Boss111 aus Gryffindor - Eine unvergessene Woche am Meer
Das Bild wurde gezeichnet von Kaba  1. Prolog Jules war vor einer Woche 13 Jahre alt geworden. Er lebte in einem kleinen Ort außerhalb von Paris, der so winzig war, dass er auf kaum einer Landkarte verzeichnet war. Wie in jedem Jahr hatte er auch dieses Jahr Geburtstag in den großen Ferien. Das bedeutete, Geburtstagsfeier ohne seine Mitschüler! Mitschüler? Ja, Jules ging seit zwei Jahren, seit er elf geworden war, in die Beauxbatons-Schule für angehende Zauberer und Hexen. Jules war ein Zauberer, der einzige in seiner Familie. Zumindest bislang. Er hatte noch einen kleinen Bruder, Philippe, der genau 14 Tage nach ihm Geburtstag hatte, und nun, in wenigen Tagen, elf Jahre alt werden würde. Jules erinnerte sich noch gut an den Tag vor zwei Jahren. Nicht nur, dass er von seinen Eltern, Monsieur Jacques Petit und seiner Madame Amelie, ein Kaninchen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, nein, plötzlich kam eine große, braune Schleiereule angeflogen, setzte sich auf den gedeckten Tisch – die Familie saß gerade auf der Terrasse und aß zu Mittag – und streckte ihren Fuß in Richtung Jules. Daran befestigt war eine Rolle Pergament, die Jules entfernte, aufrollte und sofort las. Sehr geehrter Monsieur Petit, wir möchten Sie darauf hinweisen, dass Sie zum 1. September an der Beauxbatons-Schule für Zauberei und Hexerei aufgenommen wurden. Finden Sie sich bitte um 07.30 Uhr am Hafen in Brest, Anleger fünf, ein, wo Sie die Fähre nach Beauxbatons nehmen werden. Wir möchten Sie noch darauf hinweisen, dass Sie zum Unterricht folgende Dinge benötigen: - einen Umhang für den Alltag - einen Festumhang - einen Zauberhut - einen Kessel, Kupfer, 4,5 mm dick - einen Zauberstab - das Buch „Zauberei für Dummies“ von Julien Clons - das Buch „Keine Angst vor großen Drachen“ von Louis Dragon - das Buch „Das Einmaleins der Arithmantik“ von Lucinda Deux - das Buch „Fließende Bewegung des Zauberstabes“ von Corinna Rouge Wir wünschen Ihnen noch angenehme Ferien und erwarten Sie pünktlich am 1. September in unserer Schule. Gez. Prof. Le Jeune, Schulleiter Jules war für einen Moment vollkommen platt. Was war das denn? Nun, er hatte sich von seinem Schrecken schnell erholt und die anfängliche Unsicherheit wich bald einer gewissen Aufregung. Dem Pergament beigefügt befand sich ein Verzeichnis der Läden, in denen Jules die benötigten Sachen kaufen konnte. Er sollte sich in Paris zu einer bestimmten Adresse begeben, dort ein genau vorgegebenes Klingelzeichen benutzen und würde dann in eine ganz besondere Einkaufsstraße eingelassen, die für Nichtmagier nicht zu erkennen wäre. Seine Eltern waren zwar anfänglich ziemlich skeptisch, hatten aber schon Jahre zuvor bemerkt, dass ihr Sohn etwas ganz Besonderes war, ohne dass sie es hätten beschreiben oder erklären können. Nun stellte sich für sie heraus, dass ihr Sohn magische Kräfte hatte, was sie zum einen sehr stolz, zum anderen aber auch etwas unsicher machte. Jedenfalls mussten sie sich damit abfinden und auch mit der Tatsache, dass sie niemandem darüber erzählen durften. Auch das stand auf der Pergamentrolle. Jules tat wie auf dem Pergament vorgeschrieben war, besorgte sich die ganzen Utensilien und wartete schließlich – das wusste er noch, als wäre es gestern gewesen – ungeduldig auf den Tag seiner Abreise nach Beauxbatons. Zusammen mit seinen Eltern und dem damals knapp neunjährigen Bruder fuhr er zum Seehafen nach Brest, wo sie auch nach kurzer Zeit den Anleger fünf fanden. Naja, so einfach war das eigentlich doch nicht. Am Hafeneingang stand ein große Hinweisschild zu den jeweiligen Anlegern, doch war darauf nur Nr. 1 bis Nr. 4 vermerkt. Sie gingen zum hinteren Ende der Nr. 4, wo sie einen gelangweilt aussehenden Seemann in abgerissener Kleidung stehen sahen. Sie wollten sich schon an ihn wenden und um Auskunft bitten, als er die Familie von sich aus ansprach und in einem Tonfall, den man eher an der Sorbonne denn im hintersten Hafengelände vermutet hätte, darauf hinwies, dass sie eine in der nähe befindliche Spelunke „Zur letzten Gräte“ betreten und den Wirt nach der Fähre nach Beauxbatons fragen sollten. Der würde ihnen weiterhelfen können. Tatsächlich wies der Wirt auf eine Hintertür und als die Familie dort hindurchging, fanden sie sich auf einem stark belebten Pier wieder, an dem eine ungewöhnlich große und in kräftigen Rot- und Blautönen angestrichene Fähre lag. Der Abschied vom Rest seiner Familie war für Jules schmerzvoll und zumindest auf Seiten seiner Mutter mit zahlreichen Tränen verbunden, wobei es auch in Jules’s Augen verdächtig brannte. Doch wollte er vor den anderen Kindern und deren Eltern, die gleich ihm auf die Fähre gingen, nicht als Heulsuse dastehen und verkniff sich die Tränen. Die Fahrt ging relativ ereignislos vonstatten, sah man einmal davon ab, dass einigen Schülern, die nur selten das Meer sahen, geschweige denn auf ihm fuhren, fürchterlich schlecht wurde. Nach knapp einer halben Tagesreise erreichten sie eine Insel, auf der sich genau in der Mitte ein imposantes Gebäude erhob, Beauxbatons. Wie im Traum ließ Jules die Aufnahmeprozedur über sich ergehen, war doch alles gänzlich neu und aufregend. Dazu gehörten die Ehrfurcht erweckenden Lehrer, wie auch die größeren Schüler, die – genau wie er – in einen Umhang gekleidet waren und auf dem Kopf einen spitzen Hut trugen. Jules wurde in eine bestimmte Klasse eingeteilt und fand recht schnell Kontakt zu seinen Mitschülern. Das erste Jahr an der Schule verging so schnell, fast wie im Fluge. Er hatte ihm bis dato unbekannte Fächer, die sich alle um das große Thema „Magie“ rankten. Sei es, dass er selbst lernte zu zaubern (vorerst natürlich nur kleinere Sachen), dass er lernte Zaubertränke zu brauen oder magische Geschöpfe kennen lernte. Diese waren teils Furcht einflößend und imposant, teils aber auch unscheinbar und niedlich. Er hatte sich in seinem ersten Schuljahr etwas näher mit einem schmächtigen, dunkelhaarigen Jungen angefreundet, der aus der Nähe von Bordeaux stammte. Er hieß Pierre und kam aus einer reinen Zaubererfamilie. Für ihn war das also nichts Ungewöhnliches, hatte er doch schon seit seiner Geburt mit Magiern und Hexen zu tun. Pierre unterstützte Jules, wo er nur konnte und bald verband beide eine dicke Freundschaft. So mancher Streich wurde von ihnen ausgeheckt und traf nicht nur die Mitschüler, sondern hin und wieder auch die Lehrer, die darauf mit entsprechenden Strafarbeiten reagierten. Jules schrieb seiner Familie – wie es in Zaubererkreisen üblich ist – regelmäßig Eulen, um sie über sein Leben in Beauxbatons und seine Lernfortschritte zu informieren. Als er nach diesem ersten Jahr wieder nach Hause kam, wollte er eigentlich vorführen, was er alles gelernt hatte, gäbe es da nicht die Vorschrift, dass es minderjährigen Zauberern nicht gestattet ist, außerhalb des Schulgeländes zu zaubern. Und da er es nicht riskieren wollte, von der Schule verwiesen zu werden, beschränkte er sich auf das Erzählen der Vorkommnisse in Beauxbatons. Waren seine Eltern schon beeindruckt, so hing doch sein kleiner Bruder schier an seinen Lippen und wollte mehr und mehr über die Schule, die Zauberer und Hexen, die Lehrer und natürlich auch die Sachen wissen, die Jules gelernt hatte. Jules erklärte ihm alles so gut es ging und doch hatte Philippe immer noch eine Frage. Seit diesen Erzählungen wartete Philippe ungeduldig auf seinen elften Geburtstag. Er wollte auch ein Zauberer werden, wollte auch so tolle Dinge machen, von denen sein Bruder erzählte. Hoffentlich hatte er auch magische Kräfte. Zu dumm, dass er noch so jung war. Auch das zweite Jahr in Beauxbatons verging sehr rasch und Jules merkte recht bald, dass er eine besondere Begabung im Umgang mit magischen Wesen hatte. Sein Professor für die Pflege magischer Geschöpfe war immer wieder erstaunt, wie Jules auf die für ihn bis dahin völlig unbekannten Wesen zuging, wie er schnell ihr Vertrauen gewann und wie er ein Gespür dafür entwickelte, was diesen Wesen gut tat und wie er mit ihnen umgehen musste. Jules hatte die seltene Gabe, und das war schon, seitdem er ein kleines Kind war, mit den gefährlichsten Tieren umgehen zu können. Selbst der Nachbarhund zu Hause in seinem Heimatdorf, den jeder Briefträger mied, wo er nur konnte, verwandelte sich in ein lammfrommes Tier, wenn Jules in seine Nähe kam. Außer dem Kaninchen, welches er zu seinem 11. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, besaß er noch ein Aquarium mit seltenen Fischen, einen Goldhamster, einige Eidechsen in einem Terrarium und – und das war etwas ganz Besonderes – einen kleinen grauen Kauz. Jules hatte mit seinen Eltern einen Ausflug gemacht und war dabei durch ein kleines Waldstück gekommen. Niemand außer ihm hatte dieses klägliche Fiepsen gehört, das von einer kleinen Lichtung, nur wenige Meter neben dem Waldweg, ertönte. Jules war dem nachgegangen und fand einen jungen Kauz, noch nicht ganz flügge, der offensichtlich aus dem Nest gefallen war und sich dabei einen Flügel gebrochen hatte. Jules zögerte nicht lange. Er packte den Vogel ein und nahm ihn mit nach Hause. Fast seine ganze Freizeit war nun damit ausgefüllt, den Vogel zu pflegen und zu versorgen. Und tatsächlich, der kleine Kerl erholte sich zusehends und war schon bald der Liebling der ganzen Familie. Jules und „Pieps“, so hatte er den Kauz aufgrund seiner ersten Töne, die er von ihm gehört hatte, getauft, waren bald unzertrennlich. Überall, wo Jules hinging, musste auch „Pieps“ mit. So war es nur normal, dass Jules „Pieps“ auch mit nach Beauxbatons nahm, wo er ihn zu einem Postkauz ausbildete. Über „Pieps“ hielt er immer Kontakt zu seiner Familie und freute sich, wenn diese ihm auch den einen oder anderen Brief aus der Heimat zukommen ließ. Am liebsten hätte Jules in die Sommerferien einen kleinen niedlichen Niffler mitgebracht und ihn seinen Eltern gezeigt. Aber das war leider verboten. Nun war also das zweite Schuljahr vorbei, Jules war 13 Jahre alt und in wenigen Tagen sollte es ans Meer gehen. Die Familie wollte Urlaub machen. So richtig verreisen, erholen, in der Sonne liegen, faulenzen und im Meer baden. Seit Jahren war dies der erste gemeinsame Urlaub, den die Familie Petit zusammen verbringen wollte. Die Reise sollte ans Mittelmeer gehen, in ein kleines Fischerdorf. Vater hatte in seinem Betrieb immer so viel zu tun, dass die Zeit einfach nicht vorhanden war, um mit seinen Lieben wegzufahren. Jules war schon richtig trübsinnig, wenn er von Freunden hörte, wo sie überall hinfuhren. Sei es in die Berge, ans Meer oder an irgendeinen See. Nur er blieb immer zu Hause. Aber das sollte in diesem Jahr anders werden. 2. Reisevorbereitungen Jules saß inmitten eines Berges säuberlich zusammengelegter Kleidung, die er aus seinem Schrank genommen, um sich herum verteilt hatte und auf dem „Pieps“ thronte. Was sollte er einpacken? Wie warm war es am Mittelmeer? Nun ja, im Hochsommer – man schrieb schließlich Anfang August – herrschten bestimmt Temperaturen von über 30 Grad im Schatten. also war das Naheliegendste eine Badehose. Aber was noch? „Mama, hilf mir mal bitte!“, rief er in das Nebenzimmer, wo seine Mutter gerade damit beschäftigt war, die Sachen seines kleinen Bruders zu ordnen. „Was hast du denn mein Liebling?“, kam es zurück. „Ich weiß nicht, was ich einpacken soll“, erwiderte Jules. „Muss ich auch Sachen mitnehmen für schlechtes Wetter? Ist es da mal kalt?“ „Ich komme gleich rüber und werde dir helfen“, antwortete seine Mutter. „Ich muss mich aber erst noch um Philippe kümmern. Der hat so ziemlich alles, was er in seinem Schrank gefunden hat, eingepackt. Es ist aber kein einziges Kleidungsstück darunter.“ Philippe hatte fast seine gesamten Spielsachen in den Koffer gepackt, dazu noch diverse Murmeln, Steine, einen abgerissenen Perlmuttknopf (was immer er damit auch anfangen wollte), Knete und als Krönung, ein Marmeladenglas voller Ameisen, mit denen er zu Hause Experimente anstellte. Zu allem Überfluss ertönte nun auch noch die Stimme des Vaters von unten: „Liebling, kommst du bitte mal, ich weiß nicht, soll ich die grüne oder die blaue Windjacke einpacken.“ Madame Petit schien langsam der Verzweiflung nahe. „Das ist doch egal mein Schatz“, erwiderte sie, „wir wollen doch nicht hoffen, dass es regnet oder kalt wird. Nimm irgendeine von beiden.“ Als Antwort kam ein unverständliches Grummeln von unten und Madame Petit verzog leicht die Miene. „So, mein kleiner Schatz, jetzt wollen wir mal deinen Koffer wieder schön auspacken und die wirklich wichtigen Dinge hineintun“, wandte sie sich wieder ihrem Jüngsten zu. Damit schüttete sie unter lautstarkem Protest Philippes den gesamten Inhalt des Koffers auf einen Haufen. „Du darfst dir zwei Dinge aussuchen, der Rest bleibt hier“, sprach sie mit einem Ton, der keine Widerrede zuließ. Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, da war der Kampf mit Philippe vorbei, der mit leichten Vorteilen für den Sohn ausging. Er hatte es nämlich geschafft durchzusetzen, noch ein drittes Spielzeug einpacken zu dürfen. Bei Jules verlief es wesentlich reibungsloser. Seine Mutter hatte mit geübtem Blick die Dinge herausgesucht, die wichtig waren, von den unwichtigen getrennt und es dann Jules überlassen, wie er sie in den Koffer bekommt. Letztlich half sie ihm beim Schließen des Koffers, der danach aussah, als wollte er jeden Moment platzen. Jules nahm den Koffer (hätte er doch nur zaubern dürfen, dann würde dieses schwere Ding jetzt von ganz alleine nach unten schweben) und ächzte mit ihm die Treppe hinunter. Dort stellte er ihn neben die anderen gepackten Sachen und wartete gespannt darauf, wie sein Vater das alles in das kleine Auto bekommen wollte. Das Unglaubliche geschah. Vater bekam alles hinein. Jetzt würden sie nur noch eine Nacht zu Hause schlafen und am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, würde es losgehen. Zum Meer! An die Atlantikküste! Vater und Mutter hatten ein kleines Fischerdorf an der südfranzösischen Atlantikküste ausgewählt. Dort gab es an einer versteckten Bucht ein verwunschenes, aber dennoch gemütlich aussehendes Gasthaus, das tatsächlich auch noch zwei Zimmer (für Papa und Mama und für Jules und Philippe) freihatte. Die Fotos von dem Haus in dem Reiseprospekt sahen vielversprechend aus. In der Nähe, so stand da auch geschrieben, waren Höhlen zu besichtigen, man konnte Angelausflüge machen oder mit einem Segelboot fahren. Das Tollste aber war, es lag gar nicht so weit entfernt vom Heimatdorf seines besten Freundes aus Beauxbatons, Pierre. Jules hatte sich fest vorgenommen, Pierre zu besuchen, der ausnahmsweise mal in diesem Jahr zu Hause geblieben war. Das wäre ein toller Spaß, wenn Jules mit seiner Familie die Familie von Pierre besuchen würde. Dann würden seine Eltern und sein kleiner Bruder mal so richtige Zauberer sehen. Jules hatte sich das sehnsüchtig gewünscht, Ferien mit der ganzen Familie. Zwar war sein kleiner Bruder hin und wieder eine ganz schöne Nervensäge, lieb hatte er ihn dennoch (auch wenn er es anderen gegenüber nie zugeben würde). Er freute sich auch zu jedem Schuljahresende ganz doll auf sein Zuhause. Freunde, Klassenkameraden, toller Unterricht hin oder her. Zu Hause war es doch am schönsten. 3. „Die alte Seehexe“ Der nächste Morgen begann schon sehr früh. Madame Petit hatte den Wecker sehr zeitig gestellt, schließlich hatte man ja eine ganz schöne Strecke vor sich. Kaum war das Klingeln verstummt, sprang auch schon Jules aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Er wollte noch vor seinem kleinen Bruder fertig sein. Philippe war guter Zweiter. Kurz nach Jules stürmte auch er ins Badezimmer und sah missmutig, dass es Jules vor ihm geschafft hatte. „Los, lass mich mal ans Waschbecken“, maulte er Jules an. „Sei doch nicht so mies drauf“, erwiderte Jules, „Schließlich fahren wir in den Urlaub“. „Ist ja schon gut. Ich wollte nur vor dir fertig sein“, gab Philippe zurück, war aber schon ein wenig milder gestimmt. Madame Petit war überrascht, ihre Kinder kurz darauf fix und fertig gewaschen und angezogen in die Küche kommen zu sehen. „Was ist denn mit euch los? So kenne ich euch ja gar nicht“, fragte sie erstaunt. „Na, heute fahren wir doch ans Meer“, kam es wie aus einem Mund von den beiden Kindern. So aufgeregt hatte Madame Petit die beiden schon lange nicht mehr gesehen. Hastig schlangen die Jungen ihre Cornflakes hinunter, während Monsieur Petit noch einmal beim Auto nach einigen Dingen sah, wohl zum hundertsten Mal. „Man kann nie vorsichtig genug sein“, gab er zurück, als ihn seine Frau darauf ansprach. Wenige Minuten später kam die Nachbarin von gegenüber, die sich während der einen Woche Urlaub um Jules’s Tiere und um die Pflanzen von Madame Petit kümmern wollte. Sie bekam den Schlüssel zu dem gepflegten kleinen Einfamilienhäuschen, versprach, die notwendigen Dinge erledigen zu wollen und winkte den Petits nach, als diese mit ihrem Auto um die Straßenecke bogen, auf dem Weg in den verdienten Urlaub. Endlich war es so weit. Es ging los. Während die Kinder es sich auf der Rückbank gemütlich eingerichtet hatten, breitete Madame Petit auf dem Schoß eine Straßenkarte aus, um noch einmal nachzusehen, wie sie fahren wollten. „Kinder, ihr werdet aber bitte nicht die ganzen Süßigkeiten schon in der ersten halben Stunde vertilgen“, mahnte Madame Petit von vorne, wohl wissend, dass die Kinder es ausnutzen würden, hätte sie nicht ein wachsames Auge auf die Verpflegung für unterwegs. „Mnei Mmamm ...“, kam es gedämpft von hinten zurück. Madame Petit lächelte in sich hinein. Wieso wusste sie eigentlich immer ganz genau, was ihre beiden Spitzbuben da so trieben. Es war noch ein kurzes Hüsteln und leichtes Würgen von hinten zu hören und dann war Ruhe. Jules spürte seinen Zauberstab an der linken Hüfte. Natürlich hatte er ihn eingesteckt, man wusste ja nie ... Ihm war schon klar, dass er ihn eigentlich nicht benutzen durfte, das war die Vorschrift für minderjährige Zauberer, die sie ihnen in Beauxbatons immer und immer wieder eingebläut hatten. Er wusste auch um die Konsequenz, würde er sich nicht an diese Vorschrift halten. Nein, von der Schule wollte er nicht geworfen werden. Dazu machte es ihm viel zu viel Spaß dort. Aber irgendwie gab ihm der Zauberstab ein beruhigendes Gefühl. Warum? Er konnte es nicht sagen. Zwischen den beiden Jungen, in ihrem Käfig, hockte „Pieps“ und gab in regelmäßigen Abständen leise zwitschernde Geräusche von sich. Der kleine Kauz hatte den Kopf nach hinten gedreht, den Schnabel in den Flügeln vergraben und schlief. Wahrscheinlich würde er erst wieder zum Abend hin erwachen und dann auf die Jagd nach Mäusen und anderem kleinen Getier gehen. Die Fahrt schien endlos zu dauern. Nach etwa vier Stunden machten die Eltern eine Pause und man stärkte sich mit Sandwiches und Getränken, die Madame Petit in einen Korb eingepackt und mitgenommen hatte. Ungeduldig traten Jules und Philippe von einem Bein auf das andere. Sie wollten schnell weiterfahren, um möglichst bald an ihrem Ziel anzukommen. „Es ist ja nicht mehr so weit“, gab der Vater an, „Seid doch bloß nicht so ungeduldig. Wir haben eine ganze Woche Ferien vor uns.“ „Ja, eine Woche. Die ist so schnell vorbei“, meinte Philippe. „Ich kann es kaum erwarten, ins Meer zu gehen, am Strand zu spielen und eine Sandburg zu bauen!" Auch Jules konnte es eigentlich nicht schnell genug weitergehen. Er, als großer und vernünftigerer Bruder, wollte allerdings nicht so nörgeln. Es war schon schön genug, mit der Familie überhaupt zusammen Urlaub machen zu können. Plötzlich hatte Jules das Gefühl, dass etwas in einiger Höhe über seinem Kopf schnell in Richtung Meer, also in die Richtung, in die sie auch fahren mussten, flog. Es war so schnell, dass er es nicht genau erkennen konnte. Ein Flugzeug war es jedenfalls nicht, es war keinerlei Motorengeräusch zu hören. Jules blickte sich um, ob auch Vater, Mutter oder sein Bruder etwas bemerkt hätten. Sie machten aber keinerlei Anstalten, nach oben zu schauen. „Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet“, dachte er bei sich. Gleichwohl konnte er sich eines eigenartigen Gefühls nicht erwehren. Was könnte das gewesen sein? Na, egal. Es ging jedenfalls weiter und bald darauf hatte er die Begebenheit schon vergessen, dachte er jedenfalls. Nach weiteren drei Stunden Fahrt konnte man schon langsam das Meer riechen, zumindest kam es Jules so vor. Und dann, plötzlich, nach einer Straßenbiegung, lag es vor ihnen. Das Meer, der Atlantik. Kleine Wellen kräuselten seine Oberfläche und hier und da war eine Schaumkrone zu sehen. Die Straße verlief noch ein kurzes Stück parallel zur Küste und dann lag sie vor ihnen. Die „Alte Seehexe“. Es war ein kleines, gemütlich aussehende Gasthaus, an dessen Fassade sich eine Vielzahl von Kletterpflanzen nach oben rankte und so den Eindruck erweckte, als stünde eine viereckige große Blume mit einer Tür und vielen kleinen Fenstern in der Landschaft. Jules war sofort begeistert und konnte es kaum abwarten, bis das Auto der Petits endlich auf dem mit Schotter bestreuten Parkplatz vor dem Haus anhielt. Beide Kinder rissen die Wagentür af und stürmten nach draußen. Die Eltern folgten ihnen in etwas gemütlicherem Tempo nach. Eine Glocke mit hell klingendem Ton kündigte das Öffnen der Eingangstür und so die neuen Gäste an. Hinter der Rezeption stand eine kleine, ca. 80 Jahre alte Frau, die eine bunt geblümte Schürze an hatte und auf dem Kopf eine weißes Häubchen trug. Mit einem strahlenden Lächeln trat sie auf die Petits zu und hieß sie herzlich willkommen. „Sie müssen die Familie aus Paris sein“, vermutete sie. „Nun, nicht direkt aus Paris aber aus der Nähe“, bestätigte Monsieur Petit. „Ich habe Sie schon erwartet, wenn Sie wollen, können Sie nach dem Auspacken gleich etwas essen. Sie müssen doch nach solch einer langen Fahrt ziemlich müde und hungrig sein." In diesem Moment merkte Jules ein gewisses Rumoren in seinen Eingeweiden. Die Aufregung der Fahrt hatte das Hungergefühl unterdrückt. Jetzt aber, wo die nette alte Dame es ansprach, merkte er, dass er den ganzen Tag nur einige Kekse und ein belegtes Brot zu sich genommen hatte. Nachdem die alte Dame, die sich als Madame Renoir vorgestellt und ihnen die Zimmer gezeigt hatte, gingen alle noch mal zum Auto, um die Koffer zu holen. Jules nahm zuallererst den Käfig mit „Pieps“ aus dem Auto und brachte den Kauz in sein Zimmer. Danach kümmerte er sich um seinen Koffer. Sein kleiner Bruder hatte unter Ächzen und Stöhnen seinen eigenen Koffer bereits in ihr gemeinsames Zimmer geschleppt, wo er sich sofort auf das Bett in der Nähe des Fensters gestürzt hatte. Das Zimmer war nicht gerade luxuriös ausgestattet, dafür aber gemütlich und liebevoll eingerichtet. Auf den Kopfkissen lagen kleine Täfelchen Schokolade und auf den Nachttischen stand je eine Flasche Mineralwasser. Aus dem Fenster konnte man auf das Meer blicken und beide Jungen schauten hinaus. In der Ferne war ein Fischerboot zu erkennen, was in Richtung offene See fuhr. „So, das ist jetzt mein Bett. Du kannst das andere in der Nähe der Tür nehmen“, verkündete Philippe siegessicher, als er seinen Koffer auf das Bett am Fenster gewuchtet hatte. „Ist ja schon gut. Ich muss nicht unbedingt am Fenster schlafen. Ich darf ja schließlich auch als Älterer länger auf bleiben und dann störe ich dich wenigstens nicht, wenn ich nach dir ins Zimmer komme“. Das saß. Nun hatte Jules unmissverständlich klar gemacht, dass er zwei Jahre älter war und somit auch andere Rechte, nämlich die, des Längeraufbleibens, besaß. Philippe schmollte. „Die blöden zwei Jahre. So viel älter bist du auch nicht." „Es reicht aber, dass ich länger auf bleiben darf“, wiederholte Jules. „Da werde ich noch mal mit Mama drüber reden“, maulte Philippe weiter. „Tu das ruhig. Du wirst sehen, du musst doch als erster ins Bett“, sagte Jules entschieden. Das Thema ging noch eine Weile zwischen beiden hin und her, bis schließlich Madame Petit an die Tür klopfte und die Kinder zum Essen rief. Es gab eine Spezialität der dortigen Gegend, überbackene Muscheln mit einer Weißweinsoße (für die Kinder natürlich eine Soße ohne Wein). Es schmeckte allen köstlich. Dazu wurde Baguette gereicht und ein frischer Salat der Saison. Zum Abschluss brachte Madame Renoir noch eine reichhaltige Käseplatte – Käse schließt bekanntlich den Magen. „Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt“, fragte sie, als sie das Geschirr abräumte. „Oh, vorzüglich. Ich habe noch nie so köstliche Muscheln gegessen“, antwortete Monsieur Petit mit einem wohligen Unterton. „Danke, ganz ausgezeichnet“, erwiderte auch Madame Petit. Die Kinder knabberten noch an ihrem letzten Stück Käse und da man bekanntermaßen mit vollem Mund nicht sprechen soll, enthielten sie sich der Stimme. „Sagen Sie“, fuhr Monsieur Petit fort, „was kann man den hier in der Gegend so unternehmen, wenn man nicht nur am Strand liegen und im Meer baden will“? „Oh, ganz in der Nähe sind Höhlen, die erst vor kurzer Zeit entdeckt und für den Tourismus erschlossen wurden. Teilweise jedenfalls. Angeblich ist der Großteil der Gänge noch unerforscht und viel zu gefährlich, als dass man dort hinein gehen könnte. Aber es werden dort Führungen veranstaltet und man kann sogar einen unterirdischen See besichtigen. Es heißt, dass sich im Mittelalter in diesen Höhlen Hexen versteckt haben sollen, als die Jagd auf sie ihren Höhepunkt erreicht hatte. Wissen Sie, das war, als nahezu jeden Tag irgendwo ein Scheiterhaufen angezündet und eine Unschuldige verbrannt wurde. Aber wenn Sie mich fragen, ich glaube ja an so etwas nicht. Hexen gab und gibt es überhaupt nicht! Diese Geschichten haben auch dazu geführt, dass einer meiner Vorfahren, ein Ururururgroßvater dieses Gasthaus „Die alte Seehexe“ genannt hat. Seine damalige Ehefrau stand kurzzeitig im Verdacht, eine Hexe zu sein. Sie konnte jedoch ihre Unschuld beweisen. Aber ich komme mal wieder ins Plauschen und Sie haben sicherlich anders zu tun, als den Schauermärchen einer alten Frau zuzuhören.“ Irgendwie hatte Jules das Gefühl, ein seltsames Blitzen in den Augen und ein leichtes Schmunzeln um den Mund von Madame Renoir bemerkt zu haben. Was konnte das bedeuten? Wusste sie mehr, als sie hier sagen konnte oder wollte? Nach diesem schmackhaften Abendmahl jedenfalls wollten die vier Petits noch einen kurzen Verdauungsspaziergang ans Meer machen. Da das Gasthaus in unmittelbarer Nähe zum Wasser stand, waren es nur wenige Schritte und sie waren in den Dünen. Welch herrlicher Anblick! Die Sonne ging gerade unter und war ein blutrotes Licht auf das nun still daliegende Wasser. „Atemberaubend“, war das Einzige, das Madame Petit herausbrachte. „Oh ja“, meinte ihr Ehemann. Jules und Philippe hingegen hatten noch nicht so den rechten Blick für die Naturschönheiten. Sie waren schon fleißig damit beschäftigt, nach Muscheln und anderen Sachen zu suchen, die das Meer an den Strand gespült hatte. Jules war es, der den Krebs entdeckte und seinen Bruder darauf aufmerksam machte. Beide beobachteten ihn auf seinem Weg zum Wasser, wo er kurz darauf verschwand. Als die Sonne endgültig untergegangen war, ging Jules mit seiner Familie wieder zurück zum Gasthaus, wo die nette Madam Renoir schon auf sie wartete. „Nach so einer anstrengenden Fahrt werden Sie bestimmt müde sein“, fragte sie die Heimkehrer. „Eigentlich schon, aber ich würde mich mit meiner Ehefrau gerne noch auf ein Gläschen Rotwein in die Gaststube setzen“, entgegnete Monsieur Petit. „Die Kinder werden schon ins Bett gehen“. „Aber Papa, wir haben doch Ferien“, erklang es unisono aus beiden Kindermündern. „Nichts da, wir haben zwar Ferien, ihr braucht aber euren Schlaf“, kam die resolute Antwort. Maulend gingen Jules und Philippe nach oben. „Siehst du, von wegen älter und länger aufbleiben dürfen“, frohlockte Philippe. „Ach sei still“, war Jules knurrige Antwort. „Jetzt müsste ich die Langziehohren haben. Das ist was ganz Neues. Das soll es in London in der Winkelgasse geben. Ich habe davon gehört. Damit soll man anderen zuhören können, ohne dass man direkt daneben sitzt“. Philippe schaute fasziniert seinen Bruder an. „Langzieh... was?“, fragte er verblüfft. „Ach, vergiss es“, das ist sowieso nichts für dich. „Ja, ja. Mal wieder nichts für mich. Aber für dich, was? Was gibts denn nicht noch so alles in dieser Winkelgasse“, fragte Philippe nach. „Genaues weiß ich auch nicht. An meiner Schule wird so allerlei darüber geredet. Es soll einen Laden geben, der von einem Zwillingspaar betrieben wird. Ich glaube, die heißen Weesly oder so ähnlich. Da soll es Dinge geben, davon kann man nur träumen“. Gebannt schaute Philippe seinen Bruder an. „Hat das was mit zaubern zu tun“, fragte er neugierig. „Natürlich. Was glaubst du denn. In diese Winkelgasse in London kommt kein normaler Mensch, die übrigens bei uns Zauberern „Muggel“ genannt werden, hinein. Der Zugang ist nur mit Hilfe eines Zauberstabes zu öffnen." „Ooooh“, war alles, was Philippe herausbringen konnte. „Ich will auch zaubern können“, brachte er noch heraus. „Na mal sehen, du wirst ja bald elf und vielleicht kommt ja auch zu dir eine Eule." „Das wäre toll“ „Hast du übrigens vorhin die Bemerkung von Madame Renoir gehört, dass es angeblich keine Hexen gibt? Wenn die wüsste“, fuhr Jules fort. „Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie es auch so meinte, wie sie es gesagt hat. Irgendwie habe ich einen eigenartigen Unterton in ihrer Stimme gehört und in ihren Augen war auch ein seltsames Blitzen zu sehen." „Ja, das ist mir auch aufgefallen“, bestätigte Philippe. „Wir müssen uns mit ihr mal unter sechs Augen unterhalten, wenn Mama und Papa nicht dabei sind“, fuhr er fort. „Ich finde aber die Geschichte von den Höhlen wahnsinnig spannend. Vor allem den Teil mit den unerforschten Gängen. Da könnte man vielleicht ...“ „Untersteh’ dich, da auf eigene Faust etwas zu unternehmen“, unterbrach ihn Jules. „Wenn du dich da drin verirrst, finden wir dich nie wieder und du wirst elendiglich verhungern und verdursten!" Philippe wurde blass. „Ist ja schon gut. War ja nur so ein Gedanke“, schwächte er seine Worte ab. „Ja, aber ein blöder Gedanke. So, und jetzt zieh dich aus, putz’ dir die Zähne und dann gehen wir ins Bett. Ich merke doch, dass die Fahrt anstrengender war, als ich gedacht hatte." Jules und Philippe machten sich fertig und kuschelten sich zufrieden brummend in die Federbetten. Zuvor hatte Jules noch „Pieps“ frei gelassen, ihm einen schönen Abend und gute Jagd gewünscht und ihn zum Fenster raus gelassen. Kurz schaute er ihm noch nach, bis er als immer kleiner werdender Punkt am Himmel verschwand. 4. Der erste Urlaubstag Jules und Philippe erwachten nahezu gleichzeitig., denn „Pieps“ war heim gekommen und klopfte leise mit dem Schnabel gegen das Fenster. Beide sprangen auf und Jules ließ den kleinen Kauz ein. Dennoch war er vor seinem kleineren Bruder fertig und stürmte die Treppen nach unten. Beide wollten frühzeitig am Frühstückstisch sein, um gleich danach ans Meer zu gehen. Das Wetter machte einen hervorragenden Eindruck, kein Wölkchen war am Himmel zu sehen. Es schien, dass es ein richtig schöner, warmer Sommertag werden würde. Und was konnte man an einem solchen Tag besseres tun, als an den Strand zu gehen und im Meer zu schwimmen. Als Jules an der Küchentür vorbei kam, sie hatte im oberen Drittel eine kleine Fensterscheibe, davor eine niedliche Scheibengardine und stand leicht offen, sah er instinktiv in die Küche hinein. Die Gardine war darüber hinaus etwas zur Seite verrutscht und er sah – fast konnte er es gar nicht glauben – wie sich in den großen schmiedeeisernen Kochtöpfen, in denen offensichtlich schon das Mittagessen vorbereitet wurde, die Kochlöffel von ganz alleine drehten und rührten. Durch seinen Schwung, den er hatte, wurde er erst einmal an der Tür vorbei getragen, stoppte sofort und ging zurück. Hatte er nur geträumt? Am Herd stand Madame Renoir und legte selbst Hand an, das heißt, sie rührte mit den Kochlöffeln in den Töpfen herum. Jules war sich sicher, dass sie einen Moment zuvor noch nicht dort gestanden hatte. Nein! Die Löffel hatten sich von ganz allein bewegt. Was war hier los? „Guten Morgen mein Junge“, Madame Renoir hatte Jules durch die leicht offen stehende Tür erblickt und ihn begrüßt. „Geh’ nur ruhig in die Stube, deine Eltern sind schon beim Frühstück. Was möchtest du trinken? Tee, Milch oder Kakao“? Fast wäre ihm „Butterbier“ herausgerutscht. Aber das trank man ja ohnehin nicht schon am Morgen. „Äh, Kakao wäre mir sehr recht, Madame“, antwortete er höflich und musterte dabei die gesamte Küche aus den Augenwinkeln. Was ging hier vor sich? „Kommt denn dein Bruder auch gleich“, sprach Madame Renoir weiter, ohne dass sie irgend ein Anzeichen von Unsicherheit zeigte. „Ja, der muss gleich nach mir kommen“, erwiderte Jules. „Und er trinkt auch Kakao“. „Das ist gut. Ich bringe dann gleich eine große Kanne hinein." Immer noch etwas verwirrt ging Jules in die Gaststube und setzte sich an den Tisch seiner Eltern. „Hast du gut geschlafen, mein Liebling?“ fragte ihn seine Mutter. „Ja, hervorragend. Wie ein Murmeltier." „Das liegt bestimmt an der frischen Seeluft“, ergänzte sein Vater. Gleich darauf stürzte auch Philippe in die Gaststube. „Ich könnte einen Ochsen verschlingen, so einen Hunger habe ich“, prustete er sofort los. „Na, na. Setz dich erst mal in Ruhe hin und versuche die leckeren Milchbrötchen“, sagte Frau Petit. Da ging auch schon die Küchentür auf – auch von der Gaststube aus gab es einen Küchenzugang – und Madame Renoir erschien mit einem Tablett, auf dem eine große Kanne dampfenden Kakaos stand. Daneben, unter selbst gehäkelten kleinen Mützchen, die fast wie Zauberhüte aussahen, befanden sich einige gekochte Frühstückseier. „Na, dann wünsche ich guten Appetit“, meinte sie und wandte sich wieder der Küche zu. „Sagt mal, ist euch an Madame Renoir irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Jules die anderen, als sie in der Küche verschwunden war. „Nein, wieso denn“, kam es zurück. „Was meinst du?“, ließ sich Frau Petit vernehmen. „Oooch, nur so“, druckste Jules herum. Er wollte von seiner Wahrnehmung nichts erzählen, obwohl er eigentlich schon einen ganz bestimmten Verdacht in eine entsprechende Richtung hatte. Er nahm sich vor, Madame Petit ein wenig zu beobachten und so seinen Verdacht erhärten zu können. Nach dem Frühstück zogen sich alle die Badesachen an und liefen mit Sack und Pack die paar Meter zum Strand. Die Kinder waren fast nicht aus dem Wasser zu bekommen, erst als ihre Lippen schon blau vor Kälte angelaufen waren, sprach Monsieur Petit ein Machtwort. „Ihr kommt jetzt beide aus dem Wasser und werdet euch erst mal aufwärmen bevor ich euch wieder rein lasse“, verkündete er energisch. „Ist ja schon gut. Es macht doch aber so einen Spaß“, riefen Jules und Philippe zurück. „Das glaube ich euch gerne, es macht aber auch noch in einer halben Stunde Spaß“, ließ Monsieur Petit nicht mit sich handeln. Nachdem sich Jules abgetrocknet hatte, verkündete er, durstig zu sein und sich etwas zu trinken holen zu wollen. „Ist gut, zum Gasthaus ist es nicht weit. Lauf schnell hin und hole für uns alle ein paar Flaschen Mineralwasser“ beauftragte ihn seine Mutter. „Kommst du mit“ fragte Jules seinen kleinen Bruder. „Ach nein. Ich will lieber hier in der Sonne liegen bleiben“ kam es zurück. „Ist ja mal wieder typisch! Will alles haben, will aber nicht tragen helfen. Und schon bleibt wieder alles an mir hängen“, brummelte Jules vor sich hin, als er in Richtung Gasthaus lief. „Hast du was gesagt?“, rief ihm Madame Petit hinterher. „Nein, nein. Ist schon gut. Ich musste nur etwas hüsteln“, erwiderte er. Die wenigen Meter zur „alten Seehexe“ hatte Jules schnell überwunden. Er betrat das Gasthaus und wollte sich auf die Suche nach Madame Renoir begeben, als er Stimmen aus der Gaststube hörte. Durch die geöffnete Tür konnte er sehen, dass die alte Dame vor dem Kamin kniete und ihr Oberkörper darin verschwunden war. In diesem Moment hörte er sie sagen: „Nein, Justine, das sind ja erstaunliche Neuigkeiten. Hoffentlich kommt diese Wesen nicht in unsere Gegend. Du weißt ja, in früheren Zeiten soll es hier eine richtige Kolonie davon gegeben haben." Die Antwort konnte Jules nicht verstehen, gleich darauf erklang aber wieder Madame Renoir’s Stimme, wobei sie diesmal einen etwas besorgten Unterton hatte. „So, er ist also gesehen worden, wie er in unsere Richtung flog. Na, dann werde ich mal die Augen aufsperren und mich beim Ministerium erkundigen, was man machen soll, wenn man das Tier sieht. Das ist ja schließlich gefährlich und ich habe hier in der Gegend nicht so viel Unterstützung, wie ich mir wünschen würde." Ein leises Geräusch, verursacht von Jules, ließ Madame Renoir zusammenschrecken. Sie kam schnellstens mit ihrem Oberkörper aus dem Kamin, richtete sich auf und versuchte eine Erklärung abzugeben: „Ach Jules, der Kamin hat im vergangenen Winter nicht so richtig gezogen und da ich jetzt ein wenig Zeit hatte, wollte ich mal nachsehen, woran es liegt. Du weißt ja, alte Menschen neigen dazu sich selbst etwas zu erzählen und so habe ich vor mich hingeredet, als ich im Kamin steckte." „Wissen Sie Madame Renoir, ich weiß genau, was Sie da getan haben. Sie haben sich über das Flohnetzwerk mit jemandem unterhalten. Sie brauchen vor mir keine Angst zu haben und das zu leugnen. Ich hatte vorher schon den Verdacht, dass Sie eine Hexe sind und die Bezeichnung des Gasthauses auch etwas mit Ihrer Herkunft zu tun hat. Ich selbst bin ein Zauberer in der Ausbildung. Ich gehe auf die Beauxbatons-Schule. Nach den Ferien werde ich in die dritten Klasse kommen." Madame Renoir, die eigentlich erst alles abstreiten wollte, atmete bei diesen Worten Jules sichtlich auf. „Na, dann brauche ich mich ja nicht mehr so zu verstecken“, erwiderte sie. Ich hatte schon Angst, dass meine Tarnung auffliegen könnte. Ich habe auch ganz genau bemerkt, dass du gesehen hast, wie ich mit Hilfe der Magie gekocht habe. Seit Jahren lebe ich in der Angst, dass mein Geheimnis entdeckt werden könnte und ich die Gegend hier, die meine Heimat ist, verlassen müsste.“ „Das wäre aber auch in diesem Fall nicht erforderlich. Es gibt doch im Ministerium Zauberer, die sich damit befassen, die Gedächtnisse von Muggeln zu beeinflussen, die uns oder Gegebenheiten bemerkt haben, die sie lieber nicht hätten sehen sollen“, beruhigte sie Jules. „Was denn, so etwas gibt es?“, fragte Madame Renoir. „Ich bin nun schon so alt und habe bis auf meine Freundin Justine niemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. Justine ist auch fast so alt wie ich und was so alles in der Welt vor sich geht interessiert mich nicht mehr. Ich bin glücklich hier, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe mir hier mein eigenes kleines Reich geschaffen und bin froh, wenn ich in Ruhe gelassen werde. Nur hin und wieder vermiete ich die Zimmer in denen du und deine Eltern wohnen. Das ist immer dann, wenn ich mich einsam fühle und ein wenig Gesellschaft brauche." Jules tat die alte Frau ein wenig leid. „Sie brauchen vor mir oder meiner Familie wirklich keine Angst zu haben“, sagte er. „Alle wissen, dass ich ein Zauberer bin und auch mein kleiner Bruder hofft, dass er in zwei Tagen, wenn er elf Jahre alt wird, eine Eule mit einer Einladung bekommt und auf die gleiche Schule gehen darf wie ich. Im Moment wissen wir noch nicht so genau, ob auch er magische Kräfte hat. Bei einigen Gelegenheiten hatten wir schon so ein Gefühl, was sich aber bislang noch nicht so bestätigt hat." Nunmehr schien Madame Renoir vollends beruhigt zu sein. Ein strahlendes Lächeln trat auf ihr Gesicht und die Sorgenfalten, die auf ihrer Stirn zu sehen waren, verschwanden. „Da fällt mir jetzt ein richtiger Stein vom Herzen. Du bist also auch ein Zauberer. Wenn du mal ein wenig Zeit für mich hast, musst du mir alles erzählen, was in der Zaubererwelt so los ist. Hier lebt man wirklich wie hinter dem Mond. Ich lese auch keine Zeitung und bin darauf angewiesen, was mir meine Freundin erzählt. Justine lebt in Paris und ist so ziemlich in meinem Alter. Hauptsächlich reden wir über die guten alten Zeiten, es sei denn, es ist etwas ganz Außergewöhnliches passiert. Heute zum Beispiel hat sie mir davon berichtet, dass gestern ein ganz gefährlicher Drache aus einem Zuchtbetrieb in der Bretagne ausgebrochen ist. Dieser Zuchtbetrieb hat sich zur Aufgabe gemacht, die vom Aussterben bedrohten Drachenarten zu züchten und sie in Gebiete auszuwildern, die von Muggeln nicht bewohnt werden. Nun hat ein unvorsichtiger Wächter eine Käfigtür offen gelassen und ein noch nicht ganz ausgewachsener Drache, ein sibirischer Eisenbeißer, soll verschwunden sein. Nicht ausgewachsen hört sich gut an. Meine Freundin hat mir berichtet, dass er auch schon so ca. vier Meter groß ist, voll ausgewachsen misst er etwa sieben Meter. Berichtet wird, dass er in unsere Richtung geflogen sein soll." Das war es. Siedend heiß fiel Jules die Beobachtung ein, die er während der Rast auf der Fahrt gemacht hatte. Ihm war doch so, als hätte er ein Flugzeug oder ähnliches gesehen, ohne dass ein Geräusch zu hören gewesen wäre. Das war es. Das muss der Drachen gewesen sein! „Hat man ihn dann noch einmal gesehen?“, fragte er neugierig weiter. „Nein, bislang leider nicht. Die im Ministerium sollen ganz aufgeregt sein und haben alle, die sich mit magischen Geschöpfen auskennen, ausschwärmen lassen, um den Drachen zu suchen. Aber du weißt ja, man kann eben nicht überall sein." Ein Drache. Wäre das toll wenn Jules ihn finden würde. Was würden seine Eltern und die ganze Schule sagen, wenn es hieße: Schüler von Beauxbatons hilft dem Ministerium beim Einfangen eines gefährlichen Tieres." Er wäre der Held der ganzen Schule. Aber das waren Träumereien eines Halbwüchsigen. Er machte sich keine Hoffnung helfen zu können. Wahrscheinlich würde man seine Unterstützung auch gar nicht annehmen wollen, da er noch viel zu jung war. Obwohl … er hatte ein Faible für magische Geschöpfe und wenn er sich Gedanken über seinen späteren Beruf machte, so konnte er sich durchaus vorstellen, etwas in dieser Hinsicht machen zu wollen. Züchter bedrohter magischer Geschöpfe. Das wär’s doch was! „Worüber denkst du nach?“, unterbrach ihn die Stimme Madame Renoir’s. Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Das ist für dich viel zu gefährlich“. Madame Renoir schien Gedanken lesen zu können. Sie hatte eine Ahnung, was Jules gerade durch den Kopf ging. „Nein, nein. Nicht was Sie denken“, beeilte sich Jules zu versichern. „Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, dass morgen mein Freund aus Beauxbatons mit seiner Familie uns besuchen kommen will. Da Sie ja nun eine Hexe sind, haben Sie doch bestimmt nichts dagegen, wenn mein Freund das Flohnetzwerk benutzt und durch Ihren Kamin kommt. Oder?" „Aber bestimmt nicht. Das ist viel einfacher und sicherer als mit dem Auto." „Vielen Dank, da werde ich meinem Freund gleich heute Abend noch eine Eule schreiben und ihm das mitteilen“, freute sich Jules. Dann kann er gleich morgen nach dem Frühstück ankommen. Andere Gäste haben Sie ja nicht, vor denen wir das verheimlichen müssten. Und meine Eltern wissen sowieso bescheid. Ach so, weshalb ich eigentlich gekommen bin. Können Sie mir bitte ein paar Flaschen Mineralwasser geben? Ich wollte sie eigentlich für meine Eltern, meinen Bruder und mich holen und zum Strand bringen. Bis ich hier dann abgelenkt wurde." „Aber natürlich“, lächelte Madame Renoir. „Ihr könnt euch in der Küche gerne selbst bedienen und sagt mir hinterher einfach nur, was ihr genommen habt. Jetzt muss ich ja auch nicht mehr so vorsichtig beim Kochen sein“ sagte Madame Renoir mit einem verschmitzten Lächeln. Jules griff sich einige Flaschen und lief wieder in Richtung Strand. Ganz außer Atem kam er bei seinen Eltern an und erzählte ihnen sofort die Neuigkeiten, die er in der Gaststätte erlebt hatte. „Aha! Die liebe Madame Renoir also auch eine Hexe“ ,meinte Madame Petit. „Na, das ist ja vielleicht eine Überraschung. Ein Glück, dass wir in unserer Familie selbst einen Magier haben“, fuhr sie fort und blinzelte dabei Jules zu. Jules Familie schien nicht sonderlich überrascht zu sein. Im Gegenteil. Sie waren eher neugierig, schließlich hatten sie mit ausgewachsenen Zauberern und Hexen bis dato eher weniger zu tun, sah man einmal von den kurzen Momenten im Fährhafen von Brest ab, wo natürlich eine Vielzahl von Magiern herumlief. Jules erzählte weiter, dass er seinem Freund noch heute eine Eule schicken würde, damit er mit seinen Eltern durch den Kamin reisen konnten. Schließlich wollte sie ja am nächsten Tag zu Besuch kommen. „Was, durch den Kamin?“ fragte Monsieur Petit ungläubig. „Aber Papa, ich habe dir doch schon mal von dem Flohnetzwerk erzählt“, entgegnete Jules mit einem leicht verzweifelten Unterton in der Stimme. „Kannst du dich nicht mehr erinnern?“ „Ja, doch. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich hatte es nur wieder vergessen. Es ist doch aber etwas anderes, wenn man davon erzählt bekommt und wenn man es selbst erleben darf“, stimmte Monsieur Petit zu. „Morgen kannst du es selbst sehen. Das ist ganz simpel und unter Zauberern weit verbreitet. Es spart viel Zeit, insbesondere dann, wenn man keinen Portschlüssel benutzen kann und nicht apparieren darf.“ „Ah ja …“, Monsieur Petit war etwas sprachlos. Das waren Begriffe, die ihm nicht so sehr geläufig waren, aber sein Sohn würde schon wissen worüber er redete. Philippe, der das Gespräch mitbekommen hatte, war natürlich ganz aufgeregt. Eine richtige Hexe! Vielleicht könnte er sie überreden, etwas für ihn zu zaubern. Jules durfte das ja noch nicht aber Madame Renoir war schließlich eine ausgewachsene Hexe. Mal sehen, was man da machen konnte. Den restlichen Tag versuchte Philippe alles aus seinem Bruder herauszuholen, was nur ging. Er löcherte ihn so lange mit seinen Fragen, bis Jules drohte – trotz des Verbotes des Zauberns Minderjähriger in der Öffentlichkeit – ihn in ein übergewichtiges Warzenschwein mit grünen Borsten zu verwandeln (Philippe musste ja nicht wissen, dass Jules das noch gar nicht konnte). Schlagartig verstummte Philippe mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht. „Das würdest du doch nicht tun … oder?“, fragte er ängstlich. „Wenn du so weiter machst, ja“, entgegnete Jules resolut. Innerlich musste er sich zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Mal sehen, wie lange er Philippe auf diese Art und Weise noch in Schach halten konnte. Wenn er wirklich auch magische Kräfte entwickelte und nach Beauxbatons käme, wäre es ganz schnell damit vorbei. Der restliche Tag verging mit friedlicher Faulenzerei. Jules und Philippe tollten im Wasser umher und auch ihre Eltern kamen zeitweise hinein, um sich abzukühlen. Es war ein rundum gelungener Urlaubstag. Abends setzte sich die Familie zusammen in die Gaststube und wieder gab es Köstlichkeiten zu essen, die Madame Renoir mit Hilfe von ein wenig Magie zubereitet hatte. Monsieur Petit bat Madame Renoir nach dem Mahl an den Tisch und bat sie, ein wenig über die Geschichte des Hauses und ihrer eigenen Familie zu erzählen, was darauf hinauslief, dass es sehr spät in der Nacht wurde, als die Kinder endlich ins Bett gingen. Insbesondere hatte es Jules und Philippe brennend interessiert, was es mit den Höhlen der Umgebung auf sich hatte. Madame Renoir bestätigte, dass es früher dort Hexen und Zauberer gab, die sich vor der Hexenverfolgung in Sicherheit brachten. Das Problem war jedoch, dass es zu dieser Zeit auch eine Vielzahl von Drachen auf der Erde gab – mittlerweile war ein Großteil davon ausgestorben – die sich gerne in diesen Höhlen aufhielten und eine Gefahr für die Schutz suchenden Zauberer darstellten. Madame Renoir erzählte, dass auch der Erbauer des Gasthauses ein Zauberer war, der aus einer anderen Gegend stammte, vor der Hexenverfolgung flüchtete und schließlich hier gelandet war. Er selbst hatte sich auch in den Höhlen verstecken müssen und war dann, nachdem die Verfolgung abgeflaut war, hier geblieben. Er hatte in den Höhlen eine junge hübsche Hexe kennen gelernt, hatte sie geheiratet und war somit hier sesshaft geworden. Aufgrund ihrer Abstammung hatte er das Gasthaus dann „Die alte Seehexe“ genannt, was definitiv keine Anspielung auf seine hübsche Ehefrau darstellen sollte. Seit Generationen gab es in der Familie von Madame Renoir nur Zauberer und Hexen, wobei sie die Letzte ihrer Familie war. Ihre Ehe war kinderlos geblieben und ihr Ehemann schon vor Jahren gestorben. Um so mehr freute sie sich, dass sie nun einen jungen Zauberer zu Gast hatte, dem sie in einer ruhigen Minuten bestimmt auch noch das eine oder andere Zauberkunststück oder den einen oder anderen Zauberspruch beibringen konnte. Gleich fühlte sie sich um Jahrzehnte jünger und war schon ganz neugierig auf den Besuch, der für den kommenden Tag angekündigt war. Endlich mal wieder eine komplette Zaubererfamilie, mit der man fachsimpeln konnte. Das war der Punkt, an dem Monsieur Petit auf die Uhr schaute und ganz erschrocken ausrief: „Oh je. Schon fast Mitternacht. Die Kinder müssen jetzt aber sofort ins Bett." Trotz erheblichen Protestes ließ sich Monsieur Petit nicht erweichen und Jules und Philippe mussten in ihre Zimmer. Oben schrieb Jules noch schnell einen kurzen Brief, befestigte das Pergament an einem Bein von „Pieps“ und schickte in los zu seinem Freund. Er hatte ihm geschrieben, dass ihre Wirtin auch eine Hexe wäre und die Familie könnte per Flohnetzwerk anreisen. Zur Sicherheit notierte er noch die genaue Anschrift, damit sein Freund nicht irgendwo in der Wildnis in einem verlassenen Bauernhaus auftauchen würde. Danach ging er ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Er träumte von riesigen, feuerspeienden Drachen und Zauberern, die auf ihnen saßen und durch die Lüfte flogen. 5. Die Familie LeBlanc Die zweite Nacht in der „Alten Seehexe“ verlief ereignislos. Am Morgen saß schon „Pieps“ auf dem Fensterbrett und trug ein Pergament an seinem Bein. Darauf stand geschrieben: Haben deine Post erhalten, werden so gegen 10.00 Uhr kommen. Erwarte mich mit meinen Eltern am Kamin, Gruß Pierre. Jules freute sich schon auf den Besuch. Was würden sie für einen Unsinn anstellen und vielleicht auch auf Entdeckungsreise gehen und Abenteuer erleben. Erst einmal musste er aber mit seinem Bruder zum Frühstück, das wie im Zeitlupentempo zu vergehen schien. Ständig sah Jules zur großen alten Standuhr hinüber, die Zeiger waren aber wie festgeklebt. Sie rührten sich kein Stück vorwärts. Als es 09.00 Uhr war, konnte er es kaum noch aushalten. Ständig lief er zwischen Strand, an dem sich seine Eltern und sein Bruder schon aufhielten, und der Gaststube hin und her. Dann, es war 5 Minuten vor 10.00 Uhr, kamen Madame Renoir, Jules Eltern und Philippe in die Gaststube. Sie wollten schließlich alle den Besuch willkommen heißen. Plötzlich war es so weit, mit einem grünen Leuchten kündigte sich die Ankunft der LeBlancs an und da waren sie auch schon. In einer kleinen Wolke aus Ruß standen urplötzlich drei Gestalten vor dem Kamin. Mit freudigem Geschrei stürmte Jules auf die kleinste der Gestalten zu und beide lagen sich in den Armen. „Hallo Pierre.“ „Hallo Jules“, begrüßten sie sich. „Darf ich vorstellen, mein Papa, Monsieur Jacques LeBlanc und meine Mama, Madame Juliette LeBlanc“, redete Pierre gleich weiter. Nachdem auch Jules seine Eltern und seinen kleinen Bruder vorgestellt hatte, gaben sich alle die Hand. Während die drei Jungen in Richtung Meer liefen, setzten sich die Erwachsenen in der Gaststube an einen Tisch, um sich zu unterhalten. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, fragte Madame Renoir. „Aber gerne, eine kleine Erfrischung wäre bei den Temperaturen hier sicherlich nicht verkehrt“, erwiderte Monsieur Petit. „Es wäre auch schön, wenn Sie sich dann zu uns setzen würden. ich kann mir vorstellen, dass Sie sich gerne mit uns unterhalten würden. Wann kommen denn schon mal ein richtiger Zauberer und eine richtige Hexe zu Besuch“, fuhr Monsieur Petit mit einem freundlichen Blick auf Monsieur und Madam LeBlanc gerichtet fort. Die beiden Frauen begannen sofort – wie das bei Müttern scheinbar üblich ist – mit der Unterhaltung über die Schule ihrer Kinder, die Lehrer, die Fächer und auch deren Leistungen und gingen dabei aus der Gaststube hinaus in Richtung Strand. Ganz offensichtlich hatte sich sofort eine unsichtbare Verbindung zwischen den beiden ergeben, denn sie verstanden sich auf Anhieb ausgezeichnet. Die Väter hingegen sprachen über die Familie, die Arbeit, Autos (Monsieur LeBlanc war kein ahnungsloser Zauberer, was die Muggel-Errungenschaften anging) und das Leben im allgemeinen. Als sich Madame Renoir mit den Erfrischungen dazu setzte, kam es unweigerlich auch dazu, dass man sich über die Belange von Magiern unterhielt. Sowohl Madame Renoir, als auch Monsieur Petit waren brennend daran interessiert, welcher Tätigkeit Monsieur LeBlanc nachging. Was konnte ein Zauberer in einer Muggelwelt tun? Die Antwort war ganz einfach. Monsieur LeBlanc arbeitete im Zaubereiministerium, genauer gesagt in der Abteilung gegen den Missbrauch von Muggelartefakten. Das hörte sich für Jules Vater total spannend an und er konnte gar nicht genug fragen und erfahren. „Was heißt denn das eigentlich genau, Missbrauch von Muggelartefakten?“, fragte er neugierig. „Ach, das ist wenn Zauberer oder Hexen ganz alltägliche Dinge der Muggel verzaubern und dann eigenartige bis schlimme Dinge damit passieren“, erwiderte er. „Das könnte zum Beispiel ein ganz normales Fahrrad sein, das plötzlich, wenn Sie in die Pedalen treten, zurücktritt. Oder eine Kaffeetasse, die Sie in die Lippen beißt, wenn Sie aus ihr trinken wollen." Monsieur Petit lachte schallend los. „Nun stellen Sie sich doch mal vor, wenn sie total zerknabberte Lippen hätten, das wäre bestimmt nicht so lustig“, wandte Monsieur LeBlanc ein. „Stimmt schon. Aber erst mal hört es sich lustig an“, sagte Jules Vater. „Wir haben schon eine ganze Reihe von Zauberern disziplinieren müssen, die vor lauter Übermut richtig gefährliche Sachen angestellt haben. Und damit meine ich nicht nur dumme Jungenstreiche. Das ging sogar so weit, dass einige für ihre Taten, bei denen Sie Leben gefährdet hatten, ins Gefängnis gekommen sind“, ergänzte Monsieur LeBlanc. „Meistens geht es aber harmlos ab und durch einfache Zauber werden die entstandenen Schäden behoben und die Muggel ihrer Erinnerung daran beraubt“ führte er weiter aus. So ging das Gespräch noch eine ganze Weile und auch Monsieur Petit erzählte von seiner Arbeit in einer Autofabrik bei Paris. Das wiederum schien Monsieur LeBlanc sehr zu interessieren und es war an ihm, Frage um Frage zu stellen. Zuletzt berichtete Madame Lenoir aus ihrer bewegten Kindheit und endete damit, dass sie nunmehr recht einsam und allein lebte und nur noch wenig Kontakt zu Muggeln oder anderen Zauberern pflegte. Als das Gespräch schon fast beendet war, fragte sie Monsieur LeBlanc, ob er etwas davon gehört hatte, dass ein Sibirischer Eisenbeisser entflohen sei und möglicherweise in ihrer Gegend gesehen wurde. Monsieur Petit musste sie natürlich sagen worum es sich bei einem Sibirischen Eisenbeisser handelt und der wurde ganz blass um die Nase, als er erfuhr, dass es ein ziemlich gefährlicher Drache ist. „Ich werde mich mal beim Ministerium erkundigen“ versprach Monsieur LeBlanc. „Darf ich mal ihren Kamin benutzen?“ „Aber natürlich doch“, antwortete Madame Renoir. Derweil schienen auch die beiden Mütter von Jules und Pierre, die sich inzwischen an den Strand begeben hatten, einen interessanten Gesprächsstoff gefunden zu haben – neben dem Thema Kinder – man sah sie jedenfalls angeregt miteinander plauschen. Madame LeBlanc arbeitete als Heilerin in einem Hospital namens St. Kobra, vergleichbar mit dem St. Mungos in England und konnte spannende Geschichten über Verletzungen und Krankheiten bei Zauberern erzählen. Madame Petit war Hausfrau und entsprechend wissbegierig was Neuigkeiten aus aller Welt betraf. Sie war eigentlich gelernte Erzieherin, hatte aber ihren Beruf aufgeben müssen, als sie sich um die beiden Kinder, Jules und Philippe kümmerte. Was inzwischen in der Gaststube passierte bekamen die Frauen nicht mit, was wahrscheinlich auch besser war. Sie hätten sich nur unnötige Sorgen gemacht. Aber was war denn geschehen? Monsieur LeBlanc hatte sich eine ganze Weile halb im Kamin aufgehalten und mit einem Mitarbeiter des Zaubereiministeriums gesprochen. Als das Gespräch beendet war und er wieder zum Vorschein kam, waren seine Gesichtszüge besorgt. „Ich habe mal im Ministerium nachgefragt, was es mit dem verschwundenen Drachen auf sich hat“, erklärte er. „Man ist sich nicht ganz sicher, aber es könnte tatsächlich sein, dass er sich hier in der Gegend versteckt hält. Ich habe berichtet, was uns Madame Renoir über die in der Nähe befindlichen Höhlen gesagt hat und daraufhin meinte der Verantwortliche im Ministerium, dass man heute noch zwei Mitarbeiter schicken will, die mal nachsehen sollen. Sie werden vermutlich innerhalb der nächsten ein oder zwei Stunden ankommen. Vermutlich werden sie ihre Besen benutzen“, fuhr Monsieur LeBlanc fort. Für Jules Vater war die Benutzung eines Besens nichts Ungewöhnliches mehr, hatte sein Sohn doch selbst so ein Teil zu Hause zu stehen. „Da bin ich aber mal gespannt, ob man den Kerl hier in der Gegend auftreibt oder ob es sich nur um ein Gerücht gehandelt hat“, sagte Monsieur Petit. „Wir wollen den Frauen lieber nichts erzählen, sie würden sich sonst nur beunruhigen. Wenn dann nichts an der Sache dran ist, haben wir nur unnötig Aufruhr verursacht." Monsieur LeBlanc nickte zustimmend: „Ja, ich glaube, das ist wirklich das Beste. Vor allem werden wir den Kindern nichts sagen. Wer weiß, auf welche Gedanken die sonst wohl kommen." „Ähem“, räusperte sich Madame Renoir verlegen. „Sie wissen es schon. Zumindest Jules. Er war gestern dabei, als ich mit meiner Freundin Justine gesprochen habe. Die hatte mir von dem entflohenen Drachen erzählt und ich habe ihm das, als mich Jules im Kamin überraschte, berichtet. Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass ich es nicht hätte tun sollen“, gab sie sich zerknirscht. „Tja, dann müssen wir wohl in den sauren Apfel beißen und den Frauen und Kindern reinen Wein einschenken. Bevor irgend welche Gerüchte entstehen müssen wir ihnen die Wahrheit sagen. Vielleicht ist er ja auch gar nicht hier in der Gegend“ sagte Monsieur Petit. Die beiden Väter verließen daraufhin die Gaststube und gingen an den Strand zum Rest der Familie. „Familienkonferenz“, rief Monsieur Petit, um die drei herumtobenden Jungs heranzurufen. Außer Atem kamen sie angelaufen und fragten, was es den gäbe. „Setzt euch erst einmal hin“, antwortet Monsieur LeBlanc. „Es gibt etwas sehr Wichtiges, was wir mit euch allen besprechen müssen. Vor einigen Tagen ist ein Drache aus einem Zuchtbetrieb in der Bretagne geflohen und man vermutet, dass er sich eventuell hier in der Gegend aufhalten könnte." „Oooooh. Toll!“, kam die Reaktion der drei Kinder. „So toll ist das nun auch wieder nicht“, beeilte sich Monsieur LeBlanc zu sagen. „Es handelt es sich um einen Sibirischen Eisenbeisser, der zwar noch nicht ganz ausgewachsen aber dennoch ganz schön gefährlich ist. Momentan soll er erst rund die Hälfte seiner richtigen Körpergröße messen, das sind aber immerhin auch schon so ca. vier Meter. Und mit solchen Kerlen ist nicht zu spaßen. Das Schlimme ist vor allem auch, dass sie gegen so ziemlich jeden Zauberspruch immun sind. Die prallen einfach von ihnen ab. Es gehören schon richtig ausgebildete Drachenjäger dazu, einen solchen Kerl wieder einzufangen und sicher zu verwahren. Mir ist es ein Rätsel, wie man so leichtsinnig eine solche Kreatur entkommen lassen konnte“, schloss er seine Ausführungen. „Heute kommen wohl noch zwei Mitarbeiter des Zaubereiministeriums um sich sachkundig zu machen, ob sich der Drache hier versteckt“, beeilte sich Monsieur Petit zu ergänzen, als er die Sorgenfalten seiner Frau sah. „Na, ich weiß nicht. Ob wir vielleicht lieber unseren Urlaub hier abbrechen sollten?“, erwiderte sie zögernd. „Mama, nein! Wir wollen bleiben! Das ist unser erster Urlaub seit langer, langer Zeit“, kam es gleichzeitig aus den Mündern von Jules und Philippe. Madame Petit hatte zwar erhebliche Bedenken hatte – wer wusste denn schon genau, was so ein Drache anstellen konnte – als sie aber die enttäuschten Gesichter ihrer Kinder sah, blickte sie ihren Mann an und konnte auch in seinen Augen eine gewisse Enttäuschung erkennen. „OK. Aber wir fahren ab, sobald auch nur das geringste Anzeichen für Gefahr besteht“, schloss sie resolut. „Danke Mama. Du bist die Beste!“, riefen Jules und Philippe und fielen ihrer Mutter um den Hals. „Es werden auch gleich zwei Mitarbeiter aus dem Zaubereiministerium erscheinen, die sich hier mal umschauen werden. Vielleicht können sie ja auch Entwarnung geben“, führte Monsieur LeBlanc das Thema zu ende. Wieder am Wasser, steckten die drei Kinder die Köpfe zusammen. „Das wär’ doch mal was“ sprach Jules. „Ich habe noch nie einen Drachen aus der Nähe gesehen. Weißt du noch, Pierre, als wir im letzten Schuljahr das Thema im Unterricht behandelt haben? Unser Professor hat gesagt, dass Drachen gar nicht so gefährlich sind, man müsse nur genau wissen, wie man sich ihnen nähern und sich verhalten muss.“ „Du weißt doch aber auch ganz genau, dass der Professor mit diesen Ansichten bei seinen Lehrerkollegen nicht unbedingt auf offene Ohren stößt. Er ist in dieser Hinsicht ja auch wirklich etwas eigenartig“, meinte Pierre. „Genau wie du!“, Mit diesen Worten sah er Jules mit einem eigenartigen Ausdruck an. „Unsinn. Drachen sind auch nur Geschöpfe und jedes Geschöpf ist von Natur aus nicht unbedingt feindlich gesinnt. Ich interessiere mich nun einmal für magische Geschöpfe und finde die Ansichten unseres Professors durchaus interessant und nachvollziehbar. Ich würde jedenfalls gerne mal einen Drachen in natura sehen“, sagte Jules. „Ich auch, ich auch“, fiel Philippe in die Worte seines Bruders ein. „Du hältst dich zurück! Erstens bist du noch viel zu jung und zweitens kein Zauberer“, widersprach ihm Jules. „Klar du großer ausgewachsener Zauberer“, maulte der daraufhin sarkastisch. „Ich gehe sofort zu Mama, wenn du was ohne mich unternimmst.“ „Untersteh’ dich. Dann kriegst du Ärger! Denk’ an das übergewichtige Warzenschwein mit grünen Borsten“, fauchte Jules. Pierre sah ihn fragend an. „Das ist ein Insider zwischen meinem Bruder und mir. Da musst du dir keine Gedanken machen“, richtete Jules die Worte an Pierre. „Ich erkläre dir das später mal.“ Etwa eine Stunde später kamen zwei Gestalten durch die Luft geflogen. Sie näherten sich vom Meer aus und mussten nicht befürchten gesehen zu werden, da der Strand an dieser Stelle menschenleer war. Die beiden kamen auf ihren Besen und landeten in der Nähe der „Alten Seehexe“. Die Kinder konnten sehen, wie sie in das Gasthaus gingen, um sich mit Madame Renoir zu unterhalten. Sie sahen sich an und wie in stummem Einverständnis pirschten sie sich an das Gasthaus, ohne von drinnen und von ihren Eltern beobachtet zu werden. Da die Fenster der Gaststube leicht geöffnet waren, schlichen sie sich dort hin und legten sich darunter auf die Lauer. Sie konnten hören, wie sich die beiden Mitarbeiter des Zaubereiministeriums mit Madame Renoir besprachen, wobei auch Monsieur LeBlanc und Monsieur Petit anwesend waren. „Wir sind beide keine ausgebildeten Drachenjäger. Die sind leider alle in Osteuropa, wo eine große Ansammlung von unterschiedlichsten Drachen gesehen wurden. Man will beobachten, was es damit auf sich hat und ob die Population der Drachen wieder ansteigt“, hörten die Kinder einen der Männer sagen. „Aber eigentlich sollen wir auch nur aufklären, ob tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass der Sibirische Eisenbeisser in der Gegend ist“, ergänzte der zweite. „Jetzt sagen Sie uns doch bitte mal, wo diese besagten Höhlen sind, wo sich früher Drachen versteckt haben“, richtete der erste wieder die Worte an Madame Renoir. Die Angesprochene schilderte den beiden Zauberern, wie sie zu den Höhlen gelangen konnten und ergänzte noch, dass es sich hierbei um ein Labyrinth verschiedenster Gänge und Höhlen handeln würde, die miteinander verbunden waren. Sollte sich der Drache tatsächlich darin aufhalten, wäre es schwierig ihn zu lokalisieren und heraus zu bekommen. Es war schon später Nachmittag, als die beiden Zauberer mit ihren Besen in Richtung Höhle davonflogen. Monsieur Petit wandte sich an Monsieur LeBlanc und fragte ihn ob er mit seiner Familie nich noch einen Tag bleiben wolle. Madame Renoir, die froh war, über ihre Gäste, fiel sofort ein und meinte, dass sie noch ein Doppelzimmer hätte, und Pierre würde bestimmt bei den anderen beiden Jungen übernachten können. Nach einigen Überlegungen war Monsieur LeBlanc einverstanden, zumal er am nächsten Tag auch frei nehmen konnte. „Ich muss aber erst noch meine Frau fragen. Und ob Pierre damit einverstanden ist?“ Jules konnte gerade noch verhindern, dass Pierre, der neben ihm auf dem Boden lag, laut losbrüllte vor Freude. Natürlich wollte er bei seinem Freund und dessen Bruder bleiben. Das Wetter war super, das Meer herrlich und am Strand konnte man wundervoll toben. Madame LeBlanc stimmte zu und besichtigte gleich ihr Zimmer. Sie war zufrieden und holte noch schnell über das Flohnetzwerk einige unverzichtbare Dinge, die man eben so braucht. Bald wurde es Abend, man aß gemeinsam das Abendessen und dann setzten sich die Erwachsenen zusammen, um weiter zu reden. Die Kinder sollten schon in ihr Zimmer gehen und noch eine weitere Stunde schlafen. An Schlaf war natürlich überhaupt nicht zu denken. Jules und Pierre achteten darauf, ob die beiden Angehörigen des Zaubereiministeriums wieder zurückkamen, aber sie taten es nicht. 6. Die Höhle „Wollen wir nicht mal zu den Höhlen gehen, die sind nach der Beschreibung von Madame Renoir gar nicht so weit weg. Wir könnten in ein bis zwei Stunden auch wieder zurück sein“, fragte Jules. Philippe war inzwischen doch eingeschlafen, obwohl er es gar nicht wollte. „Bist du verrückt?“, entgegnete ihm Pierre. „Das ist doch viel zu gefährlich." „Ach was. Sei kein Frosch. Lass uns einfach nur mal nachsehen." Pierre ließ sich überzeugen. Leise schlichen die beiden Jungen aus dem Gasthaus in Richtung der Höhlen. Die Beschreibung von Madame Renoir war sehr gut und nach etwa 15 Minuten erreichten sie den Eingang. Vorsorglich hatten beide ihre Zauberstäbe mitgenommen, man wusste ja nie. Jules hatte seinen zwar zu Hause lassen sollen, aber was ein richtiger Zauberer ist, der geht nie ohne Zauberstab aus, auch wenn er eigentlich gar nicht zaubern durfte. Schließlich könnte man in eine lebensbedrohliche Situation geraten und da wäre auch für Minderjährige das Zaubern gestattet. Also hatte er ihn heimlich einfach eingepackt. Gleich hinter dem Höhleneingang standen die beiden Besen der Zauberer, zwar etwas getarnt aber für ein geschultes Auge dennoch erkennbar. „Wollen wir nicht doch lieber draußen bleiben?“, fragte Pierre leicht ängstlich. „Nun komm schon. Was soll uns denn passieren? vielleicht ist hier ja gar nichts los“, antwortete Jules. „Hast du das auch gehört?“, kam die prompte Antwort. „Da war ein fernes Grollen.“ „Ich habe nichts gehört“, antwortete Jules wahrheitsgemäß. „Los jetzt. Hinein!“ Pierre ließ sich doch überreden und beide betraten das Höhlenlabyrinth. „Lumos“, riefen beide und an den Spitzen ihrer Zauberstäbe erschienen ein Licht, das die Umgebung so weit erhellte, dass man einigermaßen sehen konnte. Nach einigen Metern gabelte sich der Gang und sie entschieden sich, nach links zu gehen. Plötzlich konnte auch Jules ein leichtes Grollen hören. Nicht mehr ganz so mutig ging er weiter, schließlich wollte er vor Pierre nicht als Feigling da stehen. Einige hundert Meter weiter fanden sie den ersten der beiden Zauberer des Ministeriums bewusstlos auf der Erde liegen. Sie versuchten ihn aufzuwecken, es gelang ihnen aber nicht. Offensichtlich hatte ihn ein Schockzauber getroffen. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie das geschehen konnte. Ein ausgewachsener Ministeriumszauber ließ sich doch nicht so leicht überraschen dachten sie. Nun war auch ziemlich deutlich eine menschliche Stimme und ein unwirkliches Fauchen zu hören. Gleich nach der nächsten Biegung sahen sie es. Dicht an die Wand gedrängt stand der zweite Zauberer und vor ihm ein wütend aussehender, vier Meter großer Sibirischer Eisenbeißer. „Lass mich in Ruhe“, schrie der Zauberer den Drachen an, der ihn natürlich nicht verstehen konnte. Die Jungen sahen, dass vor dem Zauberer dessen zerbrochener Zauberstab lag. Mit dem würde er nie wieder zaubern können. Als der Mann die Jungen bemerkte rief er ihnen zu „Geht fort, holt Hilfe. Das ist hier für euch viel zu gefährlich. Mein Partner hat vorhin versucht den Drachen mit einem Schockzauber zu betäuben. Der Zauber ist aber von dessen Haut abgeprallt und hat meinen Freund getroffen. Er muss irgendwo da hinten in der Höhle liegen. Vielleicht ist er schon wieder bei Bewusstsein. Dann nehmt ihn mit. Er weiß, was zu tun ist.“ Pierre wollte sich umdrehen und fortlaufen, Jules blieb aber wie versteinert stehen. Was für ein Prachtexemplar. Was für ein herrliches Geschöpf dachte er bei sich. Warum werden solch wunderschöne Wesen verfolgt? „Geht endlich!“, Diese Worte rissen ihn aus seiner Erstarrung. Da drehte sich der Drache zu Jules um und es schien, als wollte er ihn angreifen. Doch auf einmal, niemand wusste weshalb, blieb er stehen. Seine großen Augen starrten unverwandt in Jules Gesicht, in dessen Augen. Jules zeigte keinerlei Anzeichen von Furcht. Ganz im Gegenteil. Langsam, ging er auf den Drachen zu und redete behutsam auf ihn ein. Es waren nicht unbedingt richtige Worte, sondern mehr Geräusche oder Laute. Der Drachen legte seinen Kopf leicht zur Seite, als wolle er sich kein Geräusch entgehen lassen, das Jules von sich gab. Verblüfft blieb Pierre stehen und auch der erwachsene Zauberer starrte fasziniert von Jules zum Drachen und zurück. Die ganze Situation hatte etwas Magisches an sich. Niemand sprach ein Wort, nur die Geräusche von Jules und ein leichtes Schnauben des Drachen war noch zu hören. Und dann, Pierre glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, ging Jules doch tatsächlich auf den Drachen zu, streckte seine Hand aus ... und wirklich, der Drachen neigte seinen Kopf nach unten und beschnüffelte sacht die ausgestreckte Hand. Dass Jules mit magischen Wesen umgehen konnte, war Pierre ja aus den ersten beiden Jahren in Beauxbatons bekannt. Aber das hier, das schlug ja nun wirklich alles. „Geht beide zum Ausgang und holt die Drachenbändiger“, flüsterte Jules dem Zauberer und Pierre zu. „Ich werde mich so lange um den Kleinen hier kümmern.“ Nun übertrieb er aber wirklich, dachte Pierre bei sich. Das schlug dem Fass ja nun tatsächlich den Boden aus. Dennoch lief er, hinter sich den Zauberer hörend, in Richtung Ausgang. Er traute sich nicht einmal nach hinten zu blicken, Jules würde schon wissen, was er da tat. Die beiden flogen mit dem Besen des Zauberers schnellstens zur „alten Seehexe“ zurück und informierten Monsieur LeBlanc, der sich umgehend mit dem Zaubereiministerium in Verbindung setzte. Eigentlich wollte Jules Vater sofort zur Höhle laufen, konnte aber mit Müh’ und Not davon abgehalten werden. „Das ist jetzt Sache des Ministeriums“, sprach Monsieur LeBlanc zu ihm. „Die werden sicherlich gleich kommen.“ Es dauerte auch wirklich nicht lange, da erschienen sechs finster aussehende Gestalten in der „Alten Seehexe“, die alle über und über mit Narben versehen waren. Ganz offensichtlich Zeichen ihres gefährlichen Berufes. „Wo ist der Kerl?“, fragte einer mit tiefer Stimme. „Ich zeige Ihnen den Weg“, bot sich Pierre an. „Gut, aber du bleibst dann draußen“, entschied ein zweiter Sprecher. Die kleine Gruppe machte sich auf, zur Höhle zu gelangen. Dort wollten sie mit vereinten Kräften den Drachen überwältigen und wieder zurück in die Aufzuchtstation bringen. „Hoffentlich ist deinem Freund nichts passiert“, sagte unterwegs einer zu Pierre. „Ich glaube nicht. Sie sollten mal sehen, wie er mit dem Drachen umgegangen ist.“ „Das muss ja ein ganz schöner Teufelskerl sein, der sich ganz allein mit einem solchen Wesen einlässt“, kam es aus der Gruppe. „Oh ja, er kann super mich magischen Geschöpfen umgehen. Er hat ein Gespür für sie“, antwortete Pierre. Bei der Höhle angekommen, glaubten sie ihren Augen nicht trauen zu können. Jules stand mit einem total friedlich wirkenden Drachen vor dem Eingang und hatte sogar seine Hand an die Seite des Drachen gelegt. Sein Zauberstab steckte in seiner Hosentasche, er hatte ihn nicht einmal in der Hand! Die Drachenbändiger wollten sofort ihre Stäbe zücken und auf den Drachen los gehen, wurden aber durch die Worte Jules‘ zurückgehalten. „Halt! Er ist total friedlich. Tut ihm nichts. Er ist einfach nur verängstigt. Er ist ein ganz lieber Kerl“, rief Jules. „Wenn ich mitkommen darf, wird er sicherlich auch mit uns zusammen in die Aufzuchtstation mitkommen“, meinte er. Etwas skeptisch zwar, aber immerhin doch überzeugt von dem Verhalten des Drachen stimmten die Zauberer zu. Sie wussten nicht, wie er es angestellt hatte, aber der Drache hörte auf das Wort von Jules und erhob sich zusammen mit den Zauberern in die Luft. Gemeinsam flog man in die Bretagne zur Station, wo der Drache sich friedlich in sein Gehege sperren ließ. „Du bist ein Teufelskerl“, entfuhr es dem Leiter der Station. „So etwas wie dich könnten wir hier gut gebrauchen. Weißt du denn schon, was du später einmal werden willst?“ „Nein, eigentlich nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, etwas im Hinblick auf magische Geschöpfe zu tun“, erwiderte Jules. „Das ist eine super Idee. Für dich ist hier immer ein Platz frei“, versprach der Leiter der Station, ein älterer, leicht ergrauter Zauberer, der auch so einige Narben auf den Händen und im Gesicht aufwies. „Jetzt macht aber schnell, dass ihr wieder zurück nach Hause kommt“, drängte er einen Drachenbändiger. „Der Junge gehört schon längst ins Bett.“ Gesagt, getan, Jules wurde zurück zu seiner Familie gebracht, die schon sehnsüchtig auf ihn wartete. An Schlafen war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Immer und immer wieder musste er erzählen, wie die Geschichte abgelaufen war, bis Madame Petit plötzlich sagte, dass es nun wirklich an der Zeit war ins Bett zu gehen, um wenigsten noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Der nächste Tag brach an und wer war als Erster wach? Philippe. Erstaunt stellte er fest, dass sein Bruder und dessen Freund noch schliefen, also machte er sich daran, sie aufzuwecken. „Lass mich schlafen“, grunzte Jules. Doch Philippe ließ nicht locker. Schließlich war doch heute sein elfter Geburtstag! Hatten das etwa alle vergessen? Als sich die anderen beiden Jungen so nach und nach aufrappelten, lief Philippe zum Schlafzimmer seiner Eltern. Auch von dort war noch nichts zu hören. Was war denn bloß hier los? Das konnte doch nicht wahr sein. Niemand hatte an seinen Geburtstag gedacht. So eine Pleite! Irgendwie gelang es ihm dann doch noch, seine Eltern zu wecken und als sie schließlich alle gemeinsam – auch das Ehepaar LeBlanc war mittlerweile hinzu gekommen – beim Frühstück saßen, holten seine Eltern ein paar Geschenke hervor, die sie schon am Tag zuvor bei Madame Renoir deponiert hatten. Als Philippe aber hörte, was wirklich in der vergangenen Nacht geschehen war, konnten ihn kaum die Geschenke darüber hinwegtrösten, dass er das nicht miterlebt hatte. „Ich wäre auch in die Höhle gegangen und hätte mich dem Untier gestellt“, verkündete er ein wenig beleidigt. „Das hätte ja wohl noch gefehlt“, wies ihn seine Mutter zurecht. „Es war schon gut so, dass nicht auch du auf diesen dummen Gedanken gekommen und auch in die Höhle hineingegangen bist.“ Plötzlich hörten alle ein schwaches Klopfen. Jeder blickte umher, um herauszubekommen, was das Geräusch verursachte. Philippe entdeckte es als erster. „Da, am Fenster, eine Schneeeule“ rief er. „Die hat auch was am Bein. Ein Pergament.“ Eilig stand er auf, um die Eule hereinzulassen. Sie flog los und setzte sich auf den Frühstückstisch, direkt vor den Platz Philippes. Als er hinterher gekommen war, streckte sie ihm das Bein entgegen, so dass er das Pergament abmachen konnte. Ohne länger zu warten erhob sich die Schneeeule wieder und flog durch das offen stehende Fenster davon. Aufgeregt entrollte Philippe das Pergament und stieß sofort darauf einen Freudenschrei aus. Es war das Schreiben von Beauxbatons mit dem Bemerken, dass er nach den Ferien an der Schule aufgenommen war und noch bestimmte Gegenstände besorgen sollte. Genau so wie es seinem Bruder zwei Jahre zuvor gegangen war. Seine Freude war unbeschreiblich. Er tanzte durch den Saal und umarmte jeden, der ihm begegnete. Sogar Madame Renoir, die er dabei fast umwarf. War das ein Urlaub! Erst das Abenteuer mit dem Drachen und nun auch noch die Aufnahme auf die Beauxbatons-Schule für angehende Zauberer und Hexen. Schöner konnte man sich einen Geburtstag eigentlich gar nicht vorstellen. Als dann auch noch die Familie LeBlanc beschloss, den Rest der Woche in der „Alten Seehexe“ zu bleiben, war das Glück vollkommen. Was wären das noch für schöne Tage! Sowohl Madame LeBlanc, als auch Madame Petit verlangten von ihren Söhnen aber das Versprechen ab, keine gefährlichen Abenteuer mehr zu unternehmen. Das, was bisher geschah, würde eigentlich für zwei Urlaube reichen. Hoch und heilig versprachen die großen Jungs das und waren schon dabei, nach oben in ihre Zimmer zu rennen, um sich für den Strand fertig zu machen. War das herrlich! Konnte es eigentlich etwas Schöneres geben? Bestimmt nicht! E N D E