Kapitel 1 -
1 Ich rückte die kleine Engelsfigur auf der Fensterbank zurecht. Nun war ich schon fast zwei Stunden damit beschäftigt mein vorläufiges Zimmer einzurichten, das Zimmer, das ich die nächsten sechs Wochen bewohnen müsste, während meine Eltern irgendwo im Urwald von Südamerika im Dreck rumbuddelten. Meine Mutter hatte schon so lange davon geträumt, nach irgendwelchen Mayastädten zu buddeln und jetzt hatte sie endlich die Chance. Sie liebte ihre Mayas sosehr, dass sie ihre einzige Tochter nach ihnen benannt hatte. Mein Leben war echt abgefahren. Im Kindergarten hatten sie mich alle>Biene Maja< genannt, doch mittlerweile, ich komme nach diesen Sommerferien schon in die neunte Klasse, hatten auch die letzten Deppen aufgehört mich so zu nennen. Schön ist der Name dadurch auch nicht geworden. Warum konnte meine Mutter kein Inka-Fan sein und mich Inka nennen? Klingt immerhin besser als Maja. Mein Vater war mit ihr gefahren, schließlich war er ihr Assistent und sie seine Chefin. Und das nicht nur im Beruf. Somit verbrachte ich meine Ferien bei meiner Tante, in irgendeinem Kuhkaff in England. Meine Tante war schon okay. Sie war anders als meine Mutter. Ich liebte zwar diese aufgedrehte, abgefahrene Art von ihr, doch gegen einen ruhigen, verständnisvollen Typ wie meine Tante konnte ich auch nichts einwenden. Vor vier Stunden hatte sie mich mit ihrem alten Klapperauto vom Bahnhof abgeholt - sie hatte diese Kiste schon solang ich mich erinnern konnte und ich liebte diesen sanften Geruch von Lavendel in ihm - und nachdem wir was gegessen hatten, hatte ich mich in mein Zimmer, dem Gästezimmer, verzogen. Früher war ich hier oft gewesen, doch in den letzten Jahren war sie eher öfter zu uns gekommen. Ich ließ mich auf mein Bett sinken und betrachtete mein Werk. Ich hatte mein halbes Zimmer mitgebracht, was jedoch nicht viel bedeuten musste. Mein Hobby war das Lesen und mein Lieblingsort war meine Stadtbibliothek - dort war auch fast alles was ich brauchte. Meine kleinen Engelsfigürchen hatte ich kreuz und quer auf der breiten Fensterbank verteilt. Links um die Ecke stand der Kleiderschrank, in den ich meine Klamotten entleert hatte und auf der gegenüberliegenden Seite des quadratischen Raumes saß ich auf einem lila lackierten Bett mit lila Bettwäsche. Neben mir auf dem kleinen Nachtschrank standen meine vier Lieblingsbücher: Der kleine Hobbit und die drei Herr-der-Ringe-Bücher. Davor lag mein Handy (älteres Modell) das gerade anfing, wie wild zu piepsen. Genervt stöhnte ich und schaute auf das Display. Es war eine leere Nachricht meiner Mutter. Ich musste grinsen, das war mal wieder typisch. Schnell tippte ich ein: >Mom, deine Nachricht war leer. Lass dir das SMS schreiben nochmal von Dad erklären. Hab dich lieb, M. < Kurz darauf piepte das Handy wieder und diesmal war die Nachricht voll genug, dass ich erkennen konnte, dass die beiden gut angekommen waren und alles sehr aufregend sei. Ich schrieb ihr zurück, dass ich gerade einmal ausgepackt hätte und setzte noch die Lüge hinzu, dass es bei mir sicher auch noch sehr spannend werden würde. Draußen strahlte die Sonne und ich konnte über die Dächer der buntgewürfelten Häuser bis auf die Felder mit ihren Windrädern blicken, und ich sah den dort angrenzenden Wald mit seinen alten Eichen. Dahinter begannen die kleinen Hügel, von denen ich früher immer so gerne im Winter runter gerodelt war. Seufzend wendete ich mich ab und ging runter in die Küche, wo meine Tante Zeitung lesend am Küchentisch saß und aufblickte als ich hereinkam. „Hallo Maja. Bist wohl schon fertig mit einrichten?“, sie zwinkerte mir zu, „Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Hier ist eine Ferienkarte für unser Freibad im Nachbardorf.“ Ich schluckte. Schwimmen, meine Lieblingsbeschäftigung. Ich war extrem wasserscheu, außerdem fror ich viel zu schnell für Freibäder. Bevor sie mir noch was ansehen konnte, bedankte ich mich schnell. „Dann habe ich ja wenigstens was zu tun. Ich glaub, ich weiß sogar noch wie ich dahin komme.“ „Das ist schön. Wenn du willst, kann ich dich mal begleiten. Aber ich denke, heute willst du sicher alles erst mal selbst erkunden, oder? Sag einfach Bescheid, wenn du mich brauchst.“ Ach ja, meine Tante war Lehrerin an der kleinen Dorfgrundschule mit mickrigen 100 Schülern und ihren zehn Lehrern und hatte somit auch frei. Ich versprach ihr, dass ich Bescheid geben würde, dann schnappte ich mir meine Jacke und ging los, um das Dorf zu erkunden. An der Bushaltestelle suchte ich mir schon mal die Zeiten für den Bus zum Freibad raus, dann erkundete ich die Geschäfte in der Dorfmitte - zwei Bäcker, ein Supermarkt, ein Kinderladen, einen Metzger und neben einer Kneipe fand ich sogar einen kleinen Buchladen. Schließlich landete ich am Rande des Dorfes, wo neben einem Weizenfeld und den ersten kleinen Hügeln ein verhältnismäßig großer Spielplatz lag. Verträumt setzte ich mich auf die Schaukel und schloss die Augen. Es war wirklich heiß geworden, vielleicht würde mir eine Abkühlung wirklich gefallen. Ob meine Freunde mich schon vermissen? Wohl kaum. Meine beste Freundin Maike war in Italien und mein bester Freund Conner hatte seit zwei Wochen seine erste Freundin, was uns sowieso ziemlich auseinander gebracht hatte. Nein, ich hatte keinen, der mich anrufen würde. Nur die Bücher und ich, wie immer. Ich holte meinen Skizzenblock heraus und fing an, einen Dorfplan zu zeichnen, soweit ich es schon kannte. Ich liebte es Pläne zu zeichnen, von Häusern, ausgedachten Dörfern oder sogar ganzen Welten. Eine selbstgezeichnete Karte der Welt von Herr der Ringe hing zuhause über meinem Bett. Irgendwann näherten sich Stimmen. Es waren zwei Mütter mit ihren Kindern, die sich auf eine Bank in meiner Nähe setzten. „Hast du schon gehört, bei den Robsons gab es mal wieder eine Explosion!“ Ich horchte auf. „Ja, der Postbote meint, das Gartenhäuschen sei ganz schwarz gewesen, aber heute wäre alles wieder normal gewesen!“ „Haben sie wohl ziemlich schnell repariert gekriegt. Ich finde, die sollten ihre seltsamen Experimente lassen. Ich meine, da schaut ja nie einer vorbei, wenn da wirklich mal was passiert -“ „Zwei Mal im Monat der Postbote, aber die kriegen ja nie Post.“ „Ich weiß noch nicht mal, wie man da hin kommt, der Postbote nimmt doch immer den zwei Kilometer langen Trampelpfad, der hinter den Ställen von Bauer Hugo anfängt. Seine Tiere sind übrigens alle erkrankt, -“ Von dem Leiden eines Bauern wollte ich nun wirklich nichts hören. Schnell stand ich auf, packte meinen Block in meine Tasche und verließ den Spielplatz. Und ich hatte gedacht, hier wäre nichts los! Eine Explosion auf einem abgelegenen Bauernhof, das ist doch schon mal was. Nach diesen Robinsons oder Robertsons oder wie die hießen würde ich meine Tante mal fragen. Ich hatte einen kleinen Feldweg eingeschlagen, scheinbar wollten meine Füße mich noch nicht nach Hause tragen, soweit ich es zu Hause nennen konnte. Gedankenverloren kickte ich gegen einen Stein, verlor das Gleichgewicht, schwankte, und fiel auf den staubigen Boden. So was konnte auch nur mir passieren! Plötzlich hörte ich über mir eine belustigte Stimme: „Kann man dir helfen oder zählst du Regenwürmer? Mach dir keine allzu große Hoffnung, die sind bei diesen Temperaturen bestimmt alle vertrocknet.“ Ich schaute auf, geradewegs in ein paar freundliche, dunkelblaue Augen.