Zwischen den Welten -

Zwischen den Welten

Ich bin groß. Und grün. Und braun. Und gelb, rot, braun, manchmal. Ich bin Heimstatt von vielen. Ich stehe zwischen Himmel und Erde. Na? Was bin ich?

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„Ana! Wo steckst du denn schon wieder? Komm her, hilf deiner Schwester beim Abwasch!“ Das dünne, dunkelhaarige Mädchen von sechs Jahren im blassblauen Sommerkleid kommt murrend angelaufen. Abwasch machen, schon wieder. Warum können sie keine Spülmaschine haben, so wie Celinas Eltern auch? So wie die von Joanna, Nadja, Cindy. Von Mark, Sebastian, Philip, Simon. So wie jeder eine hat. Warum haben sie keine? Bestimmt wollen sie keine, sagt Carlotta immer. Carlotta ist Anas große Schwester, fünfzehn ist sie jetzt. Fünfzehn, das ist schon fast erwachsen. Carlotta jedenfalls will keine Spülmaschine. Zu unökologisch, sagt sie. Ana hat das Wort schon einmal gehört, weiß aber nicht, was es bedeutet. Komplizierte Wörter sind immer gut als Erklärung, also sagt sie das auch immer, wenn ihre Klassenkameraden sie fragen, wieso sie keine Spülmaschine hat. Und warum sie nicht mit dem Auto zur Schule gefahren wird und auch nicht mit dem Fahrrad fährt, sondern zu Fuß läuft. Zu unökologisch. Als Ana Carlotta das erzählte, hat Carlotta gelacht. Fahrräder sind nicht unökologisch, hat sie gesagt. Wieso hat Ana dann kein Fahrrad? Wieso hat sie nur so wenige Kleider? Ganz verwaschen sind die, geflickt und gestopft an allen Ecken und Enden. Ana geht in die kleine Küche der engen Etagenwohnung, wo Carlotta schon am Spülbecken steht. Hilft beim Abwasch. Danach geht sie auf den Spielplatz in der Nähe, wo sie die anderen Kinder trifft. Sie mag die anderen Kinder, und die anderen Kinder mögen sie. Es macht Spaß, mit ihnen zu spielen. Sie teilen auch manchmal ihr Pausenbrot mit Ana, wenn sie ihres schon aufgegessen und noch Hunger hat. Sie bringen ihr auch die englische Sprache besser bei, helfen ihr, wenn sie ein Wort nicht kennt. Spanisch ist so viel leichter. Im Gegenzug bringt Ana ihnen ein paar Worte Spanisch bei. Das finden die amerikanischen Kinder immer ganz kompliziert. Sie kommen prima miteinander aus – solange niemand fragt, was für ein Auto Anas Papa hat. Denn er hat keins. Solange niemand fragt, wieso Ana daheim den Abwasch machen muss. Einmal hat auch jemand gefragt, was denn ihr Papa von Beruf macht. Ana kannte das Wort „Beruf“ nicht. Ein Beruf ist das, wohin dein Papa immer geht, wenn du in der Schule bist und auch nachmittags, womit er für eure Familie Geld verdient. Anas Papa geht nicht fort, wenn sie in der Schule ist. „Er hat keinen“, hat sie gesagt. Daraufhin haben die Kinder geschwiegen und dann schnell über etwas anderes gesprochen. Über das Wetter. Über die Schule. Über den Spielplatz. Aber niemals mehr über den Beruf. Manchmal geht Anas Mutter weg. Tagsüber, abends. Manchmal ist sie lange fort und manchmal kurz. Aber Ana hat das den Kindern nicht gesagt – irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es besser ist zu schweigen. Einmal kam ein neuer Junge in die Siedlung. Er hatte ganz „edel“ aussehende Kleidung, das konnte Ana sagen, nachdem die anderen Kinder ihr erklärt hatten, was „edel“ bedeutet. Er hatte auch „edle“ Sachen wie ein Handy. Und er war böse. Als er Ana gesehen hat, hat er gelacht. „Mit der da gebt ihr euch ab?“, hat er die anderen Kinder gefragt. Die ist doch nur eine von drüben. Und schaut euch mal ihre Füße an. Keine Schuhe hat die, ganz schwarz sind die Füße. Damit passt sie doch gut zu drüben, zu „Piedras Negras“. Die Kinder haben auf den Jungen gehört und sind von Ana weggegangen. Später sind sie wiedergekommen, als der böse Junge von Eagle Pass weggegangen war. Sie haben sich entschuldigt, Ana umarmt und wieder mit ihr gespielt. Aber an diesem Tag, als sie sie alleine gelassen haben, hat Ana geweint. Sie ist auf den Baum auf dem Spielplatz geklettert und hat geweint. Mit dem Baum fühlte sie sich auf eine ganz bestimmte Weise verbunden. Auch wenn es ihr nicht bewusst ist, stellt sie doch eine Parallele her: Der Baum ist wie sie. Sie ist weder „drüben“, in Mexiko, noch „hier“ in den Vereinigten Staaten ganz zuhause. Sie hat die Wurzeln hier und den Kopf dort – wie der Baum die Wurzeln in der Erde und die Krone im Himmel hat. Wenn sie auf dem Baum klettert, fühlt sich Ana ein bisschen besser.

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Wenn das kleine Mädchen auf meinen Ästen klettert, spüre ich die Zerrissenheit der Welt. Dann spüre ich, dass ich eine Zwischenwelt bin – Mittler zwischen Himmel und Erde. Und ich spüre, dass dieses Mädchen genau hier, in meinen Ästen, ihr Zuhause finden wird.