jerome bennings, Ravenclaw zu Annele - 4. Platz
  Hinter der Tür „Das Torhaus befindet sich in der Südkurtine und besitzt eine Zugbrücke.“ Cindys Mutter las abwechselnd aus dem Stadtführer und von Ausdrucken aus Wikipedia vor. Cindy selbst war noch müde und interessierte sich weniger dafür, was das alles ist, geschweige denn, dass es sie interessierte, was eine Kurtine war. Gestern war ihr zwölfter Geburtstag gewesen, und sie war mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder im Kino gewesen. Das war das Schöne am Urlaub, dass es abends immer Kino gab. Weniger schön war die „Sehenswürdigkeiten – Rennerei“ ihrer Mama, die ihr Vater auch eher widerwillig mitmachte. Sie hatte wenigstens durchgesetzt, dass sie ihren Zaubererumhang und den Hexenhut und ihren Zauberstab mitnehmen durfte, um dort Fotos für ihre Freundinnen zu machen. Die würden schauen! Und wenn man schon die Zitadelle Spandau besichtigte, dann konnte sie dort auch endlich die Fotos machen. Sie träumte sich wie ihre Freundinnen nach Hogwarts und ihre Eltern hatten ihr letztes Jahr die Gewandung gekauft, weil sie es gut fanden, dass ihr Kind sich für etwas interessierte , das nicht Kosmetik, Blusen, Shirts oder Schuhe war. Cindys Interesse daran war gering. Bücher und Filme waren ihre Welt. In ihrer Klasse war sie deswegen eine Außenseiterin, aber es machte ihr nichts aus. Sie wusste gar nicht, wie weit ihr Wissen und ihre Kenntnisse in vielen Dingen, vor allem auch im Englischen, dem ihrer Mitschüler überlegen war. Das alles interessierte sie nicht. Wenn sie längst mit ihren Aufgaben fertig war und ihre Klassenkameraden noch immer daran herumrätselten, träumte sie sich in eine andere Welt hinein. Und meistens war es eine Welt mit Zauberern, Hexen, Geistern, Zentauren, Riesen und Drachen. Eine magische Welt! Ihr Bruder interessierte sich nur für Fußball, ihre Eltern für Reisen und für Kultur. Ihr Vater gezwungenerweise, weil er lieber am Strand in einem Korb sitzen würde, in aller Ruhe ein Bier zu sich nähme und den ganzen Tag einfach nur ausruhen würde. Vielleicht noch ein nettes schmales Bändchen eines Krimis. Ihr Vater, ein sehr „normaler“ Mensch, war auch dagegen gewesen, dass sie ihren Umhang schon im Hotel angelegt hatte, denn er mochte es nicht, auch nur in geringstem Maße aufzufallen. Aber schließlich hatte er es aufgegeben, seine von Mutter und Tochter ignorierten Beschwerden vorzubringen. Cindy lächelte. Endlich konnte sie an einem geheimnisvollen Ort Fotos machen! Endlich in richtiger Umgebung den Umhang tragen. Sie konnte sich in ihre Welt hier gut hineinphantasieren. Sie hoffte, einige Sekunden lang wirklich in der magischen Welt zu sein. Und diesmal nicht dabei auf den ramponierten Schulstühlen sitzen, sondern in einem alten Gemäuer, das ihrer Welt möglichst nahe kam. Sie überquerten die Zugbrücke und pünktlich um 10 Uhr kaufte ihr Vater die Eintrittskarten. Cindy schloss die Augen und versuchte in ihre Welt einzutauchen. Doch ihr kleiner Bruder machte mit seinen „Boahhhsss“ und „Geils“ die Stimmung kaputt. Sie stellte sich schnell vor, es wäre Familientag in Hogwarts und sie würde ihren Muggeleltern und ihrem dummen kleinen Bruder Hogwarts zeigen. Sie würde ihnen die Lehrer vorstellen, ihre Mitschüler und könnte ihnen endlich zeigen, was sie alles an Zaubern konnte. Sie schlurfte voran über den Innenhof und überlegte, in welches der vielen Gebäude sie zuerst gehen würde und wo ihre Mutter am besten die Fotos machen könnte. „Ich denke, wir schauen uns erst die Ausstellung an und klettern dann auf diesen Turm“, sagte ihre Mutter, während sie auf einen runden Verteidigungsturm deutete. „Mama, ich will doch die Fotos machen!“, war Cindys erschrockene Antwort. „Ja, die machen wir doch später“, war die Antwort ihrer Mutter. „Ach, später. Ich will keine alten Sachen in Vitrinen anschauen. Ich will endlich die Fotos von der Zauberschule machen!“ „Zauberschule“, kicherte ihr kleiner Bruder. „Sie spinnt mal wieder! Gibt’s hier Rüstungen und Kanonen und echte Ritter?“ „Echte Ritter?! Die haben die Drachen im Mittelalter alle gefressen!“, spottete Cindy. „Ach, du bist doof!“, sagte ihr Bruder. „Weißt du was, Cindy. Lauf doch, wenn du magst, ein wenig alleine hier rum, such dir schöne Orte für die Fotos, und wir treffen uns in einer Stunde wieder hier an dieser Stelle.“ Ihre Mutter wusste, diese Streiterei zwischen den Geschwistern würde ansonsten die ganze Zeit andauern und bei der Besichtigung fand sie sowas doch nervig. „Auja!“, freute sich das hochgeschossene braunhaarige Mädchen. „ Ich seh mich um, und dann machen wir die Fotos“. Sie hüpfte vor Vorfreude auf und ab. Ihre Eltern und ihr Bruder gingen links in ein Gebäude, sie ging geradeaus auf ein Gebäude zu, das ihr von außen ideal für die Fotos erschien. Sie trat ein und war nur in einem kahlen Raum, der ihr wenig ansprechend für die Bilder erschien. Da sollten schon so alte Figuren und Statuen und derartiges mit drauf sein. Sie ging wieder auf den freien Platz. Der war menschenleer und sie schaute sich noch einmal um. Da waren auf einmal Mädchen und Jungen in Schuluniformen und sie erinnerte sich, dass ihre Mutter gestern noch bei der Planung des Besuches erwähnt hatte, dass hier eine Schule wäre. Ein Internat. Ein Internat wäre wie Hogwarts, aber wenn dort normaler Schulunterricht wäre, bliebe sie doch lieber zuhause. Mathe und Physik – dafür muss man nicht unbedingt auf ein Internat und weg von zu Hause und den Freundinnen. Allerdings, wenn sie dort wenigstens Einhörner pflegen lernen könnte, wäre sie sofort dabei ... Sie schaute noch einmal auf die kleine Gruppe, die ungefähr in ihrem Alter sein musste. Ein bisschen neidisch war sie schon. Allerdings würde diese hübsche Schuluniform für Mädchen bei ihrer Länge wohl nicht so gut aussehen. Sie war viel zu dünn und zu groß, fand sie. Plötzlich irritierte sie etwas. Hatte dort jemand einen Umhang an? Sie schaute genauer hin – nein, alle trugen normale Schuluniformen. Sie wurde etwas nervös. Spielte ihr ihre Phantasie einen Streich? Aus den Augenwinkeln schienen alle einen Umhang zu tragen, wie sie einen trug. Und die Kinder schauten auch irritiert zu ihr herüber. Sie schaute genauer hin und sie hatte den Eindruck, manchmal trügen alle einen Umhang und dann wieder diese Schuluniform. Sie legte die Hand vor die Augen, sah woanders hin und dann nochmals auf die Schülergruppe. Sie war verschwunden. Cindy war sich sicher, dass die Gruppe dagewesen war, aber was hatten sie nun angehabt? Schuluniformen oder Umhänge? Sie war ein bisschen aufgeregt und auch ängstlich, dass ihr ihre Einbildungskraft etwas vorgaukeln könnte, was nicht vorhanden war. Wohin waren die anderen Kinder gegangen? Sie wusste, dass sie auf ein kleines unscheinbares Gebäude, das aussah wie ein Geräteschuppen zugegangen waren. Sie ging auch in diese Richtung. Man konnte nichts hören, bis auf ein gewisses Klirren und Wortgemurmel, aus dem hier auch vorhandenen Restaurant. Es war nur eine alte verwitterte Tür zu sehen. Jeder kennt das Phänomen, dass man eine Tür sieht oder ein Tor und im Gefühl hat, dass abgeschlossen ist. So schien es Cindy auch zu gehen und langsam bezweifelte sie auch, dass die Schüler hier hineingegangen waren. Es war nichts zu hören, und was sollten sie in so einem Schuppen, auch wenn der aus altem Felsgestein errichtet worden war? Fast automatisch zog sie doch an dem rostigen Türknauf, und sie war fast erschrocken, wie leicht und fast lautlos sich die Tür öffnete. Was sie dahinter erblickte, erschreckte sie wirklich, obwohl der Anblick alleine nicht zum Fürchten war. Es war ein von Gängen umgebener kleiner Garten. Sie schaute nochmals von außen auf die Steinhütte und konnte das nicht mit dem direkt dahinter beginnenden Garten und den Arkaden zusammenbringen. Sie war verwirrt. Aber ihre Neugier besiegte ihre Verwirrtheit. Angst empfand sie nicht, wie sie sich später erinnerte, auch wenn sie sich erst erschrocken hatte und das auch immer wieder ihren neuen Klassenkameraden erzählte. Die Tür war zugefallen, aber sie konnte nun ein prachtvolles Torgewölbe hinter sich entdecken. Ihr Herz pochte. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Endlich erlebte sie etwas Geheimnisvolles und tief in ihrem Innern hatte sie Angst vor den Erklärungen ihrer Eltern für diese Geschehnisse. In ihren Gedanken verstrickt war sie über den Rasen gegangen und wollte gerade durch eine Lücke in der Arkadenbegrenzung – das Mäuerchen fehlte hier einfach – in die Arkaden gehen, um zu erfahren, was es da gibt. Sie hatte fast vergessen, dass dies hier ideal für die Fotos wäre. „Are you from Hogwarts?“, fragte die Stimme eines Mädchens. „Nein, ähmm, nicht wirklich“, antwortete Cindy überrascht. Ein kleines Mädchen, einen Kopf kleiner als Cindy mit einem herzförmigen Gesicht und durchdringend blauen Augen und rotem Haar, trat aus dem Schatten der Arkaden heraus und schaute sie mit einem Lächeln und neugierigen Blicken an. „Warum hast du dann diesen Gryffindor-Umhang an?“, kam die nächste Frage. „Weil das mein Lieblingshaus ist“, sagte Cindy. „Aus welcher Zaubererschule kommst du dann?“, fragte das Mädchen weiter. Cindy lief es eiskalt den Rücken herunter. Ihre Haare schienen zu stehen. Sie war elektrisiert. Das Mädchen hatte einen schwarzen Umhang an, auf dem ein Dachs in einem Wappen zu sehen war. Aber das Wappen sah ganz anders aus, als sie es von den Filmen her kannte. Nur der Dachs und die Farbe Gelb, die an den Ärmeln und an den Aufschlägen appliziert war, ließ sie sofort an Hufflepuff denken. „Wie heißt das hier?“, fragte Cindy zurück, obwohl sie es hasste auf eine Frage nicht zu antworten. Aber sie wollte wissen, was hier los war. „ Das ist unsere Schule: Château d’eau!“ Das Mädchen schien jetzt auch irritiert zu sein. „Wie bist du hier reingekommen, wenn du nicht weißt, wo du bist?“ „Na, durch diese Tür dahinten“, antwortete Cindy. „Aber wieso weißt du nicht, wie das hier heißt?“, fragte das Mädchen weiter. „Ich heiße Cindy übrigens.“ Schon wieder musste sie ausweichen. Das Ganze war etwas verwirrend. Sie dachte nur noch daran, dass sie hier wohl etwas betreten hatte, das für sie verboten war. Aber die Neugier war größer als ihre Unsicherheit. „Ich bin Clarissa.“ Sie schüttelten sich die Hände und mussten beide dabei lachen. „Du bist durch diese Tür gekommen dahinten und trägst einen Schulumhang aus Hogwarts – obwohl ein bisschen anders sieht das Wappen ja aus“, meinte Clarissa daraufhin. „Ich weiß wohl, dass du in Hufflepuff bist, aber das Wappen sieht auch bei dir anders aus, als ich es aus den Filmen kenne“, antwortete Cindy. Fast unbemerkt hatte sich eine kleine Gruppe von Schülern und Schülerinnen um die beiden gebildet. Sie trugen alle die Umhänge mit den vier bekannten Wappen und Farben. „Filme ...?“ „Was ist hier für ein Gedränge in den Durchgängen?“, tönte die Stimme einer erwachsenen Frau. „Komm mit, geh einfach mit uns in die Bibliothek“, nahm Clarissa sie bei der Hand und führte sie durch eine der Arkaden zu einer Tür. Durch einen kurzen steinernen Gang, der von Fackeln erleuchtet wurde, kamen sie in einen riesigen Raum, der von oben bis unten voller Bücher war. Und nun, beim Anblick der Bücher loderte die Hoffnung auf die Erfüllung eines scheinbar unerfüllbaren Traums in Cindy auf. Sie sah gleich am Anfang Stapel von Büchern, wie sie es aus der Schulbuchverteilstelle ihrer Schule kannte. Aber die Bücher hießen nicht „Zeitzeugen“ oder „Physik für alle“, sondern „Zaubertränke für das 5. Schuljahr“ oder Verwandlung für Fortgeschrittene 2“. Und sie waren zerlesen und oft gebraucht, das konnte man sehen. „Ah, da seid ihr ja endlich!“, sagte eine ältere Frau, die freundlich dreinblickte, auch wenn sie mit aller Macht streng aussehen wollte. „Wen habt ihr denn da mitgebracht?“ „Das Mädchen kommt aus Hogwarts, deren Umhänge sehen so aus“, piepste ein kleiner Junge. „Ansgar, niemand weiß von euch, wie die Umhänge aussehen. Die Muggelfilme liegen da falsch, das kann ich euch versichern“, sagte die Frau und schaute mit einer Brille, die sie nicht auf der Nase, sondern an einem Stil in der Hand trug, Cindy von oben bis unten an. Dass das Lorgnetten waren, erfuhr sie erst viel später. „Habt ihr in Hogwarts doch neue Umhänge bekommen?“, fragte die Frau. Cindy fühlte sich wie Harry im ersten Buch, das sie so oft gelesen hatte. Matschig. Aber in ihrem Innern brannte eine Flamme der Hoffnung, die sie nie wieder vergessen würde. „Ich hab den Umhang von meiner Mama bestellt bekommen. Ich trag ihn selten, aber gerne!“ „Du gehst aber nicht nach Hogwarts?“, fragte die Lehrerin zurück. Sie schien besorgt. „Nicht wirklich, nein. Aber ich würde gerne. Und deshalb hab ich den Umhang angezogen und meine Mama wollte Fotos von mir machen.“ Im Hintergrund, aber etwa nur fünf Meter entfernt, stand ein junges Mädchen ganz vertieft in ein Buch, das sie aus dem Regal genommen hatte. Es waren moderne Regale, anders als in den Filmen, aber die Bücher waren alt. Und sie sah selbst auf die Entfernung hin, dass sich ein Bild bewegte. Ihr Rücken fühlte sich an, als wenn man sanft darüberstreichen würde. Sie sah sich um. Hatte ihre Mutter das für sie arrangiert? Nein, das konnte nicht sein. Aber wie Harry hatte sie jetzt die Angst, dass es ein geschickt eingefädelter Scherz war. Bis zu dem Moment Sekunden später, als sie die durchsichtigen Gestalten zweier Menschen in barocker Kleidung sah, mit Perücke und allem, was dazugehörte. Sie schwebten vorbei und verschwanden durch ein Regal. Nein, das war echt, definitiv echt. Sie war durch eine Tür gegangen und selbst wenn sie das alles wieder verlassen würde, sie würde immer wissen, dass es diese Welt hinter dieser Tür gab. „Du weißt also nicht, wo du bist?“, fragte die Lehrerin, die etwas aufgeregt, aber dennoch besonnen erschien. „Doch! Clarissa sagte mir, im Château d’eau. Was ist das hier?“ Und ihr Herz bebte der Antwort entgegen. „Eine Schule, ein Internat“, kam die Antwort, die nicht das verriet, was Clarissa sich erhoffte. „Eine Zauberschule! Wo sonst gäbe es Geister am helllichten Tage. Und Fackeln, die aussehen wie Leuchtstoffröhren. Und Bücher, in denen sich die Bilder bewegen!“, platzte es aus Cindy heraus. „Aberr du bisst keiner Hexe?“, fragte ein alter Zauberer – da war sie sich sicher – mit osteuropäischem Akzent. „Bis jetzt nicht, nein.“ Und in dieser Antwort lag so viel Hoffnung, Bitten, ja Flehen, wie es ihr noch nie gelungen war unbewusst in eine Antwort hineinzulegen. „Und du bist durch die alte Holztürr gegangen?“ Clarissa antwortete für sie: „Sie kam durch unseren Eingang, ja. Und sie kam alleine und die Tür war verschlossen.“ „Ich muss das überrprrüfähn“, sagte der Zauberer und eilte aus der Tür hinaus, durch die sie alle gerade gekommen waren. „Was macht er?“, fragte Cindy. „Er überprüft die Tür, ob der Muggelschutz beschädigt ist. Wenn du so viel weißt, kannst du dir das ja auch zusammenreimen. Diese verdammten Bücher“ – und sie zeigte auf eine stattliche Anzahl der Cindy wohlbekannten HarryPotter-Reihe – „verraten einfach zu viel“, sagte die Hexe ruhig. „Man hätte das verhindern müssen“, murmelte sie vernehmlich. „Aber sei’s drum. Ich glaube nicht, dass der Muggelschutz versagt hat. Hier – nimm den und tu was ich dir sage!“ Und Cindy konnte es kaum glauben. Dass Träume dieser Art wahr werden können. Die Hexe reichte ihr einen Zauberstab. Einen echten Zauberstab, nicht einen, der nicht wirkte, wie der, der in ihrem Umhang steckte. Wie oft hatte sie nämlich mit dem den „Accio“ ausprobiert. Dieser Moment war magisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Ehrfürchtig berührte sie erst leicht mit ihren Fingerspitzen den Stab. Ein Augenblick der Ewigkeit. Dann griff sie beherzt zu und als Kind, das sie war, vergaß sie die Mahnung der Hexe. „Expecto Patronum“, rief sie vernehmlich. Und ehe alle das wirklich registrierten, brach ein riesiger Tiger aus der Zauberstabspitze. Silbern und gewaltig bewegte er sich zwischen den Büchern und schien nicht verblassen zu wollen. „Alles in Orrdnung mit dem Mugg ...“ Der alte Zauberer kam zurück und erstarrte, als er den Tiger scheinbar unvergänglich vor Cindy sitzen sah, der die Tränen die Wange herunterliefen. Auch die anderen Kinder hatten sich von ihrem ersten Schreck erholt und lächelten teilweise, aber einigen Mädchen standen auch Tränen in den Augen. Und als Clarissa sie richtig fest in den Arm nahm, verschwand der Tiger und allen Anwesenden wurde die Bedeutung dieses Augenblicks klar. Ein kleines Mädchen, das jetzt erst erfahren, vielmehr erahnt hatte, dass sie wirklich und wahrhaftig eine Hexe war, hatte einen gestaltlichen Patronus erzeugt und zwar auf Anhieb. Der freundlichen Lehrerin standen auch die Tränen in den Augen. Sie sagte: „Du solltest doch nur zeigen, ob du Funken sprühen kannst.“ Und auch der alte Zauberer erkannte, dass etwas ganz phantastisches geschehen war. „Wenn man in dem Moment, an den man denkt, um einen Patronus zu erzeugen, einen Patronus erzeugt, wird das immer so ausgehen. Aber nur, wenn man eine richtige magische Person vor sich hat.“ Die Kinder schauten überrascht nach oben. Professor Alberta Argentinensis war selten zu sehen, nur zu besonderen Anlässen. Sie galt nicht als streng, aber hielt sich fern vom alltäglichen Getriebe der Schule. Sie unterrichtete in der 7. Klasse „Verteidigung gegen Flüche und böse Wesen“, was wohl in Hogwarts der „Verteidigung gegen die Dunklen Künste“ entsprach. „Du bist die erste Hexe, die sich auf diese Weise an unserer Schule anmeldet und sofort angenommen wird. Und das mitten im Schuljahr. Ich sehe, dein größter und auch einziger Wunschtraum ist in Erfüllung gegangen. Das können nicht viele von sich sagen, Cindy.“ Cindy wunderte sich nicht, woher die Schulleiterin, denn das war sie bestimmt, das alles wusste. Sie hatte vom Auftreten keinerlei Ähnlichkeit mit Albus Dumbledore aus den Büchern. Sie war einfach elegant gekleidet und war noch jung, jedenfalls jünger als Cindy sich die Leiterin einer Zauberschule je vorgestellt hatte. Aber Cindy wusste, das war die Schulleiterin. „Ich bin 93, wahre Zauberer haben mehr Fähigkeiten als die in den Büchern. Und ich höre jetzt auf in deinen Gedanken zu stöbern, das gehört sich nicht. Aber ich musste wissen, wer da gekommen ist. Und jetzt muss ich dich fragen, ganz offiziell und vor Zeugen: Willst du bei uns das lernen, was eine Hexe braucht, um eine Hexe zu sein?“ Es sollte ein lautes „Ja“ werden. Aber ein Weinkrampf schüttelte sie und sie konnte nur noch krächzen und nicken. „Du gehst jetzt zu deinen Eltern, die schon warten, wie ich gesehen habe und holst sie hierher. Mit dir können sie durch die Tür, nur für ein einziges Mal heute. Aber sie können.“ „Darf ich mitgehen, Direktorin?“ fragte Clarissa mutig. Denn direkt mit ihrer Schulleiterin hatte sie bisher nicht gesprochen. „Finde ich eine gute Idee. Aber trödelt nicht und bringt sie hierher. Und keine Beweise für Zauberei, bitte“, sagte die Direktorin und letzterer Satz klang so, dass ihm niemand zuwiderhandeln würde. Cindy raste aus der Bücherei, durch den Gang und den Garten und durch die Eichentür, Clarissa immer im Schlepptau. Die Eltern und ihr kleiner Bruder schienen schon ein wenig gewartet zu haben. „Du bist zu spät“, krähte sofort Cindys Bruder. „Ah, hast du dich im Internat verirrt und dort jemand kennengelernt?“ fragte ihre Mutter. „Ja. Entschuldige, dass ich zu spät bin. Aber die Leiterin des Internats würde dich gerne etwas fragen.“ „Hast du was angestellt?“, fragte ihr Vater mit besorgter Miene. „Ja, so kann man das sagen!“, grinste Cindy in sich hinein. Hand in Hand gingen Clarissa und sie voran und auf die alte Eichentür zu. Einen Moment lang hatte sie Angst, dass sie nicht aufgehen würde, aber natürlich öffnete sie sich sofort, als Cindy sie aufdrückte. War sie letztes Mal nicht nach außen aufgegangen? Clarissa ahnte wohl, was sie stutzen ließ und sagte: „Sie geht in beide Richtungen auf“. Die Eltern waren über den Anblick erstaunt, der sich ihnen bot und auch etwas verwirrt. Der Garten war leer, aber Cindy und Clarissa gingen sofort über den Rasen und in die Bücherei. Die Eltern und der Bruder folgten ihnen gezwungenermaßen. Alle drei bestaunten das Ausmaß der Bücher und aller Blick fiel natürlich sofort auf die Schulbücher, die schon Cindy stutzig gemacht hatten. „Willst du hier deine Fotos machen? Ich finde, du hast dir dafür einen tollen Ort ausgesucht“, meinte ihre Mutter. „Fotos werden nicht zu erkennen sein auf Ihrer Kamera, befürchte ich“, sagte die Direktorin. Ihre Direktorin, wie Cindy stolz dachte. „Guten Tag, mein Name ist Professor Alberta Argentiniens. Ich glaube, sie werden sich in den nächsten fünf Minuten auf etwas einstellen müssen, das Ihnen unmöglich erscheint. Aber Ihre Tochter ist eine Hexe und möchte hier das Zaubern von Grund auf erlernen.“ „Das wissen wir“, sagte die Mutter und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, sie hat nicht zu sehr gestört.“ „Aber nein. Im Gegenteil. Wir sind froh, dass die Person, die wir übersehen haben zu uns kommt.“ Cindys Eltern schienen verwirrt und die beiden Mädchen konnten kaum das Lachen unterdrücken. „Folgen Sie mir bitte in mein Büro – du darfst mitkommen, Clarissa – und ich zeige Ihnen etwas, dass sie davon überzeugen wird, dass Träume manchmal näher an der Wirklichkeit liegen, als man glauben mag.“ Die Schulleiterin schritt voran und etwas durcheinander, was wohl kommen würde, folgten sie alle der Direktorin, bis in die oberste Etage der Bücherei. Dort öffnete sie eine altertümliche Tür mit ihrem Zauberstab. Noch immer konnte Cindy es nicht begreifen und freute sich über jede Bestätigung, dass das alles jetzt real war und kein Traum. Alle betraten den Raum, ein mächtiger Schreibtisch stand ihnen gegenüber und das Zimmer war voll mit magischen Gegenständen – und in einem Terrarium war ein Grindeloh. Das musste ein Grindeloh sein. Ihre Eltern waren nun sehr verwirrt und ihr kleiner Bruder klammerte sich an den Arm seiner Mutter. Für Cindy war es nicht unheimlich, aber sie konnte sich vorstellen, dass es das für die drei schon war. Vor allem auch verwirrend. „Um es kurz zu machen: Sie befinden sich in einer wirklichen Schule für Hexerei und Zauberei. Die bekannteste in der Muggelwelt dürfte wohl Hogwarts sein. Und damit Sie mir auch wirklich glauben ...“ Und sechs Gläser mit etwas, was sich später als Kürbissaft herausstellte, schwebten heran und platzierten sich direkt vor den sechs Personen. Mitten in der Luft! Diese Blicke ihrer Eltern würde Cindy wohl nie vergessen. Aber irgendwie griffen doch alle danach, Cindy und Clarissa zuerst. „Was hat das mit Cindy zu tun?“, fragte die Mutter verwirrt, ängstlich und vollkommen aufgelöst. „Patronus!“ Nur dieses eine Wort sagte die Leiterin der Schule. Cindy nahm sich auf ein Nicken ihrer Lehrerin einen von drei Zauberstäben, die vorne auf dem Schreibtisch lagen. Und während die Direktorin Stühle heranschweben ließ, ertönte wieder der Spruch durch den Raum „Expecto Patronum“. Und unwillkürlich war sie wieder in dem Zustand vollkommenen Glückes und wieder brach der silberne Tiger aus der Zauberstabspitze. Ohne ein geeignetes Angriffsziel und ohne auszusprechende Botschaft setzte er sich vor Cindys Eltern. Denn die Botschaft, die er von Cindy überbrachte war eindeutig: „Mama, Papa, ich bin eine Hexe und kann zaubern lernen.“ Ihre Eltern schauten ungläubig drein. Ein Teil ihres Weltbildes war zusammengebrochen. „Mama, darf ich??“ Und diesem Flehen war nicht auszuweichen, das wussten alle sofort. Statt einer Antwort kam ein Nicken. Und zwei Minuten später war ein Pergament unterschrieben. „Wenn sie drei mir bitte folgen würden. Der restliche Lehrkörper ist im Unterricht oder auf der Krankenstation“ – dabei warf sie einen Blick auf den Hinkepank. Clarissa, du kennst dich etwas länger hier aus. Sieh zu, dass Cindy ihren Zauberstab und alles von der Liste kaufen kann. Nach dem Abendessen darfst du ihr die Schule zeigen, aber bitte nicht bis in die Morgenstunden. Denn morgen muss Cindy bei mir in einem Schnellkurs das nachholen, was sie in acht Wochen verpasst hat. Und Anfang nächster Woche, nimmst du dann am normalen Unterricht der ersten Klasse teil. Und bitte pünktlich zum Abendessen, denn die Hausauswahl muss nachgeholt werden. Von deinen Eltern kannst du dich morgen verabschieden, zumindest bis Weihnachten.“ Auf diese Worte ihrer Direktorin hin fing ihr Bruder an zu weinen. Sie umarmte ihn. „Geschwister“, meinte lächelnd ihr Papa. Die nächsten Stunden waren hektisch. Mitten in Berlin, wohin sie mit der U-Bahn fuhren, gab es eine „Heimliche Straße“ und sie fühlte sich so, als wenn sie in ein Wunderland gekommen wäre. „Ich habe ja gar kein Geld“, meinte Cindy erschrocken. „Gibt’s hier auch Galleonen, Sickel und Knuts?“ „Damit wird in der gesamten magischen Welt bezahlt. Und glaub mir, die Direktorin hat dafür gesorgt, dass deine Eltern das Nötige für Gringotts eingezahlt haben. Das kann von unserer Schule aus geschehen. Denn Muggel, auch Verwandte, dürfen nicht hierher.“ „Gringotts, hier gibt’s Gringotts?“ Cindy hüpfte vor Freude. Ihre Freude wurde zwar weniger, als sie wirkliche Kobolde kennenlernte, aber das Einkaufen machte sie so glücklich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sie musste sich öfter bewusstmachen, dass dies alles keine Phantasie war, sondern nur die Wirklichkeit. Nur! Sie hüpfte fröhlich vor sich hin. Zuletzt kaufte sie ihre Schuluniform. Direkt nach der Auswahl, in welches Haus sie käme, würden ihre passenden Umhänge und andere Sachen geschickt werden. Und schnell waren sie wieder im Château d’eau. Clarissa führte sie in die Große Halle. Nein, es gab keine verzauberte Decke, aber ansonsten sah sie nicht weniger prachtvoll aus mit ihren Gemälden, als Cindy sich das ausgemalt hatte. Clarissa zog sie mit zum Tisch der Hufflepuffs. Die Schüler schienen sehr überrascht, als ihre Schulleiterin plötzlich am Lehrertisch auftauchte und das Wort an sie richtete. „Liebe Schüler vom Château d’eau. Ihr seid bestimmt überrascht, mich hier zu sehen. Noch überraschter solltet ihr aber sein, heute eine neue Mitschülerin begrüßen zu dürfen, deren erster gelungener Zauber ein gestaltlicher Patronus war. Die Fortgeschrittenen unter Euch werden wissen, wie so etwas zustande kommt. Unser neues Mitglied heißt Cindy Behrend und sitzt grade am Tisch der Hufflepuffs.“ Applaus erklang und neugierige Blicke musterten sie. „Cindy komm nach vorne.“ Cindy tat wie geheißen, musste sich auf einen Hocker setzen und erwartete nun den Sprechenden Hut. Aber die Auswahlzeremonie verlief an dieser Schule anders. Ein Fenster wurde geöffnet und die Tür zur Großen Halle. Das geschah alles durch einen Schwenk des Zauberstabes der Direktorin. Sie hob nochmal den Zauberstab und plötzlich spürte sie etwas auf sich zukommen und blickte auf die Stelle, die sie im Gespür hatte. Ein Dachs schaute sie aus seinen Knopfaugen an. Er drehte sich um und verschwand wieder durch die Tür. „Hätte ich mir fast denken können ...Freundschaft“, murmelte die Direktorin nur für Cindy verständlich. Und laut rief sie:“Hufflepuff!“ Cindy eilte wieder zu dem Platz, auf dem sie schon vorher gesessen hatte und wurde besonders von Clarissa herzlich willkommen geheißen. Und dann stand das Essen plötzlich auf dem Tisch. Ein Essen wie im Märchen ... beziehungsweise wie in einer Zauberschule. Und ehe sie sich über den Tag klar werden konnte, lag sie in ihrem Schlafsaal ... in einem normalen Doppelstockbett. Und sie schaute aus diesem nicht auf einen See und einen Verbotenen Wald – den würde sie weiter nördlich kennenlernen, wurde ihr gesagt – sondern auf eine Muggelstadt. Und als wäre es das Normalste der Welt, öffnete sie das Fenster, als drei Uhus die Pakete mit der Schulkleidung brachten. Morgen früh würde sie sich von ihren Eltern und ihrem Bruder bis zu den Weihnachtsferien verabschieden. Und sie war so müde, dass sie sofort einschlief, ihren neuen Zauberstab in der Hand. Und am nächsten Morgen war der Traum endgültig zur Realität geworden, als sie Clarissas Gesicht sah, als sie aufwachte. Nein, das war kein Traum. Es war nur die phantastische Wirklichkeit.