Eisblumen
Kapitel 1

"Oh nein, war das wieder eine Stunde!" Seamus kickte missmutig den kleinen Gummiball gegen eine Rüstung, von wo er mit lautem Klonk abprallte und den Gang hinunterkullerte.
"Und die Hausaufgaben erst, die die alte Vogelscheuche uns aufgetragen hat", stöhnte Dean, "ich weiß echt nicht, wer in Hogwarts die größere Schreckschraube ist. Die oder die alte Pince."
"Accio Ball", sagte Seamus, wartete, bis der Flummi angesaust kam und drosch ihn erneut den Korridor hinunter. Diesmal erwischte es den Hut eines Schülers, der in einem Pulk Zweitklässler stand und Froschkarten tauschte.
" … hey, was soll das, du Idiot?", maulte der Junge und schob sich den Spitzhut wieder zurecht.
"Prima Treffer, Seamus", grinste Dean, " jedenfalls …."
"… sollten sich die beiden jungen Herren besser zu benehmen wissen", tönte eine Stimme hinter ihnen.
"Äh, hast du was gesagt, Parvati?", fragte Dean und drehte sich lässig nach der kleinen Mädchengruppe um, die schnatternd den Gang hinunter kam.
"Ach nee, Thomas, der Unterricht vorhin hieß 'Wahrsagen', nicht 'Wassagen'", kicherte Lavender, "aber ich kann dir ja mal deine Zukunft voraussagen" und griff sich Deans Hand, der wie die anderen Jungen im Gang stehen geblieben war.

"Iiieeh, bloß nicht! Was die alte Fledermaus aus ihren Teeblättern herausliest, ist schon grausig genug", jammerte Dean, schaute aber genüsslich zu, wie Lavenders Fingerspitzen an seinen Handlinien auf- und abwanderten.
"Also, ich muss doch wirklich bitten! Alte Fledermaus? Vogelscheuche? Welch schändliche Ausdrücke gegenüber einer Dame!" Die Schüler sahen sich erstaunt an, dann drehte sich die ganze Gruppe zu der Wand des Korridors um.
"Oh nein, nicht der schon wieder", hörte man von hinten Neville murmeln.
"Ah, welch eine Ehre!", sagte Seamus schleimig und verneigte sich mit einem übertrieben Kratzfuß vor dem Bild.
"Sir Cadogan, zu Diensten", erwiderte der kleine Ritter und verneigte sich so tief, wie es seine Rüstung zuließ. "Das ist schon viel besser, werte Damen und werte Herren", fuhr er fort, wobei er sich Mühe gab, seine Verbeugung von eben an Tiefe noch zu überbieten.

Wahrsagestunde bei Lavender

"Es trifft sich gut, Herr Cadogan, dass diesen frechen Schnöseln endlich jemand Benehmen beibringt", ließ sich Lavender vernehmen und machte vor Dean, ohne dessen Hand loszulassen, einen Knicks. "Wollt Ihr nicht als Knappe bei Sir Cadogan in die Lehre gehen, edler Herr Thomas? Nötig hättet Ihr es gewiss."
"Mit größtem Vergnügen, Mylady Lavender, unter der Bedingung, dass Ihr mein Burgfräulein wärt", säuselte Dean, führte seine Hand, die sich nach wie vor in privatem Wahrsageunterricht befand, zum Mund und schleckte der Länge nach über Lavenders Handrücken.
"Bäääh, Dean, du Ferkel!" kreischte Lavender und zerrte ihre Hand aus Deans Umklammerung. "Da seht Ihr es, Sir Cadogan, so gehen heutzutage Jungs mit uns armen Mädchen um!", giftete Lavender in Richtung des Bildes und wischte sich angeekelt den Sabber an ihrem Umhang ab.
"Was hast du gegen die Zunge eines Jungen einzuwenden, Lavender?", fragte Dean scheinheilig.
"Vielleicht hat ihr nur die Stelle nicht behagt!", johlte Seamus und patschte seinem Freund wiehernd die Hand auf die Schulter.
"Ha, ha, haaa….", ließen sich die Mädchen im Chor vernehmen, während Seamus sich mit dem Zauberstab sauertöpfisch die herabtropfende Fluchtinte aus Gesicht und Haaren entfernte.
"Aber, aber, meine jungen Freunde, etwas mehr Anstand bitte", mischte sich Sir Cadogan ein. "Gutes Benehmen ist die Zier aller jungen Damen und Herren und Zaubern auf dem Gang ist nach wie vor verboten. Auch wenn wir Bewohner der Bilder schon lange tot sind, haben wir nicht die Pflicht und Aufgabe vergessen, den jungen Schülern Hogwarts ein Vorbild an Anstand, Edelmut und Ritterlichkeit zu sein", sagte Sir Cadogan würdevoll und warf sich respektheischend in die Brust.

"Ja, ja, Vorbilder… sicher … schon klar", murmelte Ron und rollte mit den Augen. "Also, wen hätten wir denn da: die Dame vor dem Gryffindorgemeinschaftsraum, die aus vornehmen Anstand kaum zu essen wagt, ihre Freundin Violet, die es vor lauter Schnapspralinen manchmal nicht von einem Bild ins andere schafft…"
"Die Mönche im Gang zu den Hufflepuff-Räumen", warf Neville ein. "Egal, wann man bei denen vorbeiläuft, entweder sie fressen, saufen aus Humpen oder beides."
"Das Bild vom Alten Richter an der Treppe zum Astronomieturm. Keiner kann so unanständige Witze erzählen wie der", sann Hermine nach, "und was Hermann der Neugierige mit seiner Hose gemacht hat, als Mandy Brocklehurst neulich an seinem Bild vorbeilief, möchte ich gar nicht erzählen."
"Doch, erzähl's, Hermine, was hat der olle Hermann …", rief Ron begeistert, aber Hermines empörter Blick ließ ihn rasch verstummen.
"Wo wir gerade bei Tugenden sind", fuhr Hermine fort, musterte die Jungen mit strengem Blick und wandte sich wieder dem Bild zu, "Bescheidenheit soll ja angeblich auch eine Zier vornehmer Ladies sein."

"Selbstverständlich, junges Fräulein, so sind die Damen zu meiner Zeit erzogen worden." Sir Cadogan drehte sich kurz nach seinem Pony um, das ein Stück weiter ins Bild hinein gelaufen war und sich an den heruntergefallen Früchten eines Apfelbaums gütlich tat. "Edlen Damen verlangt es nur nach Tugend, nach sonst nichts", sagte er dann zu Hermine mit würdevollem Kopfnicken.
"Bescheiden, wie die Gräfin ‚Ich-wünsch-mir-was'…", sagte Parvati Patil und verdrehte die Augen.
"Gräfin wer?", echote Ron und schaute Parvati verständnislos an.
"Na, dass du die nicht kennst, wundert mich nicht", sagte Hermine spitz. "Gräfin Clothilde-Isodora of Upperfield-Brewsburry upon Norrington Hi ll".
"Ähh…" Ron und Dean sahen sich verständnislos an.
"Ihr Bild hängt in der Astronomieabteilung der Bibliothek", erläuterte Hermine.
"Eben, und gehört damit zur Verbotenen Bibliothek für Leute wie Sean, Harry und Ron", kommentierte Parvati. "Ich meine, Astronomie und überhaupt alles, was sich oberhalb eines fliegenden Quaffels befindet, ist praktisch jenseits des geistigen Horizonts gewisser Jungen."
"Ha, ha, haaa …", ließ sich der Chor wieder vernehmen, diesmal jedoch eine Oktave tiefer.
"Gräfin Clothilde? Von der habe ich noch nie gehört". Ritter Cadogan kratzte sich nachdenklich am Kopf.
"Eine hochwohlgeborene Dame, die Sir Cadogan nicht kennt?", fragte Lavender spöttisch.
"Nun ja, mein Fräulein", murmelte die kleine Gestalt verlegen, "bedenkt, das Schloss ist sehr groß, es gibt zahllose Porträts und ich habe immerhin hier meine Pflichten zu erfüllen. Es wäre verantwortungslos, meinen Posten zu verlassen und nur zum Vergnügen in den Bildern des Schlosses herumzustreunen."
"Ein Glück, man stelle sich vor, wir würden auf dem Weg zum Wahrsageunterricht im Flur von wilden Drachen angefallen", sagte Harry ernsthaft.
"Entsetzlich! Ihre Zungen sollen fürchterlich sein", grinste Dean, hüpfte aber gleich darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein herum, während er das andere in den Händen hielt.
"Nicht nur ihre Zungen, Thomas, nicht nur ihre Zungen", fauchte Lavender, "man sollte auch ihre Füße fürchten."
"Ähmm, Ihr sagtet, das Benehmen der Gräfin gäbe Anlass zur Klage?", wandte sich Sir Cadogan an Hermine, ohne Dean und Lavender zu beachten, die sich kreischend vor seinem Bild balgten.

"Jedenfalls kann man zur Zeit in der Bibliothek kaum in Ruhe seine Astronomie-Hausaufgaben erledigen", antwortete Parvati an Hermines Stelle. "Dauernd jammert die Gräfin herum: ‚Ich hätte gern dies, ich hätte gern das, niemand schenkt mir was, niemand tut mir was Gutes'", ahmte Parvati mit affektierten Gesten die Stimme der Gräfin nach.
"Ja, es stimmt. Zur Weihnachtszeit ist es immer ganz schlimm. Das haben mir auch ältere Schüler erzählt. Sogar Prof. Sinistra hat in ihrem Unterricht empfohlen, dass die Schüler in der Vorweihnachtszeit die Astronomieabteilung der Bibliothek meiden sollen." Hermine machte dabei eine finstere Miene.
"Aber warum meldet ihr es nicht Madame Pince?", schlug Neville vor, der keinen Astronomieunterricht nahm.
"Neville, du kennst doch die alte Pince", warf Harry ein. "Solange irgendetwas Schüler aus der Bibliothek fernhält, wird Madame Pince bestimmt nichts dagegen unternehmen."
"Och, Harry, da braucht sie bei dir garantiert nicht aktiv zu werden", frotzelte Hermine.
"Nun, es wird doch sicher einen wichtigen Grund haben, wenn eine hochwohlgeborene Dame Anlass zur Klage hat", ließ sich der kleine Ritter wieder vernehmen und schritt aufgeregt in seinem Bild auf und ab.
"Glaub ich nicht", sagte Ron mit einem schiefen Seitenblick auf Hermine, "Damen brauchen keinen Grund zum Klagen."
Hermine ignorierte ihn. "Komischerweise mault die Gräfin nur in der Weihnachtszeit herum, das restliche Jahr über ist sie meist aus ihrem Bild verschwunden."
"Was beklagt sie denn so?", fragte Neville.
"Na ja, wie Parvati schon sagte, sie jammert, dass sie keine Weihnachtsgeschenke bekommt, dabei quillt ihr Bild über von Geschenkpaketen."
"Da seht Ihr es", rief Sir Cadogan, "vornehmen Damen bedeuten Geschenke und materielle Dinge nichts. Sie leben in höheren, geistigen Sphären. Nein, es muss einen anderen Grund geben."

"Oh, wäret Ihr nicht der Richtige, um das herauszufinden?", fragte Dean Thomas und machte eine Verbeugung. "Ein Mann von Welt, gebildet, redegewandt, mutig ..."
"Ja, genau, Sir Cadogan, Ihr müsst Mylady aufsuchen und herausfinden, was sie bedrückt. Uns einfachen Schülern würde sie solch wichtige Dinge gewiss nicht anvertrauen", rief Ron und knuffte dabei Dean in die Rippen.
Das Ritterlein strahlte über das ganze Gesicht und zwirbelte selbstgefällig den Schnurrbart. "Gewiss, gewiss, ich bin in meinen Kreisen durchaus kein Unbekannter und habe schon so manche Schlacht für des Königs Banner geschlagen, aber …" Der kleine Mann stockte und schielte dann hoffnungsvoll zu den Jungen. "Anderseits, ich kann nicht so einfach davongehen und diesen Teil der Burg ungeschützt lassen."
"Keine Sorge, Sir Cadogan, wir werden hier für Euch Wache halten, das heißt, falls Ihr bereit seid, uns diese gefährliche Aufgabe anzuvertrauen", sagte Seamus Finnigan gewichtig, ohne Neville zu beachten, der heftig an seinem Umhang zupfte.
"Aber nein, ich finde nicht, dass wir …", brachte Neville noch heraus, bevor ihm Deans Hand den Mund verschloss.
"Sei ruhig, Neville, Seamus hat Recht. Wenn eine Dame in Not ist, darf Zweifel nicht das Herz beschleichen", dröhnte Dean theatralisch und hob, während er den protestierenden Neville im Schwitzkasten hielt, seinen Zauberstab wie ein Schwert über sich. "Zu Pferd, Ritter Cadogan, fürchtet weder Drachen noch Tod, es gilt, eine edle Dame zu retten!"
"Das ist ein Wort", rief der kleine Ritter begeistert, drehte sich nach seinem Pony um und brüllte in die Tiefen des Bildes: "Komm, Rosinante, auf, die Schlacht ruft!" und schüttelte begeistert seine Lanze.
"Sagt mal, Jungs, geht's euch eigentlich…", empörte sich Hermine, wurde aber von Ron zum Schweigen gebracht.
"Sei still, davon versteht ihr Mädchen nichts. Reitet nur los, Sir Cadogan, und tut, was ein Mann tun muss."
"Ach, seit wann weißt du denn, was ein Mann zu tun hat?", giftete Hermine.
"Bestimmt hat ihm seine Mutter mal wieder einen Heuler geschickt und es ihm gesagt!", gickerte Parvati und wuschelte Rons Haare.
"Lass das, du Gans …", fauchte Ron.
"So lebt wohl, Ihr edlen Jungfrauen und kühnen Knappen", rief jetzt der kleine Ritter, der bereits auf seinem dicklichen Pony saß. "Wenn mich das Schicksal ereilen und wir uns nicht wiedersehen sollten, vergesst Sir Cadogan nicht. Lauf, Rosinante, hüühjaaa!". Dann verschwand er samt Pony hinter dem Bilderrahmen.
"Nein, wir werden Euch ganz bestimmt nicht vergessen", japste Dean Thomas, der mittlerweile vor dem Bild lag und mit den Fäusten auf den Boden trommelte.
Ron beugte sich zu dem Gemälde vor, legte die Hände zu einem Trichter zusammen und brüllte: "Und solltet Ihr keinen Drachen finden, Sir Cadogan, Madame Pince tut es auch!"
"Ron!"
"Was denn, Hermine? Er hat doch Recht." Harry wischte sich mit seinem Umhang die Lachtränen von der Brille. "Stell dir vor, Madame Pince' Kopf als Jagdtrophäe in der Großen Halle, und …"
"Harry, du bist geschmacklos!" Hermine stemmte die Hände in die Hüften. "Ehrlich, Jungs, ihr solltet euch schämen, Sir Cadogan so ins Bockshorn zu jagen!"


Detritus