Kapitel 4 -
Der restliche Tag war weniger bemerkenswert gewesen. Rob (so nannte ich ihn in Gedanken, das klang einfach cooler) hatte mich noch bis zum Dorf gebracht, aber ungewöhnlich still. Ich hatte den sprechenden Teil des Gesprächs übernommen und ihm von Maike und ihren ungewöhnlichen Ticks erzählt. Irgendwann hatte er sich verabschiedet und umgedreht. Bei Rokkos Frauchen staubte ich ein dickes Schokoladeneis ab, dann rief ich Maike an und erzählte ihr alles. Wir beide wussten, dass mir das abgewürgte Telefonat schon wieder leid tat und ich gab mein bestes ihr, alles ehrlich und vollständig zu erzählen. Ich erzählte ihr von allen Begegnungen mit Robin, von Rokko, dem Schwimmunglück und dem Dorf, nur die Tratschtanten vom Spielplatz ließ ich aus. Danach verbrachte ich den Abend mit meiner Tante, wir erzählten und spielten Karten. Als ich im Bett lag schrieb ich meiner Mutter eine SMS. Ich schrieb, dass es mir gut gefiel und fragte nach ihren Erlebnissen. Ihre Antwort war kurz und knapp - schön. Viel Arbeit. Das war‘s. Keine freundlichen Grüße, kein Anruf, nichts. Sie waren beide in ihre Welt abgetaucht und eben war ihnen erst eingefallen, dass sie eine Tochter hatten. Nach den Ferien würde es den beiden schrecklich leidtun und sie würden mit mir ins Kino gehen und viele andere Sachen machen als Entschuldigung, so wie jedes Jahr, wenn sie in den Ferien arbeiteten. Trotzdem kullerte eine kleine, nasse Träne mein Gesicht herunter, mit der ich auch einschlief. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich erst mal nichts. Doch ich hörte lautes Bollern und ein nahes Donnern. Ich schaltete meine Nachttischlampe an und erkannte das bekannte Geräusch von Gewitter. Neugierig schob ich die Vorhänge auseinander. Draußen war er noch dunkel, doch dicke Regentropfen schlugen laut auf dem überfluteten Boden auf. Wirklich, der heißgeliebte und genauso gepflegte Vorgarten meiner Tante hatte sich in eine Schlammgrube verwandelt und es war ein Lärm wie auf einem Bahnhof. Verschlafen tappste ich durch den Flur in das Wohnzimmer, wo meine Tante auch schon saß und gebannt auf den Fernseher guckte. Sie erhob den Kopf als sie mich sah. „Guten Morgen. Ein schrecklicher Sturm draußen. Die Wetterpiloten da“, sie nickte Richtung Bildschirm, „waren völlig überrascht. Vor einer Stunde ist plötzlich ein Sturm und ein Gewitter ausgebrochen, ohne dass sie etwas bemerkt hatten.“ Sie schmunzelte. „Und jetzt machen die Leute sich gegenseitig fertig, ziemlich unprofessionell, aber lustig anzusehen.“ Und das war´s auch. Das eigentliche Problem war eher, dass irgendwelche Maschinen durch den Sturm ausgefallen waren, und man hatte das Gefühl, dass vergessen wurde, dass sie noch auf Sendung waren. Vielleicht war es ja auch so. Nachdem wir noch eine Weile zugeschaut hatten, legte ich mich ins Bett, doch konnte bei dem Getöse nicht mehr einschlafen. Den Rest des Tages blieb das Wetter so, auch am zweiten und sogar am dritten Tag. Sämtliche Schulsachen, die ich mitgenommen hatte, waren mehrfach durchgelesen und so war ich froh, als am vierten Morgen die Sonne in mein Zimmer schien. Es war ein ganz schönes Chaos angerichtet worden: Der Rasen war ein noch tieferer Sumpf geworden, auf der Straße stand etwas Wasser und überall waren große Pfützen. In der Küche fand ich nur einen Zettel, meine Tante war einkaufen. Plötzlich fühlte ich mich allein. Ich brauchte wen in meinem Alter. Kurzerhand schnappte ich meine Jacke und verließ das Haus. Ich lief durch das ganze Dorf, bis ich in der Dorfmitte ein paar Jugendlich in meinem Alter fand. Es waren zwei Jungen und vier Mädchen. Interessante Zusammenstellung, dachte ich, und ging auf sie zu. Ich grüßte sie schüchtern und die Truppe beäugte mich misstrauisch. „Bist du neu hier?“, fragte mich der eine, sehr kräftige und eher einschüchtern wirkende Junge. „Das ist doch Daggis kleine Nichte!“, stellte ein großes, stark geschminktes Mädchen mit schlecht gefärbten Haaren fest. Ich nickte nur. Die beiden waren mir schon einmal ziemlich unsympathisch. Ich bemerkte, dass die beiden, sowie das andere Mädchen und der zweite Junge, ein oder zwei Jahre älter waren als ich. Die beiden anderen Mädchen waren etwas jünger und die eine lächelte mir aufmunternd zu. Sie war klein, zierlich und hatte wilde Locken, die andere war schlaksig, trug eine Brille und hatte blonde Haare, sie wirkte etwas unbeholfen. Dann begann das übliche Geplauder. Wie heißt du, woher kommst du, auf welche Schule gehst du, wie waren deine Ferien bis jetzt und so weiter. Sie stellten sich alle vor, doch ich behielt nur die Namen der beiden jüngeren. Judith und Leila. Nach einer Weile verabschiedete der eine Junge die beiden Jüngeren grob. „So, das war‘s jetzt mir Kinderstunde, beschäftigt euch gefälligst allein. Aber wenn Mom fragte, hab ich super auf euch aufgepasst, verstanden?!“ Die beiden Mädchen verzogen sich gehorsam. Okay, endgültig unsympathisch. Ein inneres Gefühl sagte mir, dass auch ich mich besser aus dem Staub machen sollte, doch ich hörte nicht hin. Die übrige Truppe stand auf und stolzierte die Straße entlang, ich hintendrein. Schließlich endeten wir an dem Spielplatz, an dem ich an meinem ersten Tag gehockt hatte und die Vier erklommen das Klettergerüst. Sie ließen sich auf der obersten Etage nieder, plötzlich hatte der eine Typ eine Bierflasche in der Hand. Lässig redeten sie über dies und das, nebenbei zog Mrs-Ich-bin-beim-Haarefärben-eingeschlafen einen Stift aus der Tasche und begann auf das Klettergerüst ein hässliches Strichmännchen zu malen. Höchste Zeit dieser Gesellschaft zu entfliehen! Doch irgendwie fand ich keine Chance zu verschwinden. Jetzt war ich dabei, was sollte ich schon sagen? Mir wurde es immer mulmiger, jedoch konnte ich mich einfach nicht loseisen. Plötzlich zog der kräftige Typ ein Päckchen aus seiner Tasche. Ich hatte nie geraucht, hatte es auch nicht vor, hatte aber auch sonst keine Probleme mit Rauchern. Manche aus meiner Klasse rauchten schon, es waren auch ein paar entfernte Freundinnen dabei. Ich beäugte das Päckchen misstrauisch. Er fing an die Zigaretten zu verteilen und als er mir eine reichte erkannte ich was es war. „Nein danke, ich kiffe nicht.“ Sagte ich schnell, dann stand ich auf, murmelte ein „Muss schon gehen, viel Spaß noch“ und beeilte mich davon zukommen. Warum bin ich nicht schon früher gegangen? Das waren genau die Typen von Menschen, die alle Welt „einen schlechten Umgang“ nennen. Trotzdem wollte ich immer noch Gesellschaft und mit einem Gedankenblitz wusste ich, wen ich besuchen könnte. Ich gebe ja schon zu, dass ich die ganze Zeit schon daran gedacht hatte, nun aber machte ich mich auf den Weg. Ich hatte keine Ahnung wo er wohnte, nur dass er auf einem der Hügel wohnte, weiterweg und trotzdem zu diesem Feldweg und zu dem Wald zu Fuß hingelangten konnte. Ich schlug den kleinen Feldweg ein, auf dem ich ihn da erste Mal getroffen hatte. Ich joggte ein Stücken, dann lief ich wieder, immer abwechselnd. Immer geradeaus, über die asphaltierte Straße, später ein kleiner Schotterweg und irgendwann ein steiniger Pfad. An wunderschönen Blumen vorbei und an Gräsern die mir an den Beinen kitzelten. Das alles beachtete ich nicht. Ich hatte ein Ziel und das wollte ich auch finden, denken tat ich nicht viel. Doch dann dachte ich, dass er mich vielleicht gar nicht sehen wollte, er war gestern so schweigsam gewesen. Was war wenn er mich wieder wegschickte? Warum war er gestern plötzlich so unfreundlich gewesen? Ich hatte doch nur mit Meike telefoniert und dann - da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte gesagt er sei ein normaler Junge. Das war nicht gerade ein Kompliment. Zwischen uns lief nichts. Das schien er anders zu sehen. Er habe komische Hobbys. Ziemlich unfreundlich. Und er wäre nicht mit Conner vergleichbar. Wie das wohl auf einen wirkte der nicht wusste, dass Conner mein bester Freund war? Oh nein. Ich bleib um Atem ringend stehen. Oh nein. Ich versuchte mich zu erinnern wie er gestern ausgesehen hatte. Jetzt fragte ich mich auch, warum ich unbedingt ihn sehen wollte. Und warum mir jeder dümmliche Satz vor ihm peinlich war. Ich war blind gewesen. Ich hatte es die ganze Zeit verdrängt. Ich hatte die letzten Tage ständig sein Gesicht vor Augen gehabt. Erschrocken ließ ich mich auf einen Stein sinken. Ich mochte ihn. Sogar sehr.