Verraten -
Verraten Kurz vor den letzten Herbstferien unternahmen wir eine Klassenfahrt. Ziel war die Jugendherberge in Bad Driburg. Schon im Zug machte Paula, unsere Klassensprecherin, den Vorschlag, doch wenigstens einmal eine Nachtwanderung zu unternehmen. Alle stimmten ihr zu und auch unser Klassenlehrer, Herr Dudek, meinte, dass das ja bestimmt ganz spannend werden würde. Als wir in Bad Driburg ankamen, drängten sich alle mit ihrem Gepäck aus dem Bus, der uns vom Bahnhof zur Jugendherberge gebracht hatte. Herr Dudek stellte sich vor uns auf und teilte uns die Zimmer zu. Mit wem ich in ein Zimmer musste, weiß ich heute nicht mehr. Auf jeden Fall hatten alle mächtig Hunger und als könnte Herr Dudek unsere Gedanken lesen, führte er uns in den Speisesaal (und uns stieg der Duft von köstlicher Lasagne in die Nase). Schnell suchten wir uns die besten Plätze am riesigen Tisch und als alle etwas auf ihrem Teller und in ihren Gläsern hatten, schaufelten wir uns die Lasagne in den Bauch, als hätten wir seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. Nach dem Essen räumten wir unsere Sachen in die Zimmer und gingen dann raus, um Gruppenspiele zu spielen. Als sich der Abend näherte, versammelten wir uns auf dem Platz vor der Jugendherberge. Alle hatten ihre Taschenlampen dabei und in kleinen Gruppen wurde getuschelt, man hörte immer wieder Gekicher. Auf einmal tauchte Herr Dudek auf und verkündete, dass wir jetzt losgehen sollten. „Sonst kommen wir erst Morgen Mittag wieder bei der Jugendherberge an.“ Also gingen wir los. Schon bald wurde der Wald immer dunkler und gruseliger. Das Getuschel verschwand, und das Heulen des Windes und das Ächzen der uralten Bäume waren für meinen Geschmack ziemlich gruselig. Das Licht der Taschenlampen wurde schwächer und außer dem Wind, den Bäumen und unseren tonnenschweren Schritten im Laub war es mucksmäuschenstill – kein Getuschel, kein Gekicher. Auf einmal hörte ich ein Stöhnen aus dem Wald. Die anderen schienen es gar nicht zu hören. Ich blieb stehen. Da! Schon wieder dieses entsetzliche Stöhnen. Ich wollte unbedingt wissen, woher das Stöhnen kam. Dass die anderen mir schon weit voraus lagen, merkte ich nicht einmal. Vorsichtig ging ich vom Weg runter und kam ins Innerste des Waldes. Das Stöhnen wurde lauter und mir kam es so vor, als wenn es sich auf mich zubewegen würde. Auf einmal streifte etwas Nasses, Eiskaltes meine Hand. Dann war es sofort wieder weg. Im selben Augenblick merkte ich, dass das nasse Irgendwas mir einen Zettel in meiner Hand hinterlassen hatte. „Lies den Zettel! Lies den Zettel!“, raunte mir eine gruselige Stimme ins Ohr. Ich drehte mich zur Seite und erstarrte – vor mir stand eine weiße Gestalt, die in moderig riechende Tücher eingewickelt war. In diesem Augenblick erschienen noch mehr weiße Gestalten. Alle stöhnten und heulten wie Wölfe. Ich hatte fürchterliche Angst, wie ich hier im Stockdunkeln von Tausenden von Gespenstern aufgefordert wurde, ein zerknittertes Stück Papier zu lesen. Langsam öffnete ich meine Hand und las den Zettel: „ERLÖSE UNS!!! Wir sind enttarnte Gespenster! Ein gemeiner Mensch hat unsere Gespensterruhe gestört und uns verraten. Jetzt müssen wir Tag und Nacht hier herumgeistern. Du kannst den Fluch nur rückgängig machen, wenn du uns nicht verrätst, wenn sich dir die Möglichkeit bietet!“ Ich war entsetzt! Sollte ich dieses Erlebnis für mich behalten können? Trotzdem nickte ich. In diesem Augenblick verschwanden die enttarnten Gespenster und ich hörte Stimmen. Ich war erleichtert, meine Klasse wiederzusehen. Als wir wieder zur Jugendherberge gingen, erfuhr ich, was ich für ein Spektakel verursacht hatte, als ich verschwunden war. Angekommen in der Jugendherberge wollten wir alle nur noch eins: schlafen! Doch ich schrieb noch mein Erlebnis in mein Tagebuch. Auf einmal raunte eine Stimme: „Du hast uns verraten!“ Ich erschrak. Ich hatte es doch nur aufgeschrieben.