Eine Reise nach Fantasien - oder: Die Taschenwelt

[SIZE=16]Eine Reise nach Fantasien oder Die Taschenwelt[/SIZE]

Ich heiße Laura und habe sehr viel Fantasie. Als ich gerade ein Buch über Elfen, die ein Drachenbaby suchen, las, kam ein Geräusch aus meiner Schultasche. Ich sah von meinem Buch auf und schielte über den Rand meines Hochbettes. Meine Schultasche ging langsam auf und heraus kam, kaum zu glauben, ein circa 3 cm großes Wesen. Es hatte ein grellgrünes Kleid an, das mit Blumen bestickt war. Seine Ohren waren an den kleinen Kopf gedrückt und zeigten hintenherum spitz nach unten. Was aber am auffälligsten war, war sein langer, krausseliger Bart. Das Wesen sah sich suchend im Zimmer um und entdeckte mich. Es fragte, ob ich Laura Mink sei und ob ich vielleicht herunter kommen könne. Ich sah es verdutzt an, kam aber herunter und kniete mich vor das Männchen. „Hallo, Laura“, sagte das Wesen mit seiner netten Stimme, „ich freue mich, dich zu sehen. Gestatten, dass ich mich vorstelle? Polenz, mein Name. Mein Spitzname ist Pol, du kannst mich so nennen.“ Ich war immer noch verdutzt. „Ich heiße Laura“, sagte ich und merkte sofort, dass das unsinnig war, denn dieser Polenz wusste das anscheinend ganz genau. Er sagte: „Weiß ich doch!“ „Wer bist du?“, fragte ich schon etwas erholter. „Das sagte ich doch gerade: Ich bin Pol.“ Er machte eine kurze Pause. „Ach so, du möchtest wissen, woher ich komme?“, sagte er dann und ich nickte. „Ich komme aus Fantasien, auch die Taschenwelt genannt. Das konntest du natürlich nicht wissen. Wahrscheinlich fragst du dich jetzt, wo diese Welt liegt. Nun, ich kann es dir sagen: in allen möglichen Taschen! Hihihihihi!“ „Und“, fragte ich, „woher kennst du mich?“ Pol sagte: „Deine Schultasche ist der Mittelpunkt unserer Welt. Wenn jemand von uns zum Beispiel aus einer Sporttasche in die Handtasche von einer reichen Frau will, muss er zuerst zum Mittelpunkt unserer Welt, also in deine Schultasche. Nun weißt du auch, warum deine Schultasche andauernd so schwer ist.“ „Aber wieso habe ich euch denn noch nie entdeckt?“ „Immer, wenn du uns bemerken könntest, ist der Zugang zu deiner Tasche behindert. Ich konnte nur hierher gelangen, weil ich Verpfleger der Fantasie bin und weil heute der Fantasiea-Tag ist.“ „Aha“, sagte ich, aber richtig verstand ich das auch nicht. „Aber wieso ist ausgerechnet meine Schultasche der Mittelpunkt eurer Welt?“ „Nun mein Kind, das ist sehr einfach zu erklären. Das ist nämlich, weil unsere Welt ja auch Fantasien heißt. In unserem Land herrscht die Fantasie! Ich bin Verpfleger der Fantasie, also mit eurer Welt verglichen so etwas wie ein König! Aber nun zu deiner Frage zurück! Die Antwort: Du hast die meiste Fantasie!“ Pol kicherte. „Ich würde zu gerne mal mit in diese Welt!“, murmelte ich verträumt. „Wieso würde?“, Pol schaute mich verwundert an, „Du wirst! Ich habe es allen versprochen! Dazu bin ich ja gekommen!“ „Wozu???“, rief plötzlich mein 8-jähriger Bruder Jonas, genannt John, durch die Tür. Ich sah Pol an und der verstand sofort, dass ich wissen wollte, ob ich John reinlassen sollte. Als Antwort sollte ich ihm sagen, wie viel Prozent Fantasie mein Bruder hätte. Ich sah Pol verdutzt an, zuckte die Achseln und sagte: „Auf jeden Fall nicht sehr viel.“ Das war der größte Unterschied zwischen John und mir: Ich hatte viel zu viel Fantasie und John überhaupt keine! Pol nickte und sagte: „Nur Menschen mit über 70 % Fantasie können Fantasieaner sehen.“ „Wen sehen???“, fragte nun wieder John. „Komm rein, Johnny“ rief ich. „Mit wem hast du gesprochen?“ „Ich habe mein Buch laut vorgelesen.“ Ich warf Pol einen warnenden Blick zu und griff nach meinem Buch. In diesem Moment rief Mama von unten: „Johnny, musst du nicht noch deine Mathehausaufgaben machen?“ Jonas´ Gesicht hellte sich auf. Mathe war sein Lieblingsfach (meins auch!). Jonas rannte nach unten zu Mama und ich konnte endlich wieder mit Pol reden: „Wie geht es denn, dass ich mit in die Taschenwelt komme?“, fragte ich interessiert. „Nun, du musst dich in deine Tasche stellen, Kamillenteeblätter an deine Brust drücken und einen Zauberspruch sagen.“ „Ok, ich hole eben ein paar Kamillenteeblätter und du bist still! Es hat zwar außer mir in meiner Familie niemand wirklich Fantasie, aber hören können die wie niemand sonst. Pol nickte und ich ging nach unten. Als ich wieder hochkam, hatte ich eine Handvoll Teebeutel dabei. Pol schaute sich gerade meine Bücher an und stellte fest, dass ich nur Fantasiebücher besaß. Doch ich wollte endlich nach Fantasien. Also sagte ich: „Können wir endlich losgehen?“ „Oh, mein Gott“, stöhnte Pol, „das Schlimmste an euch Menschen ist doch eure Eile! Zum Glück sind wir bald in Fantasien. Dort wirst du jedes Zeitgefühl vergessen!“ Nun konnte ich es nicht mehr abwarten, ich stellte mich in meine Schultasche, drückte die Teebeutel fest an meine Brust und fragte: „Was muss ich sagen?“ Polenz antwortete: „Aliria, Aliria, Modu Ming Ming Bussss!“ Ich murmelte die Wörter und auf einmal begann alles zu wachsen - mein Hochbett, mein Schreibtischstuhl, mein Bücherregal - einfach alles. Sogar Pol! Ich wollte schon „Hilfe!“ schreien als ich auf einmal unter meinen Teebeuteln begraben wurde. Ich wühlte mich aus den Teebeuteln heraus und erschrak: Vor mir stand ein riesiges Buch mit der Aufschrift: „Deutsch für Könner“. Wenn mir nicht auf einmal aufgefallen wäre, dass ich in meiner Schultasche geschrumpft war, wäre ich bestimmt in Ohnmacht gefallen. Doch ich merkte gerade noch rechtzeitig, was los war. Ich sah zu Pol hoch und fragte: „Kommst du?“ Pol seufzte wieder und machte einen großen Satz vom Bücherregal zu mir in die Schultasche. „Komm!“, sagte er und öffnete eine etwa 2 cm kleine Tür. „Hier geht es lang nach Fantasien!“ Ich erschrak: Meine Schultasche war kaputt! Doch Pol bückte sich schon und krabbelte durch die Tür. Mutig krabbelte ich hinter ihm her. Erst als Pol die Tür geschlossen hatte, leuchteten Lichter auf. Ich hatte mir meine Schultaschenwand immer viel dünner und lebloser vorgestellt, doch jetzt tobten hier tausende von ziemlich komisch aussehenden kleinen Wesen herum. Sie hatten Schwänze, aber keinen Bauch. Ihre knochenlosen Arme schlabberten wild in der Gegend umher und ab und zu fiel ein Fantasieaner über seine eigenen Arme. Die Haare der Fantasieaner waren ellenlang und es sah aus, als wären Sehnen in ihnen. „Da kann man sich ja keine Haare schneiden - das würde doch höllisch weh tun!“, dachte ich. Weil der Kopf eines jeden Fantasieaners direkt auf dem Po lag, hüpfte er jedes Mal auf und ab, wenn einer von ihnen pupsen musste. Das sah witzig aus! Pol flüsterte mir zu: „Das da hinten ist meine Frau, die Vertreterin der Fantasie“ Sie heißt Minente, du kannst sie Mine nennen.“ „Wieso nicht“, frage ich, „‚Vertreterin der Fantasie Mine´?“ Ich kicherte. „Du nennst mich ja auch nicht ‚Verpfleger der Fantasie Pol´“ Pol verdrehte die Augen. „Stimmt.“ Langsam kriegte ich mich wieder ein. „Morgen, Laura!“, sagte auf einmal Mine. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sie gekommen war. Mine sah wunderschön aus! Ihr Kleid wechselte alle paar Sekunden die Farbe. Sie sah auch anders aus als alle anderen Fantasieaner. Pol wirkte dagegen wie in grüne Lumpen gewickelt. Sie hatte einen Bauch - nicht wie die anderen Fantasieaner. Aber sie trug keinen Jeansrock, wie ich ihn trug. Sie hatte zwei ellenlange braune Flechtzöpfe, die ihr über die Schultern und bis über den Bauch hingen. Ihr Kleid war aus Seide und die Sommersprossen in ihrem Gesicht wirkten mit ihrem Lächeln zusammen einfach wundervoll! Ich war sprachlos. „Moin“, sagte ich und Mine entgegnete: „Moin. Du bist bestimmt Laura. Mein Mann Polenz“, sie nickte Pol zu, „hat dir bestimmt schon erzählt, wer er ist und wo du hier bist.“ Ich nickte, „Ok. Dann will ich dir jetzt erzählen, warum du hier bist. Und zwar ist heute, wie du sicherlich schon weißt, der Fantasiea-Tag. Dies ist ein Feiertag der Fantasieaner,“ - ihr Blick streifte all die Wesen, die hier herumliefen - „an dem wir alle den Geburtstag des Menschen feiern, der am meisten Fantasie besitzt, in einer seiner Taschen ist der Mittelpunkt unserer Welt“, sie schaute mich erwartungsvoll an. Ich schnappte nach Luft. Die wollten mir hier klar machen, dass ich heute Geburtstag hätte. Schließlich hatte Pol doch gesagt, dass meine Schultasche der Mittelpunkt der Taschenwelt sei! „Nun, dieser hat sich im Laufe der Zeit natürlich immer wieder geändert. Im Jahre 1991 zum Beispiel war der Fantasiea-Tag am 4. Mai, fünf Jahre später dann am 19. September.“ „Wie viel Prozent Fantasie habe ich denn?“, fragte ich erschrocken. Pol kramte in einem Stoffbeutel, der mir noch nie aufgefallen war und holte eine Skala von 0 % bis 100 % heraus. An der Skala hing an einem Kabel ein bunt verziertes Armband, das geriffelt war. Er bat mich, es mir um das rechte Handgelenk zu binden. Als ich das tat, erklärte Pol: „Das ist ein Fantasie-Messgerät.“ Als ich nach dem Anlegen des Armbands auf die Skala sah, flog die Flüssigkeit im Inneren blitzschnell nach oben. Erst bei 100 % blieb sie stehen. „Höchstzahl!“, rief Mine. Hiermit hast du die 98,958 % von Matthias Schink übertroffen und ab jetzt ist HEUTE Fantasiea-Tag!“ „Aber“, widersprach ich, doch nun fiel auch mir ein, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wann ich denn wirklich Geburtstag hatte! Mir wurde klar, warum mich alle immer am 21. April so erwartungsvoll anschauten. Mir wurde klar, warum an jedem 21. April 5 bis 10 Fantasiebücher unter meinem Schreibtisch versteckt waren. „Wann“, fragte ich vorsichtig, „wann hab ich Geburtstag?“ Mine lächelte mich wissend an. „Das sagte ich gerade“, flüsterte sie. „Heute?“, fragte ich zaghaft. Mine nickte feierlich. „Wie alt werde ich heute?“, wollte ich wissen. „10!“, antwortete Mine. Ich fiel ihr um den Hals. „Fantasien ist die fantastischste Welt, die ich kenne!“ Durch Fantasien habe ich endlich erfahren, wann ich Geburtstag habe und wie alt ich bin!“ Mine sah Pol an und Pol sah Mine an. Ich glaube, genau das war ihr Ziel gewesen. Als ich wieder aus meiner Schultasche kletterte, wuchs ich wieder bis auf meine normale Größe. Ich atmete auf, dann lief ich zu Mama, Papa und John. Sie waren überrascht, dass ich so strahlte. „Was hast du denn schon wieder herausgefunden?“ Wenn ich strahlte, besaß ich meist neues Wissen. „Ich bin 10!“