Kapitel 3 -
Langsam ließ ich mich ins Wasser gleiten. Die Fahrt war, abgesehen von einem Mann in Lederhose und Jackett, der begeistert um den Bus gelaufen war und ihn interessiert betrachtet hatte, reibungslos verlaufen und alles hatte gut geklappt. Das Freibad war ein kleines, schon leicht heruntergekommenes mit einem Schwimmer- und einem „Spaß“-Becken, sowie einem kleinen Babybecken. Das Wasser war kalt und ich fing stramm an die Bahnen hoch und runter zu schwimmen. Dabei ließ ich meinen Gedanken freien Lauf und vor meinen Augen tauchte immer wieder, obwohl ich es krampfhaft versuchte zu unterdrücken, das Gesicht des Jungen auf. Nach acht Bahnen war ich total entkräftet und ließ mich auf dem Rücken treiben. Schwimmen war nun mal nicht meine Stärke. Der Himmel war so schön blau, die weißen Wolken zogen wie kleine Schafe dahin... „Sie atmet“, war das nächste was ich hörte. Darauf folgte ein wenig Geraschel und eine sanfte Stimme raunte in mein Ohr: „Aufwachen! Komm schon, wach auf!“ Häh? Was war passiert? Ich schlug die Augen auf und erblickte einen kleinen, pummeligen Bademeister, der, als er meinen Blick sah, tadelnd erklärte: „Du bist im Wasser eingeschlafen! Mach das nicht nochmal, hörst du? Du kannst dich glücklich schätzen, dass der junge Freund hier dich raus geangelt hat!“ Ich schaute mich um und sah in einigem Abstand ihn, der milde lächelte. Es war der Robson Junior mit den dunkelblauen Augen. Als er sah das ich ihn betrachtete, meinte er grinsend, aber mit einem noch leicht zittrigen Unterton in der Stimme: „Tut mir leid, falls du dich ertränken wolltest oder so. Aber dann hätte ich das ganze Leben lang ein schlechtes Gewissen, weil ich dich nicht rausgeholt hätte und das wäre sehr selbstlos.“ Ich starrte ihn verdattert an. ‚Der hat ja einen Humor‘, dachte ich grimmig, gleichzeitig schmunzelnd. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich auf der Erde lag, ein erster Hilfekoffer neben mir und mich die ganzen Badegäste beobachteten. Schnell stand ich auf, entschuldigte mich für dieses Missgeschick, worauf der Bademeister passenderweise antwortete: „Am besten du gehst gleich nach Hause“ (Als ob ich das nicht sowieso getan hätte!), zog mir in Windeseile meine Klamotten über, packte meine Tasche und verließ hastig das Schwimmbad. Erst als ich im Bus saß, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mich für die Rettung zu bedanken. Vielleicht würde ich es nachholen können. Ich beschloss meiner sowieso sorgenvollen Tante nichts von diesem Zwischenfall zu erzählen, doch daraus wurde leider nichts. Als ich ankam stand sie schon besorgt an der Tür und schloss mich in ihre Arme. „Es tut mir so leid! Annegret hat mich gerade angerufen, die hat es von ihren Kindern erfahren. Geht’s dir gut, meine Kleine? Ich habe dir einen warmen Tee gemacht. Wie rücksichtslos von mir, dich einfach alleine gehen zu lassen. Keine Sorge, ich habe es deiner Mutter noch nicht erzählt, sie soll sich keine Sorgen machen.“ Ich wimmelte sie ab: „Keine Sorge, mir geht es wirklich gut und bitte mach dir keine Vorwürfe. Es ist mir schon unangenehm genug!“ Nachdem ich ihr alles (was eigentlich sehr wenig war) erzählt hatte, wurde ich mit einem heißen Tee ins Bett geschickt. Na Klasse! Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es erst kurz nach Mittag war und ich hoffte nicht den ganzen Tag im Haus, oder sogar im Bett, festgehalten zu werden. Da dies aber eintrat, las ich und legte mich schon nach dem Abendbrot schlafen. In meinem Traum war ich auf einer großen Wiese, voller gelben Blumen. Ich pflückte mir einen großen Blumenstrauß und ein Mann in Lederhose und Jackett hüpfte über die Wiese und schrie durchgängig „Sie bringt sich um, sie bringt sich um!“. Gegen Ende des Traumes erschien der Junge, dessen Name ich immer noch nicht wusste, und ich gab ihm den Blumenstrauß. Am nächsten Morgen hatte ich den Traum schon wieder vergessen und zu meinem Glück war meine Tante auf einem Tagesausflug, nachdem ich ihr hundert Mal versichert hatte, dass es mir gut ginge. Nach einem langen Frühstück schaltete ich den Fernseher an, es lief gerade ein Film, in dem sich zwei Magier duellierten. Es war ganz lustig an zusehen, da der eine immer wie ein Frosch hoch hüpfte, wenn er einen Zauber abschoss, und der andere aussah wie Darth Vader und eine Stimme, die Winnie Puh alle Konkurrenz machte. Ich liebte zwar Bücher in denen Magie eine Rolle spielte, doch wenn man von meinen Eltern groß gezogen worden war, glaubte man nicht daran. Irgendwann schaltete ich aus und verzog mich mit einem Buch in den Garten. Nebenan arbeitete die Nachbarin mühsam an ihren Büschen. Als sie mich sah, erschien ein Lächeln in ihrem alten Gesicht und sie begrüßte mich: „Hallo Majalein! Du bist ja schon groß geworden! Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hat Rokko dir noch ohne Probleme übers Gesicht lecken können.“ Ich musste mich zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen. Rokko war übrigens ihr Pudelrüde, den sie wöchentlich in einen dieser Hundesalons schleppte, und mit dem ich früher immer Gassi gegangen war, worauf ich auch jetzt gerade Lust hatte. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben als sie meinte. „Ich habe hier noch alle Hände voll zu tun, es wäre lieb, wenn du mit Rokko gehen könntest.“ Fröhlich über einen Auftrag rief ich den Hund und ging mit ihm Richtung Feld. Ich ließ die Straße hinter mir, die alten Häuser und verließ das Dorf. Schließlich fand ich mich auf dem Feldweg wieder, wo ich den Robson-Jungen zum ersten Mal gesehen hatte. Mir fiel ein, dass hier in der Nähe ein Wald sein müsste, nach einer Weile entdeckte ich ihn, und auch einen Pfad der sich dahin schlängelte. Ich pfiff munter vor mich hin, Rokko sprang vergnügt neben mir her, die hohen Gräser am Pfad kitzelten mich an den Beinen. Rokko sah aus wie ein Bilderbuch-Pudel, nur das er nicht rosa, sondern schwarz war. An seinen Beinen und am Kopf war das Fell kurzrasiert, ansonsten war es wollig und durcheinander. Ich kannte mich mit Hunden nicht aus, doch Rokko war mir in meinen letzten Besuchen hier sehr ans Herz gewachsen. Vielleicht könnte ich seinem Frauchen die ganzen Ferien mit Gassi gehen ablösen, dachte ich mir, viel habe ich ja sonst nicht vor. Plötzlich blieb Rokko stehen, ganz starr mit aufgerichteten Ohren, konzentriert starrte er auf einen Punkt zwischen den Büschen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir schon den Wald erreicht hatten. Nun knurrte Rokko leise, dass es mir fröstelte. Jetzt hatte auch ich das Gefühl, dass hinter den Büschen etwas lauerte. Auf einmal rannte Rokko los, wie ein Blitz verschwand er zwischen dem Gestrüpp. „Rokko, nein! Komm zurück!“, rief ich dem Hund hinterher, doch er kam nicht wieder. Nun rannte auch ich auf die Büsche zu, bog die Äste auseinander, um kurvte die Bäume, doch weder Rokko noch der Grund seines Verschwindens war zu entdecken. Da hörte ich einen aufgeschreckten Schrei und dann ein lautes Kichern, sowie ein leises Plumpsen. Als ich auf eine kleine, moosbedeckte Lichtung trat, sah ich die Ursache des Lärms: Ein Junge lag kichernd auf dem Rücken im Moos, ein schwarze Hund stand neben ihm und versuchte ihn abzulecken. „Rokko! Aus!“, schrie ich angeekelt. Rokko hörte sofort auf, tapste zu mir und legte sich neben mich nieder. „Es tut mir Leid, Rokko war plötzlich weg, Entschuldigung -“ Der Junge, den ich bisher nur von hinten gesehen hatte, drehte sich um und meinte verwirrt: „Verfolgst du mich etwa?!“ Mir blieb der Mund offenstehen. Es war wieder dieser Robson-Junge! Schnippisch gab ich zurück: „Was kann ich denn dafür, dass du überall da bist, wo ich hingehe! Gibt es hier denn keine anderen Jungs im Dorf?“ Mir wurde bewusst, wie sich das anhörte und fügte schnell hinzu: „Nicht dass ich hier welche vermissen würde.“ Er saß immer noch auf dem Boden, doch hatte sich jetzt auf gesetzt und sah nicht wirklich aus, als ob er auf mich böse wäre. „Nein, nein, war ja auch nicht böse gemeint. Einen schönen Hund hast du da. Wenn du willst, kann ich dir Jungs aus dem Dorf zeigen.“ Er setzte eine geschäftige Miene auf. „Wollen sie die kleinen Pummeligen oder lieber die großen Stämmigen? Ist Ihnen mehr oder weniger Humor lieber? Ah, wir haben gerade die schwarzhaarigen Jungen mit dunkler Haut im Angebot und als Gratisgeschenk kriegen sie da noch eine Packung Intelligenz dazu.“ Ich bedachte ihn mit giftigen Blicken, während ich ein Lachen unterdrückte. „Ich kauf dir gleich mal eine Packung Intelligenz!“, gab ich zurück und er machte ein ziemlich dummes Gesicht, sodass ich das Lachen nicht mehr halten konnte und mich auf den Boden fallen ließ. Als ich mich einigermaßen wieder eingefangen hatte, fiel mir das gestrige, peinliche Erlebnis ein. „Äh, danke, wegen, naja gestern, fürs Retten.“ Am liebsten wäre ich wieder in mein Loch gekrochen, doch mich nicht zu bedanken fand ich auch falsch. Er schien sich zu freuen und grinste nur noch breiter. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich, ehrlich interessiert, aber auch darauf bedacht das Thema zu wechseln. „Robin“, antwortete er mir und schaute mich verwundert an, als ich los prustete. „Robin Robson?“, stieß ich hervor. Was für eine alberne Kombination! „Ach das findest du wohl lustig!“, meinte er, „dann sollte ich dir wohl besser nicht erzählen, dass ich eigentlich Robin Nicolas Albus heiße. Und wie heißt du?“ Jetzt war es an mir rot zu werden. „Maja“, stammelte ich, „nur Maja. Maja Dag. Auch nicht viel besser.“ Er lachte nicht, sondern sagte nur: „Ziemlicher Mist, mit den Namen.“ Mein Blick fiel auf einen kleinen Korb, indem irgendwelches Grünzeug lag. „Was machst du eigentlich?“ Er schien verwirrt, dann schwieg er und schließlich meinte er zerknirscht: „Ich sammel Kräuter.“ Ich schaute ihn belustigt an. „Naja, für meine Mutter. Die, äh, kocht damit. Und ich bin halt gerne im Wald.“ Sein Zögern war mir nicht entgangen. Seine Familie war schon wunderlich, welche Menschen sammelten noch Kräuter? Wahrscheinlich saßen sie zu Hause noch vor ihrem Kamin und schliefen auf Strohsäcken. Eine peinliche Stille war eingetreten, schnell ergriff ich wieder das Wort: „Naja, ich geh dann mal wieder. Und viel Spaß noch beim sammeln.“ Langsam stand ich auf, Rokko an meiner Seite, winkte noch einmal und wollte gerade zwischen den Büschen verschwinden, als Leben in Robin kam. „Hey, warte! Ich war eh gerade fertig, ich komm mit.“ Er holte mich auf, dann führte er mich durch das Labyrinth aus Bäumen und Blättern. Es war mir ein bisschen unangenehm, so allein neben ihm herzugehen, doch ohne ihn hätte ich mich wohl verlaufen. Mein Orientierungssinn war nun einmal schrecklich. Wir plauderten ein wenig, über die Tiere hier im Wald (er kannte sich damit wirklich gut aus!), irgendwie kamen wir auf Politik und den neusten Tratsch (hierbei kannte er erschreckend wenig), als ich das Gespräch auf seine Familie lenkte, denn ich wollte unbedingt erfahren, was an dem Dorftratsch dran war, blockte er geschickt ab. Das wieder darauf folgende Schweigen wurde von einem lauten Husten unterbrochen, das uns beide zusammenfahren ließ. Das Husten wurde immer lauter, dann ertönte eine mechanische Stimme, die immer wieder „Telefon“ rief. Mein Handy! Robin betrachtete mein Handy interessiert, als ich es aus der Tasche zog, wahrscheinlich war dieses Model den Dörflern noch nicht bekannt. Ich erschreckte mich selber vor meiner Gehässigkeit. Auf dem Display war der Name meiner Freundin Maike. „Hallo Maja!“ Quickte diese sofort in den Hörer und ohne groß zu warten fing sie schon an von Italien, ihrer Familie, dem Hotel, einem Italiener den sie kennengelernt hatte (ich verdrehte genervt die Augen) und ihrem großen Bruder Maik. Ich gab, wenn sie mich mal zu Wort kommen ließ, ein kurzes „Oh nein!“, „Cool“ oder „Ja“ ab, doch den Rest des Gesprächs übernahm sie. Am Telefon war sie manchmal echt anhänglich, aber trotzdem meine beste Freundin. Robin grinste mich die ganze Zeit an und lachte dann und wann, wenn ich die Augen verdrehte oder eine Grimasse zog. Irgendwann hörte Maike Robins Kichern, ich hatte gerade so getan als würde ich das Handy weg werfen, und verstummte schlagartig. „Wo bist du denn?“, fragte sie mich neugierig. „Im Wald, ich geh gerade mit dem Hund der Nachbarin meiner Tante Gassi.“ „Und dieser kann lachen und dich so ablenken das du mir eben nur halb zugehört hast?“ Ich schluckte. Sie kannte mich in- und auswendig, wie sie mal wieder bewies. Jetzt musste ich ihr es wohl erklären. Robin betrachtete mich mit einem neugierigen Blick, ich wusste nicht ob er nur mich, sondern auch Maike hören konnte. Hoffentlich nur mich! „Ich habs mal wieder geschafft mich zu verlaufen und habe so ´nen Typen aus dem Dorf getroffen“ (Robin schnaubte verächtlich) „und ich bin gerade auf dem Heimweg.“ Sie holte tief Luft und ich wusste genau die Fragen, die jetzt kamen, doch ich kam ihr voraus. Ich sprach schnell, in der Hoffnung, dass Robin mich nicht verstehen würde: „Er heißt Robin, sieht aus wie ein normaler Junge, ja, ich habe ihn schon vorher mal gesehen, aber nein, da läuft nichts! Und nein, er ist nicht mit Conner vergleichbar. Außerdem hat er seltsame Hobbys.“ Das letzte bezog sich auf die Kräuter und ich hatte es nur für mich selber hinzu gesetzt. Okay, er hatte mich verstanden und starrte mich gerade, etwas vorwurfsvoll, an. Bevor ich meiner Freundin sagen konnte, dass ich mich später melde, fuhr sie schon freudig dazwischen: „Deswegen bist du auch so abgelenkt und so gereizt über meine Fragen. Na gut, ich lass euch in Ruhe, aber ruf mich verdammt noch mal nachher an!“ Und dann hatte sie schon aufgelegt. Verdattert lauschte ich dem Tuten und sah in das Gesicht des normalen Jungen, den ich zwar schon mal getroffen hatte, aber nichts lief. Er schaute ausdruckslos an mir vorbei.