10. Das letzte Kästchen - -
 Währenddessen rannten Chiris und Alina, wie von allen guten Geistern verlassen, im Zickzack zwischen den Passanten hin und her, immer die Elster in ihrem Blickfeld. Doch sie waren zu langsam und außerdem konnte die Elster fliegen. Schwer atmend machten sie an einer Straßenecke halt. Die Elster war plötzlich aus ihrem Blickfeld verschwunden. „H-h-hast – du – eine – Ahnung – wo sie hin ist?“, schnaufte Chiris schwer. „Nein, nicht die Geringste“, sagte Alina und richtete sich den Bauch haltend auf. Sie waren, wie es schien, quer durch die ganze Stadt gelaufen und das in einem Tempo, in dem kein anderer hätte mithalten können. „Oh!“, sagte da eine vertraute Stimme, „was macht ihr denn hier und wo sind die anderen?“, fragte sie ganz erstaunt. Es war Marcus. „Sind wir denn so nah an den Schlosspark herangekommen?“, fragten sie erstaunt. „Schlosspark? Nein, ihr seid in der Nähe des Elsterparks.“ „Und??“ „Keine Zeit für lange Reden, wie kommen wir dahin?“, riefen beide Mädchen zur gleichen Zeit. "Oh, äh, hier gerade aus und die Übernächste rechts, ist gar nicht zu verfehlen.“ Schon waren die Mädchen wieder auf den Beinen und Alina konnte nur noch ein „danke“ rufen, plötzlich waren beide wieder in der Menschenmenge verschwunden. Im Park angekommen, suchten die beiden den Himmel ab. „Wir müssen uns trennen“, sagte Chiris hastig, „rufe, wenn du sie gefunden hast oder nimm die Trillerpfeife.“ So gingen sie auseinander und jede suchte für sich die Bäume ab. Wie es schien, suchten sie jeden Baum im ganzen Park ab und an dem Letzten trafen sich beide wieder. Dieser war ein sehr großer alter Baum und in der Mitte, durch ein Unwetter, wie es schien, gespalten worden. Ganz oben auf der Spitze war ein Nest und da sahen sie endlich den gesuchten Gegenstand. „Wie kommen wir da bloß hinauf?“, fragte Chiris entmutigt. „Na, wir klettern hinauf“, sagte Alina. Schon machte Alina sich daran, an dem Baum emporzuklettern. „Kann ich euch helfen?“, fragte da Marcus hinter ihnen. „Klar, macht ihr eine Räuberleiter, damit ich an den Ast dort komme“, sagte sie erleichtert. Die Zwei stellten sich auf und hoben Alina hoch. Geschafft, der erste Ast war erreicht. Nun kletterte Alina langsam den Baum weiter hinauf und war bald schon in der Hälfte angekommen. Unten kamen immer mehr Menschen an den Baum heran und schauten nach oben. „Du schaffst es, Alina!“, rief Chiris hinauf. „DU SCHAFFST ES, ALINA“, wiederholte plötzlich die ganze Menschenmenge und Chiris und Marcus drehten sich erstaunt herum. Das Komische war, dass eigentlich keiner so genau wusste, worum es bei dieser Aktion ging. Währenddessen war Alina noch ein gutes Stück weiter vorwärtsgekommen und es wurde gefährlicher, der Hauptstamm wurde immer dünner. Alina hoffte, dass er noch bis oben halten würde, denn sonst müsste sie umkehren. „Warum ist eigentlich Melian nicht mit uns gerannt?“, fragte Alina sich während des Kletterns. „Er hätte doch hochfliegen können. Das wäre immerhin einfacher gewesen.“ Allmählich kam Alina ganz schön ins Schwitzen. Noch einige weitere Meter, dann hatte sie es geschafft. Der Stamm wackelte und schwang jetzt immer mehr hin und her. „Endlich, da ist das Nest“, sagte sie laut zu sich. Die Elster war nicht da, aber dafür die zweite kleine, silberne Truhe. Alina nahm sie vorsichtig in die Hand und unten hielten die Leute den Atem an. Sie packte die Truhe so gut sie konnte in ihren Rucksack. Sie musste sich dabei sehr gut festhalten. Und als das geschafft war – unten klatschten die Leute Beifall –, kam sie langsam den Stamm wieder hinunter, denn es ist ja leichter einen Stamm hinauf zu klettern als herunter zu kommen, da zeigt sich erst der richtige Kletterer. Aber das war für Alina kein allzu großes Problem, denn sie war in ihrer Kindheit schon auf jeden Baum geklettert, den es in oder in der Nähe der Stadt gegeben hatte. Als sie unten ankam, wurde sie von allen beglückwünscht. Doch was Alina wollte, war einfach nur eine Pause von der Strapaze. Der Baum war sehr groß gewesen und das hinterlässt auch Spuren am Kletterer. Ihre Haare waren, obwohl sie sich die Haare vorher zusammengebunden hatte, total zerzaust. Sie hatte einige, leicht blutende Kratzer am Arm und im Gesicht, doch die waren nicht weiter schlimm. Und was ihre Kleidung anging, nun? Sie hingen, teils in Fetzen, an den Mädchen herunter. Vor allem Alina sah sehr mitgenommen aus. Allerdings ihre gute Laune schien dafür umso ungetrübter. Sie hatten ja immerhin den zweiten Teil der Fantasie gefunden! Müde gingen sie langsam zu dem Haus der jungen Frau zurück. „Du lieber Himmel! Wie seht ihr denn aus?“, riefen Robin, Melian und die Frau aus. „Nun kommt aber erst einmal herein, ich lasse euch ein Bad ein.“ Kurz danach fanden sich Alina und Chiris in zwei, mit duftendem Schaumbad gefüllten Badewannen wieder. Alinas Rucksack lag gleich in der Nähe. Die junge Frau, sie hieß Carola, kam herein. „Na, habt ihr auch alles, was ihr braucht? Alina, ich lege dir hier ein paar von meinen Sachen hin. Deine sind ja bei der Kletteraktion kaputt gegangen“, sagte sie. „Ja, danke“, kam es von der im Schaumbad sitzenden Alina zurück. „Und deine Wäsche, Chiris, habe ich vorhin in die Waschmaschine gesteckt. Sie müsste bald trocken sein, aber ich habe dir trotzdem etwas zum Anziehen hingelegt.“ „Danke schön“, erwiderte auch Chiris. Eine halbe Stunde später, kamen sie frisch umgezogen und gekämmt zurück. Beide hatten T-Shirts und halblange Hosen von Carola bekommen. Sobald sie mit Teetrinken fertig waren, besprachen sie mit Carola die Sache mit der Truhe und baten sie um das Säckchen, welches in ihrem Inneren lag. Sie willigte gerne ein, denn es ginge ihr nur um die kleine Truhe, die ein Erbstück ihrer Mutter war. Nun war der zweite Teil geschafft und mit ihm die Mädchen. Eine weitere Nacht verbrachten sie in der Stadt, aber diesmal nicht bei Marcus, der sich am Abend verabschiedet hatte, sondern bei Carola. Der Tag war vorbei und ein neuer brach an. Sie sagten Carola Auf Wiedersehen und diese bedankte sich noch einmal bei ihnen. Auch Melian bedachte sie mit einem dankbaren Lächeln, doch dieser schien seltsamerweise tief in Gedanken verloren zu sein. Dann machten sie sich auf, die Tür zu finden und sie fanden sie auch, aber wie sah sie bloß aus? Auf einem Müllhaufen, nicht weit von Carolas Haus entfernt, inmitten alter Sachen, einer zerstörten Lampe und den Resten eines alten Spielzugschlosses. Sie stellten sie auf. „Das muss die Tür sein, aber warum ist das Wort so zerkratzt?“, fragte Robin erstaunt. „Vielleicht müssen wir es nur richtig wieder hinschreiben“, überlegte Alina laut. Die anderen sahen sie erschrocken an. „Das geht nicht“, sagte Melian stockend. „Warum nicht? Vielleicht kam es dadurch, dass ich gestern auf den Baum geklettert bin. Ich war ja schließlich auch zerkratzt.“ „Nein“, fiel Melian ein. „Also Melian, versuchen können wir es ja“, warf jetzt auch Chiris grübelnd ein, „wenn es die falsche Tür ist, schadet ihr das sowieso nicht, und wenn es die richtige ist, dann ist uns damit weitergeholfen“, schlussfolgerte sie. Also nahm Alina einen Stift aus ihrem dem Rucksack und schrieb die großen, geschwungenen Buchstaben nach. Als sie fertig war, leuchteten die Buchstaben auf. Und es erschien das letzte der drei Wörter, Wagnis. Endlich konnten sie weiter, denn es war viel Zeit vergangen.