daedalus diggel, Gryffindor zu Sahne - 1. Platz

[align=right][size=10]„Und wieder werden Zeiten kommen, wo nicht Haus und Blut, sondern die Kräfte des Herzens den wahren Zauber weben.“ Aus den Sprüchen des Apollos Trelawny gesammelt von Armando Dippet verwahrt im Direktoren-Archiv von Hogwarts[/size][/align]

Sue Fermatas 40. Geburtstag - ein erinnerungsmächtiger Tag im Castello del Serpente - 1. Turmzimmer des auf der Insel befindlichen Castellos

„Wo hast du das her?“, fragte die Stimme schneidend und eine hagere Hand krallte sich an dem Unterarm des bei ihr sitzenden Mannes fest. „Wo hast du dieses Bild her?“, fragte die hagere, greisenhafte Frau erneut und richtete sich mit eisernem Willen auf.

2. Zeitgleich auf dem zur Insel führenden Gewässer

Schlag auf Schlag auf Schlag. „Heute“, keuchte der nicht mehr ganz so junge Mann und tauchte die Ruderblätter wieder in die See, „heute muss es geschehen!“ Mit einem Gefühl von Sehnsucht und Verzweiflung und Gelingen-Wollen ruderte der Mann weg vom Festland hinein in die Bucht. „Wenn ich wieder versage, dann …“, der Rest des Satzes ging in ein anstrengendes Atmen über, während die Arme die immergleiche Bewegung ausführten: Schlag auf Schlag auf Schlag.

3. Turmzimmer des Castellos

Der ältere Zauberer schaute die bettlägrige, fast schon moribunde Hexe erstaunt an und hob einen kleinen Bilderrahmen in die Höhe. „Du meinst dieses Bild hier mit der Hexe und dem wunderschönen Mondstein?“, fragte der Zauberer zurück und versuchte, die Handklammer an seinem Unterarm sanft zu lösen. „Ja, dies!“, die Hexe versuchte vergeblich, sich in eine sitzende Position zu bewegen und rutschte nun langsam wieder in eine liegende Haltung, während der Zauberer versuchte, sie mit einem Kissen zu stützen. „Nun, dieses Bild fand ich gestern in einem Muggeldorf auf dem Festland, und als ich in einem Antiquariat nach einem schönen Kräuterbuch als Geburtstagsgeschenk für deine Tochter Sue suchte, fiel es mir gleich ins Auge. Der Händler hatte es von einem Dorfjungen bekommen, der Geld für seine arme Familie brauchte. Das Gesicht der abgebildeten Hexe ist zwar unter den langen nach unten hängenden Haaren nicht sehr deutlich zu erkennen, aber irgendwie finde ich, sieht sie Sue sehr ähnlich, meinst du nicht auch?“ Die Lider der alten Hexe flatterten und der Atem ging heftig, während Bilder aus alten Zeiten an die Oberfläche ihres Bewusstseins drangen. „Dies“, stieß die Hexe nun fast tonlos hervor, „dies ist meine Tochter!“

4. Küche des Castellos

Unbelastet von den Geschehnissen auf dem See und in dem Turmzimmer eilte die Tochter des Hauses in der Küche geschäftig hin und her. Sue Fermata feierte zwar heute ihren 40. Geburtstag, aber sie wollte sich dennoch um vieles selber kümmern und das leibliche Wohl ihrer Gäste keineswegs nur den Hauselfen überlassen. Schließlich kannte sie sich ja mit Kräutern ein bisschen aus, auch wenn ihre Kenntnisse weit über Küchenkräuter hinausgingen. Sie hatte viele Freunde eingeladen, und diese hatten mit Freuden zugesagt, da eine Einladung ins Castello als große Ehre galt und noch vor einigen Jahren kaum ausgesprochen wurde, da die alte Zauberfamilie aus dem Hause Slytherin einen langen, reinblütigen Stammbaum hatte und mit anderen Hexen und Zauberern, zumal wenn sie nicht aus Slytherin stammten, kaum verkehrten; von Muggeln ganz zu schweigen. „Die alte Innagi“, wie Sues Mutter fast nur genannt wurde, hatte damals ein hartes Regiment geführt. Nun war sie zwar alt und hinfällig, aber die Erinnerungen an die alten Zeiten spukten vielen noch im Kopf herum. Auch Sue erinnerte sich noch daran und war froh, dass sich seit dem Sturz von Tom Riddle hier so einiges geändert hatte. Zwar bedauerte sie ihre Mutter, die seit der Niederwerfung des Aufstandes der Todesser von einer energischen und fitten Ministeriums-Hexe zu einer apathischen und hinfälligen Frau geworden war, aber die neue Offenheit des Hauses Slytherin und die regen Kontakte der jüngeren Generation der Familie Fermata zu Hexen und Zauberern aus anderen Häusern zeigte sich nicht nur in der Farb- und Raumgestaltung des Castellos, sondern auch im offenen und warmherzigen Wesen von Sue Fermata. Einzig der Name „Castello del Serpente“ erinnerte noch an die alten Zeiten. Und natürlich war auch heutzutage das auf einer winzigen Insel im Golfo di Policastro liegende Anwesen immer noch durch einen Vergessenszauber gut geschützt. Während Sue nun ihre Kinder anwies, vor Ankunft der Gäste den Apparierplatz im Garten aufzuräumen, (ständig ließen diese Jungs irgendetwas liegen), schickte sie ihre Tochter Swanhild hinauf in das Turmzimmer, um zu fragen, ob der wegen eines Besuches bei Innagi schon früh angereiste ehemalige Ministeriumskollege Arthur Weasley vor dem feierlichen Mitternachtsmahl noch ein Vesper zu sich nehmen wollte.

5. Turmzimmer

„Wo ich das herhabe? Nun, als ich letztens in dem kleinen Muggeldorf auf dem Festland in einem Trödelladen nach Muggelartefakten suchte, die meine Sammlung vervollständigen könnten, entdeckte ich auch in der hintersten Ecke dieses verstaubte Bild, und irgendwie kam mir der dort abgebildete Mondstein so bekannt vor, als habe ich ihn schon mal auf einem Familienfoto auf deinem Ministeriumsschreibtisch gesehen.“ Nach diesen Worten sah Arthur, wie es hinter der Stirn von der alten Innagi arbeitete und sie schließlich erschöpft sagte: „Diese ganze Sache ist eine alte Geschichte aus der Zeit, als ich noch eine eifrige Slytherin war und Kontakt mit Zauberern aus anderen Häusern oder gar mit Muggeln strikt zu vermeiden versuchte, und ich habe sicherlich aus heutiger Sicht auch Fehler gemacht.“ Die Innagi seufzte und schaute Arthur mit einem unsicheren Blick an. „Wenn du magst, erzähle ich dir die Geschichte, die ich bisher noch keinem erzählt habe, immerhin bist du … bist du doch … so etwas wie … ein Freund?!“ Arthur lächelte überrascht und erfreut zugleich und sagte: „Ja, wenn du es sagst, dann bin ich es wohl, und ich höre dir gerne zu, wenn du erzählen magst.“ „Also“, fing die Innagi an, das Ganze begann einen Monat vor Sues 10. Geburtstag, also vor ca. 30 Jahren …“

6. Küche

„Grandma ist mit Mr Weasley in ein intensives Gespräch verwickelt“, sagte Swanhild, als sie die Treppe wieder hinunterkam. „Ich habe die Türe gleich wieder zugezogen, als ich merkte, dass ich störe und wagte es nicht, sie bei der Erzählung über ein Mondsteinbild zu unterbrechen.“ „Mondstein?“, sagte Sue und erbleichte, „sie sprechen doch nicht etwa über ein Bild von einer Mondsteinkette?“ Und ehe Sue es verhindern konnte überkam sie ein Zittern, während die Bilder der Erinnerung sie überfluteten …

7. Auf dem See

Schlag auf Schlag auf Schlag. Im immergleichen Rhythmus näherte sich der Mann der Bucht, bald würde der den Punkt erreichen, an dem er die Insel sah, auf der das Ziel seiner jährlichen Reise lag; eine jährliche Reise zum immergleichen Ziel, getragen von der immergleichen Sehnsucht und endend mit dem immergleichen niederschmetternden Ergebnis; seit fast 30 Jahren schon, seitdem er damals in dem Dorf auf dem Festland … Schlag auf Erinnerung auf Schlag auf Erinnerung …

8. Erinnerungen

Das kleine Mädchen beobachtete den linkischen Jungen nun schon eine ganze Weile. Er versuchte sich zwar nicht ungeschickt zu verstecken und war nun hinter einem Fass mit eingelegten Heringen gut verborgen, aber dem Mädchen blieb nicht verborgen, dass er sie und ihre Mutter schon vor dem Buchantiquariat verfolgt hatte und nun auch beim Betreten des benachbarten kleinen Gemischtwarenladens gefolgt war. Während ihre Mutter - eine hagere, in düstere Farben gekleidete Hexe, die den seltenen Ausflug ins Muggeldorf an der Küste nutzte, um einige Vorräte aufzufüllen – nun mit abschätzigem Blick einige Trockenfrüchte aus fernen Ländern begutachtete, ging das Mädchen schnurstracks direkt zu dem Holzfass und sprach den Jungen direkt an. „Hallo du! Macht es Spaß, uns zu verfolgen?“ Hinter dem Fass erklang ein Hustenanfall und eine dünne Stimme murmelte etwas, das sich wie „Ich habe euch doch gar nicht verfolgt, ich wollte hier nur ein paar getrocknete Pilze einkaufen“ anhörte. „Ach sooooo“, sagte das Mädchen spitzbübisch, „na klar, und die besten Pilze findet man ja immer hinter dem Heringsfass?!“ „Äh ja, äh nein, also ich …“, stotterte der Junge, während er nun langsam hinter dem Fass hervor geschlichen kam. Er drehte eine verdreckte Mütze in seiner Hand und schaute das Mädchen nun direkt an. Bevor er weitersprechen konnte, rief eine Stimme von der anderen Seite des Ladens: „Sue! Ich gehe eben kurz mit Signore Piscelli ins Lager, eine neue Lieferung getrockneter Kräuter aus fernen Landen ist eingetroffen, warte hier auf mich und gehe nicht nach draußen, hörst du?!“ „Ja, Mutter, wie du meinst“, rief das Mädchen zurück und schaute nun wieder den stotternden Jungen an. Mit einem leichten Grinsen fuhr sie fort: „Nun, da du ja nun gerade meinen Namen gehört hast, wäre es da nicht höflich, sich kurz vorzustellen und zu sagen, was du eigentlich von mir willst?“ Dem Jungen war sichtlich unwohl und er versuchte, das Mädchen nicht direkt anzuschauen, als er leise flüsterte: „Ich heiße Julius, und eigentlich will ich gar nichts von dir. Ich will, ich hoffte, ich dachte …“ Der Junge schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen und sagte gepresst: „Ich wollte etwas von der strengen Signora an deiner Seite, aber ich traute mich nicht und …“, die Stimme brach ab und der Junge schaute Sue nun direkt in die gelbgrünen Augen und fuhr fast unhörbar flüsternd fort: „… stimmt es, dass, dass, dass deine Mutter eine Hexe ist?“ Bei dem letzten Wort presste der Junge erschrocken seine Hand mit der Mütze vor seinen Mund und sah ängstlich und hoffend zugleich aus. Sue erschrak ebenfalls, doch nur kurz und fragte äußerlich schnell gefasst, doch innerlich sehr beunruhigt: „Eine Hexe? Wie kommst du denn darauf? Glaubst du etwa noch an Märchen? Hexen gehören in das Reich der Phantasie!“ Der Junge schaute sie nun überraschend sicherer an. „Ja, ich glaube noch an Märchen, ich glaube auch an das Reich der Phantasie und ich glaube, dass es stimmt, was manche Leute hinter vorgehaltener Hand erzählen: Deine Mutter stammt von der Insel mit dem Castello und dort ... dort leben seltsame Leute mit seltsamen Fähigkeiten. Deine Mutter ist zwar als unnahbar bekannt, aber es glauben viele hier, dass sie eine heilkundige Hexe sei.“ „Geschwätz alter Leute“, sagte Sue reflexhaft, doch sie klang nicht sehr abwehrend. „Und mal abgesehen davon, was solltest du von einer Hexe wollen? Willst du das Fliegen auf einem Besenstiel lernen?“ „Ich wollte deine Mutter um Hilfe bitten“, sagte der Junge und überhörte die leichte Provokation in Sues Stimme, „denn meine Mutter und meine Schwestern sind sehr krank und keiner konnte ihnen bisher wirklich helfen. Wir sind arm, weißt du, ich verdiene unseren Lebensunterhalt mit Kohlezeichnungen von Landschaften und Porträts. Der Besuch des Arztes und die Medikamente waren teuer und geholfen haben sie letztendlich nicht, und nun seid ihr meine letzte Rettung! Denn deine Mutter heißt es, kenne magische Tränke.“ Etwas an diesem Jungen rührte Sue und sie beschloss, ihn nicht einfach auszulachen und stehen zu lassen, sondern sah ihn prüfend an. „Nehmen wir an, etwas an diesen Geschichten entspricht der Wahrheit, so wird meine Mutter dir bestimmt nicht helfen. Sie verlässt die Insel eigentlich kaum, der Besuch hier ist schon eine der seltenen Ausnahmen. Und außerdem mag sie keine Mug…, äh, mag sie keine fremden Menschen.“ Der Junge sank noch mehr in sich zusammen. „Aber sie war meine letzte Hoffnung. Und, und …“, er machte eine Pause und sah sie mit großen, graublauen Augen an, „und du? Kannst du uns nicht helfen?“ „Ich?“, sagte Sue mit nun ebenfalls großen, wenn auch gelbgrünen Augen, „ich, ich … ich kenne nur wenig von diesen Dingen.“ „Aber wenig davon ist vielleicht mehr als alles Wissen des hiesigen Arztes“, sagte der Junge mit leichter Hoffnung und bittendem Blick. „Und wenn schon, aus der Ferne kann ich eh nichts sagen, geschweige denn tun, ich muss sie sehen. Aber das wird nicht möglich sein“, sagte Sue und überlegte fieberhaft nach einer Lösung. „Aber wir wohnen ganz nah“, sagte der Junge drängend, „nur drei Minuten von hier, durch den Hinterhof und den Garten und dann steht da schon unsere Hütte.“ Hinter Sues Stirn arbeitete es, einerseits kannte sie den Jungen kaum und ihre Mutter wäre heftig erbost, wenn sie erführe, dass sie Muggeln geholfen habe; anderseits rührte der Junge sie auf eigentümliche Weise an, und sie hatte auch nie ihre von ihrer Mutter gelernten Fähigkeiten in der Praxis so richtig ausprobieren können. Nach heftigem Ringen fasste sie einen Entschluss und lief zur Kellertreppe des Ladens. „Mutter? Muuuuutter? Ich gehe schnell nach nebenan in das Geschäft von Meister Libri, vielleicht finde ich wieder einige neue Schriftrollen und Bücher, du wirst doch bestimmt wieder Stunden bei den Kräutern und Pulvern verbringen?!“ „Dreißig Minuten, mehr nicht!“, rief eine schneidende Stimme aus dem Keller herauf, „in dreißig Minuten bist du wieder hier, ohne, dass ich dich holen muss! Und du weißt, keinen Kontakt mit …!“ „Ja, Mutter, ich weiß“, sagte Sue erleichtert und sah Julius auffordernd an: „Dann los und nicht gezögert!“ Es waren wirklich nur drei Minuten. Durch den Hinterhof und den angrenzenden Garten geführt, eine verzogene Hintertür in einer kleinen Hütte geöffnet und schon standen sie in einem kleinen dunklen Raum, in dem es feucht und stickig war. In einem Bett, so groß wie Sues eigenes Bett in dem Castello, lag eine verhärmte Gestalt an einem Ende, während zwei gleichgroße Kinder, die Zwillinge zu sein schienen, am Fußende lagen. Alle drei sahen sehr schwach und von einer zehrenden Krankheit gezeichnet aus. „Oh“, sagte Sue und erstarrte. Diesen Menschen ging es wirklich schlecht, das sah man auf den ersten Blick, und ein zweiter Blick würde mehr als einige Minuten dauern. „Ich kann dir nichts versprechen!“, sagte Sue zu dem wieder zitternden Julius. „Ich muss mich nun konzentrieren, bitte gehe oder setze dich da auf diesen Stuhl und verhalte dich still.“ Julius setzte sich auf den klapprigen Stuhl und griff nach einer Papierrolle und einem Stift, während Sue begann, die drei Kranken zu untersuchen. Sie versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die sie bei ihrer Mutter gelernt hatte und die Dinge, die sie durch eigenes Studieren schon selbst erfahren hatte. Sie war zwar erst 10 Jahre alt, aber diese Dinge hatten sie schon immer interessiert, sie lagen ihr gewissermaßen im Blut, wie Mutter immer sagte. „Hmmmm, eine grundlegende Schwächung … ein Fieber … ein Pochen und Brennen … eine schwere Infektion“, murmelte Sue, während sie die drei Kranken untersuchte. Schließlich öffnete sie ihr Hemd und holte einen wunderschönen Stein, der an einer langen Kette befestigt war, hervor. Sie nahm den Stein in die Hand und legte ihn auf die hagere Brust von Julius’ Mutter. Während der Stein dort liegen blieb und eigentümlich schimmerte, wandte sie sich wieder dem Jungen zu, der sie beobachtete, während gleichzeitig die Hand mit dem Kohlestift über das Papier fuhr. „Die Macht des Steins wird die Krankheit aufhalten und den Körper kräftigen, aber sie wird deine Familie nicht heilen können. Das kann nur ein besonderer Trank, ein Theriak, wie ihn meine Mutter braut. Den habe ich nicht bei mir, und ich werde ihn dir auch nicht brauen können.“ „Aber dann, dann werden meine Mutter und meine Geschwister schließlich sterben müssen, oder?“, hauchte der Junge und schaute Sue erschüttert an. Sue überlegte. „Nein, du musst zur Insel kommen, schon morgen Abend, ich …“ und sie betonte die folgenden Worte seltsam formelhaft „ich … lade … dich … hiermit … ein.“ „Zur Insel?“, rief Julius erstaunt, „aber schon viele haben es unternommen, zur Insel zu fahren, aber alle, die es versucht haben, kehrten wieder um und schienen vergessen zu haben, dass sie dorthin wollten. Auch ich hatte schon vor Tagen versucht …“ Sue lächelte Julius an und nahm beruhigend seine Hand: „Nimm dir ein Boot, rudere so, dass du im Dunkeln ankommst, du wirst von ferne einen Landungssteg erkennen und denke daran ‚DU BIST EINGELADEN’.“ Sue nahm die Mondsteinkette wieder an sich, flüsterte einige unverständliche Worte zu den drei Kranken, ließ den verwirrten Jungen stehen, verließ eilends die Hütte und rannte zum Gemischtwarenladen. Gerade als sie zur Tür hinein rauschte, verabschiedete sich ihre Mutter mit einem knappen Gruß von Signore Piscelli. „Ah“, sagte sie mit einem Anflug von Spott, „ich wollte dich schon aus den Klauen der Bücher befreien, aber du hast es ja selbst geschafft! Lass uns gehen, ich habe noch viel zu tun.“ Am folgenden Abend geschah es so, wie Sue es vorhergesagt hatte: Julius hatte sich ein Boot genommen und war zur Insel gerudert, wie schon manche Leute aus dem Dorf vor ihm. Doch er sagte sich immer wieder, dass seine Familie Hilfe bräuchte und dass er eingeladen sei, und so kam es wirklich, dass er auf einmal in der Dämmerung einen Landungssteg sah, dahinter Bäume und ein kleines Castello, in dunkelroten und schwarzen Farben gehalten. Gerade wollte er das Boot am Steg vertäuen, da huschte Sue aus einem Ufergebüsch und stand vor ihm. „Julius“, sagte sie mit leicht gehetzter, aber auch stolzer Stimme. „Ich habe hier den Theriak, den deine Mutter und Schwestern brauchen werden. Ich habe ihn mit Zutaten aus meiner Mutter Vorräten selbst gebraut, ein Schluck für jeden, jeden Abend, eine Woche lang.“ Sie blickte sich gehetzt um und fuhr fort, bevor Julius ihr antworten konnte: „Aber ich kann nicht länger reden, ich glaube, Mutter hat etwas gemerkt, sie war plötzlich so misstrauisch und wir beide werden großen Ärger bekommen, wenn …“ Sue unterbrach sich und schaute Julius an: „Wenn du magst, können wir uns wiedersehen! Dann haben wir mehr Zeit, in dreißig Tagen habe ich nämlich Geburtstag! Mutter mag keine Gesellschaft und wird wie immer zu einem Hexenkongress fahren und ich lade dich hiermit ein!“ Julius schaute verblüfft, das kam jetzt alles sehr überraschend. Er griff schnell nach einer Papierrolle, die er in einem Beutel bei sich trug und wollte sie Sue als Dank überreichen, da hörten sie plötzlich aus der Ferne ein Geräusch. „Ich muss fort, sofort!“, stieß Sue eilig hervor und warf Julius den Theriak zu. „Denk dran, du … bist … eingeladen … in dreißig Tagen!“ Während Julius noch verdattert mit seiner Papierrolle dastand, und „aber mein Dankesgeschenk“ stotterte, hatte Sue sich in Windeseile entfernt. Julius verstaute den Theriak zusammen mit der Rolle in seinem Beutel und stieß schnell vom Ufer ab, als er plötzlich aus der Dunkelheit eine hagere Gestalt am Ufer auftauchen sah, die ihn mit roten Augen ansah und mit eigentümlich singender Stimme zu ihm herüberrief: „Wusst’ ich’s doch, doch nicht zu spät ist’s. Die Einladung der Tochter nicht aufheben kann ich, aber den Wunsch verwandeln, vermag ich! Eingeladen seist du wie gesprochen, aber erst in dreißig Tagen und fünfzehnsechzig Wochen!“ Die letzten Worte nicht mehr vernehmend, ruderte Julius wie um sein Leben und kehrte schließlich zutiefst erschöpft, aber in froher Hoffnung zum Dorf zurück, wo er den Theriak nach Vorschrift verabreichte und nach einer Genesungszeit von drei Wochen seine Mutter und Geschwister wieder gesund in die Arme schließen durfte. Und als die dreißig Tage vergangen waren, hatte er die Einladung zu Sues Geburtstag nicht vergessen. Er steckte die Papierrolle wieder in seinen Beutel, begab sich auf das Boot ... Und Schlag auf Schlag auf Schlag …

9. Turmzimmer

Die alte Innagi schaute Arthur aus blassen Augen an und ihr Atem ging rasselnd: „Er kam nie wieder beim Castello an, nicht zu Sues 10. Geburtstag, nicht zu Sues 11., mein Zauber wirkte, und sie haben sich nie wiedergesehen. Bei späteren Besuchen im Dorf erfuhr ich, dass er mit seiner Mutter und seinen Schwestern nach Sant’ Arcangelo gezogen war, aber jedes Mal am 28. Februar soll er zurückgekehrt sein, um sich ein Boot zu mieten und hierhin zu segeln. Er war inzwischen ein recht begnadeter Zeichner geworden, und ich habe in den Anfangsjahren immer versucht, seine Zeichnungen aufzukaufen, bevor sie meine Tochter eventuell zu sehen bekam. Aber mittlerweile dürfte sie ihn vergessen haben, sie hat ihn ja eigentlich auch kaum gekannt.“ Arthur nahm ihre Hand und versuchte zu verarbeiten, was er eben gehört hatte. Sollte er ihr Vorwürfe machen? Sollte er ihr sagen, wie verbohrt …? Plötzlich hielt er inne und staunte über die scheinbaren Zufälle der Welt. Er schaute die alte Innagi lächelnd an und sagte: „Du weißt schon, was für ein Tag heute ist?“

10. …

Durch die Macht der Bilder überwältigt, hatte Sue sich setzen müssen. Swanhild war nun in den Garten zu ihren Brüdern geeilt und Sue schaute mit schwer gewordenem Herzen aus dem Küchenfenster. Ja, dieser Junge, sie hatte ihn eingeladen, aber er war nie gekommen, nicht an ihrem 10. Geburtstag, nicht an ihrem 11., zu keinem späteren. Ging ja auch nicht, er hatte keine Einladung für andere Tage und später hatte sie ihn nie wiedergesehen. Er hatte ihr vertraut, und sie hatte sein Vertrauen nicht enttäuscht. Sie hatte später noch vielen helfen können und hatte schließlich am Ende ihrer Ausbildung eine Stelle im St. Mungos angenommen. Schade, dass sie ihn nie wiedergesehen hatte, sie hätte ihm so gerne erzählt, wie prägend diese Begegnung für ihr weiteres Leben war. Seufzend griff sie zum Schälmesser, griff nach einem Apfel und schaute gedankenvoll aus dem Küchenfenster hinaus in die Bucht, wo sie plötzlich weit in der Ferne … Und Schlag auf Schlag auf Schlag, ohne Schlag … Holz auf Sand … Schritte …