Platz 3 der Variante 1: Jonathans Reise - Beitrag von Annele aus Slytherin, die dafür 550 Punkte bekommen hat.
Jonathans Reise Er sah nur noch das Blinken der Lämpchen vor sich, dann wurde es schwarz um ihn... Als er die Augen aufschlug, befand er sich in einem komplett weißen Raum... Zuerst erkannte Jonathan gar nicht, daß es ein Raum war. Er dachte, er befände sich im Nichts, was immer das auch sein mochte. Doch als Jonathan aufstand und ein paar Schritte vorwärts ging, bemerkte er, daß Wände und Decke gewölbt waren. Durch den weißen Anstrich und das gleichmäßig helle Licht wirkte es, als gäbe es keine Begrenzung. Eine Lichtquelle war nirgends auszumachen. "Ist das Magie?", fragte sich Jonathan. Zunächst beschloß er jedoch, sein Gefängnis - denn um etwas anderes konnte es sich kaum handeln - genauer zu erkunden. Schnell fand er heraus, daß er die Decke auch dann nicht erreichen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte und daß der Raum einen Durchmesser von etwa 20 Fuß hatte. Eine Tür fand er trotz intensivster Suche nicht. Es war seit seinem Aufwachen schon einige Zeit vergangen, auch wenn Jonathan nicht sagen konnte, wieviel, da seine Uhr stehengeblieben war. Doch trotz der bizarren Umstände - Angst hatte er nicht. Langsam wurde er jedoch unruhig, die Zeit drängte. Umweltzerstörung, Energieknappheit, Trinkwassermangel und Kriege hatten die Erde an den Rand des Abgrunds gebracht. Viele Tiere und Pflanzen kannte Jonathan nur noch aus Erzählungen seiner Großeltern. Der größte Teil der Erde war inzwischen unbewohnbar: Ehemals fruchtbare Landstriche waren nun zum Meeresboden oder zur Wüste geworden oder auch einfach in Folge der Kriege nuklear verseucht. Die Menschheit war erst dramatisch gewachsen und dann durch Hunger, Krieg und Seuchen dezimiert worden. Wieviele Menschen noch lebten, wußte keiner. Jonathan glaubte auch nicht, daß es noch Staaten gab, aber da konnte er sich nicht sicher sein, denn jede Kommunikation über die eigene Gruppe hinaus, war unmöglich. Wie, fragt ihr nun, kommt Jonathan dann in den Besitz eines modernen Raumschiffes, mit dem er zum Mars fliegen kann? Nun, liebe Leser, ‚modern´ wäre als Bezeichnung für diese fliegende Blechdose in den Augen derjenigen, die Jonathan abgefangen hatten und gerade hitzig diskutierten, was sie mit ihm tun sollten, sicherlich fehl am Platze. Doch halt, ich greife vor; zurück zu eurer Frage. Jede menschliche Gruppe hat eine Sammlung von Mythen, die einer, der zum Erzählen besonders begabt und für sein gutes Gedächtnis bekannt ist, abends am Feuer zum Besten gibt. In Jonathans kleinem Stamm war das sein Großvater. Dieser erzählte die wunderlichsten Geschichten von Hexen und Zauberern, die einst mitten unter den Menschen gelebt hätten, bevor sie angesichts der drohenden Katastrophe mit Sack und Pack auf den Mars ausgewandert wären. An dieser Stelle unterbrach ihn immer Joachim - Jonathans bester Freund - dessen Großvater Astronom und für die Europäische Raumfahrtorganisation tätig gewesen war, bevor alles zusammenbrach. "Ach geh, du mit deinen Ammenmärchen, niemand kann auf dem Mars leben - auch deine Hexen und Zauberer nicht." Die anderen nickten dann immer zustimmend und Jonathans Großvater verstummte. Dennoch baten ihn regelmäßig alle um seine Geschichten, denn wer hörte nicht gerne das Märchen von den Hexen und Zauberern, die ausgewandert waren und vielleicht eines Tages wiederkommen und die Erde retten würden. Und je öfter Jonathan diese Geschichten hörte, desto sicherer wurde er, daß sein Großvater eben keine Ammenmärchen erzählte, sondern die Wahrheit - oder wenigstens ein Fünkchen davon. Eines Tages also, als es mal wieder nur Großvaters Sagen zum Abendessen gegeben hatte, ging Jonathan zu ihm hin. "Opa, du glaubst wirklich daran oder?" "Ich glaube nicht daran, ich weiß es, mein Junge." "Aber woher? Hast du sie damals etwa gesehen?" "Ich bin ein Squib, Jonathan." "Ein was?" "Das ist ein Mensch ohne magische Fähigkeiten, der das Kind von einem Zauberer und einer Hexe ist" "Aber wenn deine Eltern Magier waren, Opa, warum haben sie dich dann zurückgelassen?" Jonathans Großvater seufzte, sein Blick ging in die Ferne. "Sie durften mich nicht mitnehmen. Nur Magier durften an Bord der Raumschiffe. Sie wollten auf dem Mars eine neue Gesellschaft gründen - frei von Muggeln." "Frei von was?" "Von Muggeln - das sind ganz normale Menschen ohne Magie." "So jemand wie ich?" Jonathans Großvater sah ihn nachdenklich an und sagte nichts. "Und wie können die auf dem Mars leben? Joachim sagt doch, daß dies nicht ginge." "Joachim ist ein kluger Kopf, aber Magie macht mehr möglich als er sich träumen lassen könnte." "Aber wenn dem so ist, warum sind sie damals nicht hiergeblieben und haben mit ihrer Magie diese Entwicklung aufgehalten", insistierte Jonathan. "Ach Jonathan", seufzte der Großvater, "du mußt verstehen, damals gab es noch viele Muggel und sie hatten furchtbare Waffen. Kein Magier konnte etwas gegen Atomwaffen ausrichten. Selbst kleine Schnellfeuerwaffen waren für sie tödlich. Sie hatten Angst um ihre Sicherheit, wenn sie noch länger auf der Erde blieben. Deshalb durften Squibs wie ich auch nicht mitkommen. Sie fürchteten die Entstehung einer neuen Muggelgesellschaft auf dem Mars mit ähnlichen Folgen wie hier auf der Erde." Eine Weile schwiegen sie beide, doch in Jonathans Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Nach einiger Zeit fragte Jonathan: "Opa?" "Ja?" "Du erzählst immer, sie würden wiederkommen und uns retten..." "Ach Jonathan... Sie haben uns längst vergessen. Unsere Not, unser Leid interessiert sie nicht. Ob sie wissen, wie schlecht es uns geht? - Ich weiß es nicht. Ob Magie unsere Probleme lösen und die Erde retten könnte? - Ich weiß es einfach nicht. Aber..." Jonathans Großvater zögerte. "Was, Opa?" drängte Jonathan. "Spuck es schon aus, ich seh´ doch, du verschweigst mir etwas." Der alte Mann sah seinen Enkel prüfend an, schließlich schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. "Als sie damals die Erde verließen", fuhr er fort, "hinterließen sie an bestimmten Orten Raumschiffe. Diese Raumschiffe sind so programmiert, daß sie ihre Insassen direkt zum Mars bringen - auch für Proviant ist gesorgt..." Jonathan benutzte eine kleine Atempause seines Großvaters, um ihn zu unterbrechen. "Und warum bist du dann nicht in so ein Raumschiff gestiegen?" "Immer langsam mit den jungen Pferden. Das wollte ich dir doch gerade erzählen, wenn du mich nicht unterbrochen hättest." Sein Großvater sah ihn tadelnd an und Jonathan senkte beschämt den Blick. "Nur Magier können jenen Ort betreten, an dem ein solches Raumschiff versteckt ist. Ich weiß zwar, wo die Raumschiffe in unserer Umgebung versteckt sind, aber ich kann das Gebäude nicht sehen. Mit allen meinen Kindern und auch deinen älteren Cousins und Cousinen bin ich dort gewesen - ohne ihnen zu sagen warum - doch keiner hat etwas anderes gesehen als ich: eine nackte Felswand. Aber vielleicht... vielleicht bedeutet dein Interesse, dein Glaube an Magie, daß du jenen magischen Funken, der mir fehlt, bekommen hast?" Aufgeregt sah der alte Mann Jonathan an und im Mondlicht schien es, als seien die letzten zehn Jahre plötzlich von ihm abgefallen. Doch so plötzlich wie diese Verwandlung gekommen war, verschwand sie auch wieder. Eine Wolke schob sich vor den Mond und vor Jonathan stand sein alter, zerbrechlich wirkender Großvater, der mit einem "Geh schlafen", das Gespräch beendete. In den nächsten Tagen mußte Jonathan oft an diese Unterhaltung denken, doch sein Großvater kam nicht mehr darauf zurück und je länger sie zurücklag, desto unwirklicher schien ihm dieses Gespräch, bis es ihm schließlich vorkam, als habe er alles nur geträumt. Jonathans Gruppe mußte mal wieder ihren Lagerplatz wechseln - alles Eßbare in der Umgebung war aufgebraucht. Die ständigen Märsche machten Jonathans Großvater sehr zu schaffen. Oft blieb er zurück, so daß Jonathan zurücklaufen und ihn ein Stück Wegs tragen mußte. Der alte Mann wurde von Marsch zu Marsch leichter und Jonathan sorgte sich sehr. Eines Abends, als sie nach einem langen Marsch ihr neues Lager aufgeschlagen hatten, kam Jonathans Großvater zu ihm und sagte: "Es ist hier ganz in der Nähe. Wenn du möchtest, führe ich dich morgen hin." Jonathan war wie elektrisiert - er hatte also doch nicht geträumt! - und nickte stumm. Am nächsten Morgen gingen die beiden los. Jonathans Großvater verfolgte zielstrebig einen für Jonathan unsichtbaren Weg. Noch einmal kam er Jonathan jünger und kräftiger vor. Schließlich kamen sie auf einer Wiese zum Stehen. "Warum halten wir hier, Opa?" "Siehst du nichts?" fragte sein Großvater ungläubig. "Wir sind mitten auf einer Wiese und dort - in einiger Entfernung - ist ein rotes Haus. Warum?" Dem alten Mann liefen Tränen über die runzligen Wangen. Er schien sich anzulehnen, aber Jonathan sah nicht, woran. "Für mich ist hier eine undurchdringliche Felsenwand, siehst du, Jonathan? Versuche ein paar Schritte vorwärts zu gehen." Jonathan tat ein paar Schritte, wurde dann aber durch die aufgeregten Rufe seines Großvaters zurückgeholt. "Und für dich ist da wirklich undurchdringlicher Fels, Opa?" Jonathan nahm seinen Großvater an der Hand und versuchte, ihn über die ihm unsichtbare Grenze zu führen. Doch so sehr er sich auch bemühte, die Hand seines Großvaters traf auf nackten Fels, wo für ihn nur Luft war. Schließlich gab er auf. "Jonathan, du mußt gehen." Jonathan nickte nur stumm und sah zu, wie der alte Mann einen Holzstab aus einer verborgenen Falte seiner Kleidung zog. "Was ist das, Opa?" "Das ist ein Zauberstab. Ich habe ihn von meinem Großvater zum Abschied erhalten und nun gebe ich ihn dir mit auf die Reise. Du wirst ihn noch gut gebrauchen können." "Wie kann ich damit zaubern?" "Ich weiß es nicht, aber du wirst es sicher auf dem Mars lernen." "Ich werde wiederkommen, Opa, und ich werde Hilfe mitbringen." "Ach Jonathan... Kümmer dich nicht um uns. Sieh zu, daß du hier weg kommst und dort ein besseres Leben findest." "Ich komme wieder", versprach Jonathan seinem Großvater, nahm erfürchtig den Zauberstab entgegen, umarmte den alten Mann und ging auf das rote Backsteingebäude zu, in dem sich das Raumschiff befand. Und so kam es, daß Jonathan schließlich in einem weißen Raum saß, seinen Zauberstab in den Händen hielt, ungeduldig auf die nicht mehr funktionierende Uhr starrte und darauf wartete, daß die Patrouille, die ihn kurz vor dem Mars abgefangen hatte, eine Entscheidung traf. Er würde das Versprechen, das er seinem Großvater gegeben hatte, halten. Wenn diese Magier geglaubt hatten, die anderen Menschen auf der Erde einfach vergessen zu können, dann hatten sie nicht mit Jonathan gerechnet. Schließlich - es schien Jonathan eine Ewigkeit vergangen zu sein - fiel ein Schatten von oben in den weißen Raum. Über Jonathan hatte sich ein Loch gebildet, das wie von Zauberhand immer größer wurde. Jonathan stand auf und erwartete die Magier.