Im Kopf hörte Nicolas die vertraute Stimme seines besten Freundes. „Nun, Niclas, es ist vorbei mit mir.“ Sein bester Freund war der einige Mensch, der Nicolas jemals so genannt hatte. Der alte Mann fuhr fort: „Hör mir gut zu, Niclas, Lieber. Hör mir sehr gut zu.“ Dann sprach der Tote eine geraume Zeit und erklärte seinem besten Freund, was dieser tun müsse, um nicht mehr allein sein zu müssen. Nicolas hörte zu, lächelte und nickte. Die andere Stimme sprach und sprach und er hörte sich wie ein Echo an. Nach ein paar Minuten dann wurde der Spiegel wieder dunkel und die Lichter erloschen. Nicolas konnte es nicht fassen, aber er war glücklich. Endlich würde er mit Perenelle ein langes Leben beginnen.